Im Angesicht der Schuld

Die Tage der KZ-Befreiungen aus den Augen deutscher Nachbarschaft

Blick auf einen Teil des Konzentrationslagers Ohrdruf am 6. April 1945: Zu sehen sind mehrere hölzerne Baracken, teils zerstört, in einem offenen, schlammigen Gelände. Die Aufnahme entstand kurz nach der Befreiung durch alliierte Truppen.
Blick auf einen Teil des KZ Ohrdruf. Quelle: United States Holocaust Memorial Museum, mit freundlicher Genehmigung von Nancy und Michael Krzyzanowski, 06.04.1945, Foto Nr. 85351.

Am 4. April 1945 erreichen die Alliierten das erste KZ im Reichsgebiet. Es ist das Buchenwald-Außenlager Ohrdruf. Die US-Soldaten finden verkohlte Leichen. Überlebende gibt es kaum. Wenige Stunden zuvor waren die letzten Häftlinge in Richtung Buchenwald getrieben worden. 12.000 völlig ausgemergelte Körper hatten sich in den Tagen zuvor durch die Dörfer geschleppt, vorbei an den Häusern der Deutschen, von denen viele später behaupten werden, sie hätten nichts gewusst. Wie erlebten die Deutschen die KZ-Befreiungen vor 80 Jahren? Eine Spurensuche.

„Die im Lager befindlichen Sträflinge werden in der Regel morgens und abends durch die Stadt geführt. Der Anblick der Kolonnen ist weniger schön für die Bevölkerung“, schreibt Albert Schneider, der Bürgermeister der Stadt Ohrdruf im Januar 1945 an das Landratsamt Gotha. Er ist nicht erfreut, dass die Bürgerinnen und Bürger den schlechten Zustand und die Misshandlungen der KZ-Häftlinge auf ihrem Weg zur Zwangsarbeit sehen und bittet um eine Verlagerung der Route. Erst wenige Wochen zuvor war das Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald südlich von Gotha eingerichtet worden.

„Die im Lager befindlichen Sträflinge werden in der Regel morgens und abends durch die Stadt geführt. Der Anblick der Kolonnen ist weniger schön für die Bevölkerung“. Auszug aus dem einem Brief des Bürgermeisters der Stadt Ohrdruf im Januar 1945. Quelle: Privatarchiv Schambach.

Das Leiden der KZ-Häftlinge ist schon vorher sichtbar

Insgesamt 20.000 Menschen werden in den letzten Kriegsmonaten ab November 1944 dorthin verschleppt. Hier im abgelegenen Jonastal sollen sie unterirdische Anlagen in den Fels schlagen, die vermutlich als ein neues Führerhauptquartier dienen sollen. Das Landratsamt kommt der Bitte des Bürgermeisters nicht nach. Täglich können die Ohrdrufer weiterhin sehen, wie schlecht es den KZ-Insassen geht. Einige stecken ihnen beim Vorbeiziehen Brotkanten zu, andere dagegen helfen emsig mit, flüchtige Zwangsarbeiter wieder zu fassen, wie Pfarrer Karlheinz Lämmerhirdt aus dem benachbarten Bittstädt in seiner Chronik festhält. Nach ihrer Rückkehr ins Lager werden sie meist brutal exekutiert, auch zur Abschreckung.

Detailansicht der Baustelle ‚Jonastal‘ bei Arnstadt im Oktober 1945: Im Bild sind die Stolleneingänge Nr. 3 und 4 sowie das umliegende Baustellengelände mit Erdaufschüttungen und Baumaterialien zu sehen. Die Aufnahme entstand von der Betonmischanlage aus, links neben Stollen Nr. 16. Zwischen November 1944 und April 1945 mussten hier Tausende Häftlinge des Buchenwalder Außenlagers Ohrdruf Zwangsarbeit leisten.
Detailansicht der Baustelle „Jonastal“ bei Arnstadt. Hier mussten zwischen November 1944 und April 1945 Tausende Häftlinge des Buchenwalder Außenlagers Ohrdruf Zwangsarbeit leisten. Das Foto wurde von der Betonmischanlage links neben Stollen Nr. 16 aufgenommen. Quelle: Gedenkstätte Buchenwald, Fotograf: Ernst Kott, Oktober 1945, 140.003.

