Am 4. April 1945 erreichen die Alliierten das erste KZ im Reichsgebiet. Es ist das Buchenwald-Außenlager Ohrdruf. Die US-Soldaten finden verkohlte Leichen. Überlebende gibt es kaum. Wenige Stunden zuvor waren die letzten Häftlinge in Richtung Buchenwald getrieben worden. 12.000 völlig ausgemergelte Körper hatten sich in den Tagen zuvor durch die Dörfer geschleppt, vorbei an den Häusern der Deutschen, von denen viele später behaupten werden, sie hätten nichts gewusst. Wie erlebten die Deutschen die KZ-Befreiungen vor 80 Jahren? Eine Spurensuche.
„Die im Lager befindlichen Sträflinge werden in der Regel morgens und abends durch die Stadt geführt. Der Anblick der Kolonnen ist weniger schön für die Bevölkerung“, schreibt Albert Schneider, der Bürgermeister der Stadt Ohrdruf im Januar 1945 an das Landratsamt Gotha. Er ist nicht erfreut, dass die Bürgerinnen und Bürger den schlechten Zustand und die Misshandlungen der KZ-Häftlinge auf ihrem Weg zur Zwangsarbeit sehen und bittet um eine Verlagerung der Route. Erst wenige Wochen zuvor war das Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald südlich von Gotha eingerichtet worden.

Das Leiden der KZ-Häftlinge ist schon vorher sichtbar
Insgesamt 20.000 Menschen werden in den letzten Kriegsmonaten ab November 1944 dorthin verschleppt. Hier im abgelegenen Jonastal sollen sie unterirdische Anlagen in den Fels schlagen, die vermutlich als ein neues Führerhauptquartier dienen sollen. Das Landratsamt kommt der Bitte des Bürgermeisters nicht nach. Täglich können die Ohrdrufer weiterhin sehen, wie schlecht es den KZ-Insassen geht. Einige stecken ihnen beim Vorbeiziehen Brotkanten zu, andere dagegen helfen emsig mit, flüchtige Zwangsarbeiter wieder zu fassen, wie Pfarrer Karlheinz Lämmerhirdt aus dem benachbarten Bittstädt in seiner Chronik festhält. Nach ihrer Rückkehr ins Lager werden sie meist brutal exekutiert, auch zur Abschreckung.

Was sie dort erleiden müssen, beobachtet der Schuljunge Rudi Schlegelmilch, der mit Freunden das Abenteuer im Jonastal sucht: „Wenn wir tief ins Tal vordrangen, konnten wir die KZ-Häftlinge beobachten. (….) Sie schlichen nur noch und wurden deshalb von ihren Aufsehern geprügelt. (…) Wir waren schon alt genug, um das schreckliche Leid der Häftlinge zu begreifen und waren uns klar, dass für solch unmenschliches Geschehens eines Tages Rechenschaft gefordert würde, deswegen sagten die Großen ‚Genießt den Krieg, der Frieden danach wird für uns wegen der Rache der Sieger fürchterlich‘.“

Angst vor dem Kriegsende?
Friedemann Behr aus Arnstadt, damals elf Jahre alt, begegnet Zwangsarbeitern beim Milch holen: „Die waren spärlich angezogen, total abgemagert, richtige Elendsgestalten. Uns ist das Blut stehen geblieben. Einer hat zu uns gesagt ‚Salz, gib uns bitte Salz‘. Da sind wir vor Angst davon gelaufen. (…) Wir wussten nur, dass jeder Angst vor dem KZ hatte.“ Eine andere junge Anwohnerin reflektiert später ihre Gedanken im Frühjahr 1945 beim Anblick der zur Arbeit getriebenen KZ-Häftlinge: „Manch einer nickte uns verstohlen zu, als wollte er sagen, wartet nur, bald ist die Herrschaft der Faschisten vorbei und der Krieg zu Ende. Wir schämten uns, denn anstatt wir ihnen durch irgendetwas Mut und Hoffnung machten, hatten wir Angst.“ Anfang April rücken die Alliierten tatsächlich näher. Die KZ-Häftlinge, die noch kräftig genug sind, werden ein letztes Mal vor den Augen der Ohrdrufer durchs Dorf getrieben.
Albrecht Dürer aus Liebenstein, einer Nachbargemeinde, erinnert sich: „Ich konnte mit 13 Jahren die Todesmärsche des Sonderlagers S III Jonastal durch unser Dorf sehen und das Schlürfen der halbtoten Männer in blau-weiß gestreifter Häftlingskleidung und Holzschuhen erleben. Völlig abgemagert riefen sie nach Brot und Wasser und wurden dafür mit Gewehrstößen geahndet. Ich wurde Zeuge, wie Faschisten mit Menschen umgingen, die völlig wehrlos waren und auf das Kriegsende, auf ihre Befreiung hofften. Wir sahen wie Häftlinge, mit Hacke und Schaufel ihr Grab schaufeln mussten und dann hinterhältig erschossen wurden.“
Konfrontation mit der Schuld
Noch Tage später liegen die Leichen am Wegesrand und auf den Straßen, wie Toni Böttner, Köchin aus dem benachbarten Crawinkel 1961 zu Protokoll gibt: „Omi, sagte mein Enkelchen, in Jonastal liegen so viele Tote auf der Straße und immer fahren die Autos darüber. So musste auch unser Enkelchen die Barbarei des Faschismus erleben.“ Ein Leugnen oder Verschließen vor den NS-Gräueltaten ist nicht mehr möglich. Dafür sorgen die Alliierten. Sie entdecken beim Erreichen des Außenlagers Ohrdruf unzählige Leichen. Mit jeder weiteren KZ-Befreiung, Buchenwald, Bergen-Belsen, Sachsenhausen, Dachau, Ravensbrück, offenbart sich die Menschenverachtung des NS-Regimes. Die Welt soll erfahren, was die Deutschen zuließen. Soldaten, Presse und Nachbarn sollen die Gräuel mit eigenen Augen sehen.
Zwangsbesichtigung von Konzentrationslagern
In Ohrdruf werden die Mitarbeitenden der Stadtverwaltung, der Ohrdrufer Bürgermeister Schneider und seine Frau, sowie der Fabrikant Thilo Mühlberg am 7. April gezwungen, sich die Lagerbedingungen anzusehen. Der Bürgermeister und seine Frau begehen noch in der Nacht Selbstmord. „Wir wussten es nicht, aber WIR wussten es“, hatten sie zuvor auf einen Zettel gekritzelt. Die Zustände im KZ Buchenwald, das am 11. April befreit wird, müssen über 1.000 Weimarer*innen mit eigenen Augen sehen.


