Niederlage, Befreiung oder Sieg?

Perspektiven auf den 8. Mai 1945 im Lernmodul Suspekt

Wie wurde der 8. Mai 1945 in der DDR erinnert, wie wird er heute in der BRD und in den Ländern, die gegen das Deutsche Reich gekämpft haben, vergegenwärtig? Wie hat sich die Sicht auf das Kriegsende verändert und wie sieht es heute aus? Unter anderem mit diesen Fragen beschäftigen wir uns in unserem digitalen Lernmodul Suspekt – Landschaft der Verbrechen

Am 8. Mai 1985 hält der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Bundestag in Bonn eine Rede. Die Kapitulation des deutschen Militärs, also das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa, ist an diesem Tag 40 Jahre her. Als erster Bundespräsident sagt er: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.” Die Rede wird viel gelobt. Erst seitdem wird in der BRD vom „Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus“ gesprochen.

Dies war nicht immer so. Nach Kriegsende bezeichnen viele Menschen in Westdeutschland den 8. Mai 1945 als „Niederlage“ und „Zusammenbruch“. Sie betonen dabei das Leid der deutschen Bevölkerung und die im Krieg bombardierten deutschen Städte. Es wird kaum über die Opfer der deutschen Besatzung und des Holocausts gesprochen; auch nicht über die Tatsache, dass Deutschland den Krieg angefangen hatte.

In der schwarz-weiß Fotografie ist Richard von Weizsäcker abgebildet.
Richard von Weizsäcker. Quelle: Bundesarchiv Bild 146-1991-039-11

Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.

Richard von Weizsäcker, 8. Mai 1985, zitiert von: Bundespräsidialamt, Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker anlässlich der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa, Bonn, 8. Mai 1985, www.bundespräsident.de

Das ist ein Zitat aus der Rede, in der Richard von Weizsäcker 1985 in Bonn vom „Tag der Befreiung“ und nicht mehr von „Niederlage“ spricht. Er sagt, dass alle Deutschen von der NS-Herrschaft befreit worden seien. Damit begrenzt er allerdings die Schuld an den NS-Verbrechen auf einige wenige Nationalsozialisten und spricht große Teile der Bevölkerung von jeder Schuld frei. Er erwähnt auch die Leiden der Deutschen nach dem Kriegsende, benennt aber klar die Ursache dafür: die Wahl von Hitler zum Reichskanzler durch die deutsche Bevölkerung 1933. An anderer Stelle würdigt er außerdem das Leid der NS-Opfer. So vereint er verschiedene Perspektiven auf den 8. Mai.

Der Tag der Befreiung vom Faschismus

Berlin-Treptow, sowjetisches Ehrenmal, Tag der Befreiung 1952. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-14630-0005 / Sturm, Horst / CC-BY-SA 3.0

In der DDR wird mit dem 8. Mai 1945 ein anderer staatlicher Umgang gepflegt: Hier wird der 8. Mai schon früh als „Tag der Befreiung vom Faschismus“ gefeiert, häufig mit Militärparaden. Einige der Kommunist*innen, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden, werden später führende Politiker*innen in der Deutschen Demokratischen Republik. Für sie bedeutet das Kriegsende die Befreiung von Verfolgung und KZ-Haft. Ihre Sichtweise übernehmen sie für die gesamte Bevölkerung der DDR, auch wenn sie nicht für alle zutrifft. Denn auch in der DDR leben Menschen, die zuvor vom Nationalsozialismus überzeugt gewesen waren.

Erinnerung an den 8. Mai 1945 außerhalb der BRD und der DDR

Wie wird in anderen Ländern an den 8. Mai 1945 erinnert?

Piccadilly Circus (London) 2020: Eine große Plakatwerbung an den 8. Mai 1945. Das Plakat zeigt ein Foto, das bei den Feiern zum Ende des Zweiten Weltkrieges dort in der Nähe aufgenommen wurde. Quelle: Ocean Outdoor

In Großbritannien und den USA wird am 8. Mai an den „Victory in Europe Day“ erinnert. Am 25. April wird in Italien die Befreiung des Landes von der deutschen Besatzung gefeiert. In den Niederlanden wird am 5. Mai der Bevrijdingsdag (Befreiungstag) begangen. Die Sowjetunion feierte am 9. Mai den „Tag des Sieges“ mit großen Militärparaden, in Russland ist es heute noch so.

Und heute?

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine 2022 gibt es auch in Deutschland verstärkte Auseinandersetzungen um das Kriegsende 1945: Viele ukrainisch- und russischstämmige Menschen in Berlin besuchen am 9. Mai traditionell die Sowjetischen Ehrenmale. Dort gedenken sie der sowjetischen Soldat*innen, die im Zweiten Weltkrieg gefallen sind. 2023 verbietet die Polizei russische Flaggen und, aus Angst vor Konflikten mit russischen Besucher*innen, auch das Zeigen ukrainischer Flaggen. Darüber gibt es zahlreiche Beschwerden und das Verwaltungsgericht (VG) erlaubt die ukrainischen Flaggen schließlich.