Was sie dort erleiden müssen, beobachtet der Schuljunge Rudi Schlegelmilch, der mit Freunden das Abenteuer im Jonastal sucht: „Wenn wir tief ins Tal vordrangen, konnten wir die KZ-Häftlinge beobachten. (….) Sie schlichen nur noch und wurden deshalb von ihren Aufsehern geprügelt. (…) Wir waren schon alt genug, um das schreckliche Leid der Häftlinge zu begreifen und waren uns klar, dass für solch unmenschliches Geschehens eines Tages Rechenschaft gefordert würde, deswegen sagten die Großen ‚Genießt den Krieg, der Frieden danach wird für uns wegen der Rache der Sieger fürchterlich‘.“

Blick auf einen Teil des Konzentrationslagers Ohrdruf am 6. April 1945: Zu sehen sind mehrere hölzerne Baracken, teils zerstört, in einem offenen, schlammigen Gelände. Die Aufnahme entstand kurz nach der Befreiung durch alliierte Truppen.
Blick auf einen Teil des KZ Ohrdruf. Quelle: United States Holocaust Memorial Museum, mit freundlicher Genehmigung von Nancy und Michael Krzyzanowski, 06.04.1945, Foto Nr. 85351.

Angst vor dem Kriegsende?

Friedemann Behr aus Arnstadt, damals elf Jahre alt, begegnet Zwangsarbeitern beim Milch holen: „Die waren spärlich angezogen, total abgemagert, richtige Elendsgestalten. Uns ist das Blut stehen geblieben. Einer hat zu uns gesagt ‚Salz, gib uns bitte Salz‘. Da sind wir vor Angst davon gelaufen. (…) Wir wussten nur, dass jeder Angst vor dem KZ hatte.“ Eine andere junge Anwohnerin reflektiert später ihre Gedanken im Frühjahr 1945 beim Anblick der zur Arbeit getriebenen KZ-Häftlinge: „Manch einer nickte uns verstohlen zu, als wollte er sagen, wartet nur, bald ist die Herrschaft der Faschisten vorbei und der Krieg zu Ende. Wir schämten uns, denn anstatt wir ihnen durch irgendetwas Mut und Hoffnung machten, hatten wir Angst.“ Anfang April rücken die Alliierten tatsächlich näher. Die KZ-Häftlinge, die noch kräftig genug sind, werden ein letztes Mal vor den Augen der Ohrdrufer durchs Dorf getrieben.

Albrecht Dürer aus Liebenstein, einer Nachbargemeinde, erinnert sich: „Ich konnte mit 13 Jahren die Todesmärsche des Sonderlagers S III Jonastal durch unser Dorf sehen und das Schlürfen der halbtoten Männer in blau-weiß gestreifter Häftlingskleidung und Holzschuhen erleben. Völlig abgemagert riefen sie nach Brot und Wasser und wurden dafür mit Gewehrstößen geahndet. Ich wurde Zeuge, wie Faschisten mit Menschen umgingen, die völlig wehrlos waren und auf das Kriegsende, auf ihre Befreiung hofften. Wir sahen wie Häftlinge, mit Hacke und Schaufel ihr Grab schaufeln mussten und dann hinterhältig erschossen wurden.“

Konfrontation mit der Schuld

Noch Tage später liegen die Leichen am Wegesrand und auf den Straßen, wie Toni Böttner, Köchin aus dem benachbarten Crawinkel 1961 zu Protokoll gibt: „Omi, sagte mein Enkelchen, in Jonastal liegen so viele Tote auf der Straße und immer fahren die Autos darüber. So musste auch unser Enkelchen die Barbarei des Faschismus erleben.“ Ein Leugnen oder Verschließen vor den NS-Gräueltaten ist nicht mehr möglich. Dafür sorgen die Alliierten. Sie entdecken beim Erreichen des Außenlagers Ohrdruf unzählige Leichen. Mit jeder weiteren KZ-Befreiung, Buchenwald, Bergen-Belsen, Sachsenhausen, Dachau, Ravensbrück, offenbart sich die Menschenverachtung des NS-Regimes. Die Welt soll erfahren, was die Deutschen zuließen. Soldaten, Presse und Nachbarn sollen die Gräuel mit eigenen Augen sehen.

Zwangsbesichtigung von Konzentrationslagern

In Ohrdruf werden die Mitarbeitenden der Stadtverwaltung, der Ohrdrufer Bürgermeister Schneider und seine Frau, sowie der Fabrikant Thilo Mühlberg am 7. April gezwungen, sich die Lagerbedingungen anzusehen. Der Bürgermeister und seine Frau begehen noch in der Nacht Selbstmord. „Wir wussten es nicht, aber WIR wussten es“, hatten sie zuvor auf einen Zettel gekritzelt. Die Zustände im KZ Buchenwald, das am 11. April befreit wird, müssen über 1.000 Weimarer*innen mit eigenen Augen sehen.