Umbettung der Ermordeten
Die Alliierten lassen in den Folgetagen auch Anwohner Massengräber ausheben. Die Ermordeten sollen in Würde begraben werden. Margarete Behr aus Arnstadt schreibt in ihrem Tagebuch am 13. April: „Um Arnstadt herum werden ganz viele Tote gefunden, aus dem Jonastal, die die SS umgebracht hat. Arnstädter Parteigenossen werden gezwungen, die Ermordeten auszuschaufeln und zu bestatten. Starker Verwesungsgeruch über der Stadt, alle still vor Grauen.“


Ungerechtfertigte Strafe?
Ähnliches erleben die Menschen in Flossenbürg, in Dachau, in Mauthausen, in Neuengamme nach der Befreiung der Konzentrationslager vor ihrer Haustür. Auch an die Orte der KZ-Außenlager werden die Dorfbewohner*innen geführt: das gesamte Volk der Täter soll mit dem unfassbaren Anblick der Opfer direkt konfrontiert werden. Schnell will man die Bilder vergessen, nur wenige sprechen darüber. Und die, die es tun, übernehmen keine Verantwortung. Der Weimarer Probst Richard Kade lässt am 22. April 1945 in allen evangelischen Kirchen Weimars verlesen: „So dürfen wir vor Gott bekennen, dass wir keinerlei Mitschuld an diesen Gräueln haben.“
An dieser Sichtweise ändert auch der Dokumentarfilm „Die Todesmühlen“ über die Konzentrationslager wenig, den die Alliierten ab Januar 1946 in den Kinos in Bayern und ab März 1946 in Hessen, Hamburg und Berlin zeigen. Stattdessen empfinden viele die Auseinandersetzung mit den NS-Taten als ungerechtfertigte Strafe, andere unterstreichen weiter ihre Ahnungslosigkeit. Elfriede Schlegelmilch, die als 17-Jährige das KZ Buchenwald besichtigen muss, berichtet 2018 dem Spiegel: „Ich dachte: Das kann doch nicht wahr sein. Du träumst doch oder was ist hier los? (…) Wenn mir heute einer erzählen will, das hätte es alles gar nicht gegeben, da kann ich nur sagen: Ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Und werde es nie, nie mehr vergessen.“
Sowohl in Flossenbürg als auch im KZ Dachau, das am 29. April 1945 befreit wurde, hatten die meisten SS-Leute das Lager längst verlassen, als die Alliierten eintrafen. Nur wenige waren zurückgeblieben und bezahlten dafür zum Teil mit ihrem Leben. So kam es im KZ Dachau am Tag der Befreiung zu Schusswechseln zwischen amerikanischen Soldaten und SS-Männern. In dem für 6.000 Menschen geplanten Lager vegetierten zuletzt etwa 32.000 Häftlinge in völlig überfüllten Baracken auf engstem Raum, viele von ihnen sterbenskrank und fast verhungert. Einige Wachleute, die sich ergeben hatten, wurden noch an der Lagermauer von US-Soldaten hingerichtet, andere vereinzelt von Häftlingen getötet. Die große Mehrheit der KZ-Häftlinge lehnte diese Racheakte jedoch ab.
Perspektiven auf die Befreiung
Im Dossier zu 80 Jahren Befreiung zeigen wir verschiedene Perspektiven auf das Ende der NS-Herrschaft und ihre Nachwirkungen.