Suspekt – Landschaft der Verbrechen

Ein Lernmodul der Arolsen Archives

Im Lernmodul „Suspekt“ können junge Lernende auf einer digitalen Karte drei thematischen Touren erkunden. Darin wird u.a. das Kriegsende aus verschiedenen Perspektiven und die umkämpfte Erinnerung nach 1945 betrachtet.
Auch über die Präsenz der NS-Verbrechen im Alltag der deutschen Bevölkerung können Nutzende mehr erfahren: Was geschah im KZ Ohrdruf und in anderen – meist unbekannten – Außenlagern Buchenwalds? Welche Fragen für die Gegenwart ergeben sich daraus? Vier 360°-Ansichten des heutigen, größtenteils für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Geländes des KZ-Komplex Ohrdruf bieten die Möglichkeit, Spuren der NS-Vergangenheit zu entdecken. Begleitet werden Nutzende dabei von Vicky, einer jungen Presenterin, die die Themen aus einer jugendlichen Perspektive vorstellt und zum Erkunden einlädt.
„Suspekt“ ermöglicht einen niedrigschwelligen Einstieg und kritischen Blick auf Erzählungen und Bilder über die NS-Zeit. Das Lernmodul eignet sich für den Geschichts- oder Politikunterricht, aber auch für andere Fächer, für Projekttage oder auch für Vertretungsstunden. Es ist wie die gesamte Bildungsplattform der arolsen school kostenlos und frei zugänglich.

Perspektiven auf die Befreiung

Im Dossier zu 80 Jahren Befreiung zeigen wir verschiedene Perspektiven auf das Ende der NS-Herrschaft und ihre Nachwirkungen.

Vergessene Helfer*innen

Nach der Befreiung waren viele Displaced Persons nicht nur Überlebende – sie wurden zu Zeug*innen, Aktivist*innen und Organisator*innen. Viele setzten sich für Dokumentation, Aufklärung und Gerechtigkeit ein – oft aus eigener Initiative, nahezu immer unter schwierigsten Bedingungen.

Walter Cieślik in Häftlingskleidung an seinem Schreibtisch im IIO, Dachau, 5.6.1945. Quelle: KZ-Gedenkstätte Dachau, DaA F 1832/33281

Im Angesicht der Schuld

Wie nahmen die Deutschen das Leid der KZ-Häftlinge wahr? Zivilist*innen – Kinder wie Erwachsene – wurden bereits unter dem NS-Regime sowie nach der Befreiung mit dem Grauen des NS-Regimes konfrontiert.

Baustelle Jonastal bei Arnstadt, Oktober 1945. Quelle: Archiv Ernst Kott, Arnstadt BwA VI 930 L (c) Gedenkstätte Buchenwald

„Wir machten einen Hungermarsch“

Zwang, Gewalt und Erschöpfung: Die Todesmärsche markieren das letzte grausame Kapitel der NS-Verbrechen. Petro Mischtschuk überlebte insgesamt 13 Lager und wurde auf zermürbende Märsche geschickt. Auch diese übersteht er. Wir fassen seine Geschichte zusammen und verlinken zu einem Zeitzeugengespräch mit ihm.

Peter Mischtschuk steht in der Gedenkstätte Jonastal in seiner alten Häftlingskleidung vor niedergelegten Kränzen. Er hält die ukrainische Flagge in seiner Hand.
Peter Mischtschuk 2025. Quelle: Klaus-Peter Schambach, www.tatort-jonastal.de

Über die
Vorstellungskraft hinaus

Was fanden die Soldaten der Alliierten vor, als sie die Lager erreichten und die Opfer des NS-Terrors befreiten? Die Soldaten waren nicht vorbereitet auf die grauenhaften Szenen und konnten die Bilder ein Leben lang nicht vergessen.

Das Bild stammt vom 19. April 1945. Es zeigt gerade befreite, inhaftierte Männer im KZ Buchenwald. Sie liegen kaum bekleidet und abgemagert auf Hochbetten. Ein Mann steht mit nacktem Oberkörper im rechten Teil des Bildes und guckt die Betrachter*innen an.
Buchenwald, 16. April 1945. Foto: Harry Miller, National Archives, Washington, 111-SC 20 36 27 – S. Quelle: Fotoarchiv Buchenwald, 020-46.007

Nach der Befreiung: NS-Täter*innen auf der Flucht

Mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes flohen viele Täter*innen – und viele entzogen sich der Verantwortung. Es wurden systematisch Schuld verschleiert, Verfolgung vermieden und Prozesse verhindert.

Die Zeichnung der Künstlerin Helen Ernst zeigt eine situation im KZ Ravensbrück. Vier Frauen arbeiten mit gebeugtem Rücken und schaufeln. Hinter ihnen stehen zwei weitere Frauen, gekleidet in Uniformen. Eine von ihnen hebt den rechten Arm in Form eines NS-Grußes.
Ohne Titel. Zeichnung von Helen Ernst. Quelle: Museen der Landeshauptstadt Schwerin