Abbildung eines Artikels aus dem Coldwater Daily Reporter vom 9. April 1945. Die Schlagzeile lautet: ‚Discover Another Nazi Murder Camp‘. Der Bericht beschreibt die grausamen Zustände im befreiten Konzentrationslager Ohrdruf, darunter die Ermordung von Häftlingen, die zu krank zum Arbeiten waren. Der Artikel nennt die Opfer – unter anderem russische, polnische, jüdische und deutsche politische Gefangene – und schildert Aussagen von US-Soldaten sowie von deutschen Zivilistinnen und Offizieren.
Der Zeitungsartikel aus Michigan (USA) beschreibt im April 1945 die grausamen Zustände im befreiten Konzentrationslager Ohrdruf, darunter die Ermordung von Häftlingen, die zu krank zum Arbeiten waren. Der Artikel nennt die Opfer – unter anderem russische, polnische, jüdische und deutsche politische Gefangene – und schildert Aussagen von US-Soldaten sowie von deutschen Zivilistinnen und Offizieren. Quelle: Privatarchiv Schambach, Coldwater Daily Reporter.
Abbildung eines Zeitungsartikels aus dem britischen Boulevardblatt Daily Express vom 9. April 1945. Die Schlagzeile lautet: ‚Nationalsozialisten werden auf Folter-Tour geführt‘. Der Artikel berichtet über die Konfrontation deutscher Zivilistinnen und Nationalsozialistinnen mit den Verbrechen in befreiten Konzentrationslagern.
„Nationalsozialisten werden auf Folter-Tour geführt“ titelt die britische Boulevardpresse am 9. April 1945. Quelle: Privatarchiv Schambach, Daily Express.

Umbettung der Ermordeten

Die Alliierten lassen in den Folgetagen auch Anwohner Massengräber ausheben. Die Ermordeten sollen in Würde begraben werden. Margarete Behr aus Arnstadt schreibt in ihrem Tagebuch am 13. April: „Um Arnstadt herum werden ganz viele Tote gefunden, aus dem Jonastal, die die SS umgebracht hat. Arnstädter Parteigenossen werden gezwungen, die Ermordeten auszuschaufeln und zu bestatten. Starker Verwesungsgeruch über der Stadt, alle still vor Grauen.“

Deutsche Zivilist*innen gehen am 7. Mai 1945 an offenen Massengräbern des Konzentrationslagers Wöbblin vorbei. Die Aufnahme dokumentiert das Grauen des Lagers unmittelbar nach der Befreiung durch alliierte Truppen.
Deutsche Zivilist*innen müssen die offenen Gräber des Konzentrationslagers Wöbblin passieren. Quelle: United States Holocaust Memorial Museum, mit freundlicher Genehmigung des National Archives und der Records Administration, College Park, 07.05.1945, 111-SC-265529.
eutsche Zivilist*innen aus der nahegelegenen Stadt Ludwigslust müssen Leichen aus den Baracken des Konzentrationslagers Wöbblin bergen.
Deutsche Zivilist*innen aus der nahegelegenen Stadt Ludwigslust müssen Leichen aus den Baracken des Konzentrationslagers Wöbblin bergen. Quelle: United States Holocaust Memorial Museum, mit freundlicher Genehmigung von Dr. Alfred B. Sundquist, 07.05.1945, Foto Nr. 09289.

Ungerechtfertigte Strafe?

Ähnliches erleben die Menschen in Flossenbürg, in Dachau, in Mauthausen, in Neuengamme nach der Befreiung der Konzentrationslager vor ihrer Haustür. Auch an die Orte der KZ-Außenlager werden die Dorfbewohner*innen geführt: das gesamte Volk der Täter soll mit dem unfassbaren Anblick der Opfer direkt konfrontiert werden. Schnell will man die Bilder vergessen, nur wenige sprechen darüber. Und die, die es tun, übernehmen keine Verantwortung. Der Weimarer Probst Richard Kade lässt am 22. April 1945 in allen evangelischen Kirchen Weimars verlesen: „So dürfen wir vor Gott bekennen, dass wir keinerlei Mitschuld an diesen Gräueln haben.“

An dieser Sichtweise ändert auch der Dokumentarfilm „Die Todesmühlen“ über die Konzentrationslager wenig, den die Alliierten ab Januar 1946 in den Kinos in Bayern und ab März 1946 in Hessen, Hamburg und Berlin zeigen. Stattdessen empfinden viele die Auseinandersetzung mit den NS-Taten als ungerechtfertigte Strafe, andere unterstreichen weiter ihre Ahnungslosigkeit. Elfriede Schlegelmilch, die als 17-Jährige das KZ Buchenwald besichtigen muss, berichtet 2018 dem Spiegel: „Ich dachte: Das kann doch nicht wahr sein. Du träumst doch oder was ist hier los? (…) Wenn mir heute einer erzählen will, das hätte es alles gar nicht gegeben, da kann ich nur sagen: Ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Und werde es nie, nie mehr vergessen.“

Sowohl in Flossenbürg als auch im KZ Dachau, das am 29. April 1945 befreit wurde, hatten die meisten SS-Leute das Lager längst verlassen, als die Alliierten eintrafen. Nur wenige waren zurückgeblieben und bezahlten dafür zum Teil mit ihrem Leben. So kam es im KZ Dachau am Tag der Befreiung zu Schusswechseln zwischen amerikanischen Soldaten und SS-Männern. In dem für 6.000 Menschen geplanten Lager vegetierten zuletzt etwa 32.000 Häftlinge in völlig überfüllten Baracken auf engstem Raum, viele von ihnen sterbenskrank und fast verhungert. Einige Wachleute, die sich ergeben hatten, wurden noch an der Lagermauer von US-Soldaten hingerichtet, andere vereinzelt von Häftlingen getötet. Die große Mehrheit der KZ-Häftlinge lehnte diese Racheakte jedoch ab.

Perspektiven auf die Befreiung

Im Dossier zu 80 Jahren Befreiung zeigen wir verschiedene Perspektiven auf das Ende der NS-Herrschaft und ihre Nachwirkungen.

Vergessene Helfer*innen

Nach der Befreiung waren viele Displaced Persons nicht nur Überlebende – sie wurden zu Zeug*innen, Aktivist*innen und Organisator*innen. Viele setzten sich für Dokumentation, Aufklärung und Gerechtigkeit ein – oft aus eigener Initiative, nahezu immer unter schwierigsten Bedingungen.

Walter Cieślik in Häftlingskleidung an seinem Schreibtisch im IIO, Dachau, 5.6.1945. Quelle: KZ-Gedenkstätte Dachau, DaA F 1832/33281

„Wir machten einen Hungermarsch“

Zwang, Gewalt und Erschöpfung: Die Todesmärsche markieren das letzte grausame Kapitel der NS-Verbrechen. Petro Mischtschuk überlebte insgesamt 13 Lager und wurde auf zermürbende Märsche geschickt. Auch diese übersteht er. Wir fassen seine Geschichte zusammen und verlinken zu einem Zeitzeugengespräch mit ihm.

Peter Mischtschuk steht in der Gedenkstätte Jonastal in seiner alten Häftlingskleidung vor niedergelegten Kränzen. Er hält die ukrainische Flagge in seiner Hand.
Peter Mischtschuk 2025. Quelle: Klaus-Peter Schambach, www.tatort-jonastal.de

Über die
Vorstellungskraft hinaus

Was fanden die Soldaten der Alliierten vor, als sie die Lager erreichten und die Opfer des NS-Terrors befreiten? Die Soldaten waren nicht vorbereitet auf die grauenhaften Szenen und konnten die Bilder ein Leben lang nicht vergessen.

Das Bild stammt vom 19. April 1945. Es zeigt gerade befreite, inhaftierte Männer im KZ Buchenwald. Sie liegen kaum bekleidet und abgemagert auf Hochbetten. Ein Mann steht mit nacktem Oberkörper im rechten Teil des Bildes und guckt die Betrachter*innen an.
Buchenwald, 16. April 1945. Foto: Harry Miller, National Archives, Washington, 111-SC 20 36 27 – S. Quelle: Fotoarchiv Buchenwald, 020-46.007

Niederlage, Befreiung oder Sieg?

Wie wurde der 8. Mai 1945 in der DDR erinnert, wie wird er heute in der BRD und in den Ländern, die gegen das Deutsche Reich gekämpft haben, vergegenwärtig?

Nach der Befreiung: NS-Täter*innen auf der Flucht

Mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes flohen viele Täter*innen – und viele entzogen sich der Verantwortung. Es wurden systematisch Schuld verschleiert, Verfolgung vermieden und Prozesse verhindert.

Die Zeichnung der Künstlerin Helen Ernst zeigt eine situation im KZ Ravensbrück. Vier Frauen arbeiten mit gebeugtem Rücken und schaufeln. Hinter ihnen stehen zwei weitere Frauen, gekleidet in Uniformen. Eine von ihnen hebt den rechten Arm in Form eines NS-Grußes.
Ohne Titel. Zeichnung von Helen Ernst. Quelle: Museen der Landeshauptstadt Schwerin