„Wir machten einen Hunger-marsch!“

Vor Ankunft der alliierten Truppen treiben die Nazis viele KZ-Häftlinge auf Todesmärsche.

Petro Mischtschuk bei einer Gedenkveranstaltung im Jonastal im Jahr 2015. Er trägt Häftlingskleidung und hält die ukrainische Flagge.
Petro Mischtschuk bei einer Gedenkveranstaltung im Jonastal 2015. Quelle: Klaus-Peter Schambach, www.tatort-jonastal.de

Als die US-Armee am 4. April 1945 das Konzentrationslager Ohrdruf SIII bei Gotha befreit, geht das Leid von Petro Mischtschuk weiter. Die SS hat ihn und seine Mithäftlinge beim Herannahen der amerikanischen Panzer aus der Baracke getrieben. Etwa 13.000 Häftlinge mussten das Lager verlassen und in Gruppen zu Fuß nach Buchenwald marschieren.

Aus der Ukraine verschleppt

Petro Mischtschuk, geboren am 10. Juli 1926, stammt aus Kysylyn, einem Ort nahe der polnischen und der weißrussischen Grenze. „Wir waren eine sehr arme Familie, ein sehr armes Dorf“, sagt er Jahre später über seine Herkunft. Ende Juni 1941 besetzen deutsche Truppen Kysylyn. Sie greifen den 14-jährigen Jungen im Wald auf, fesseln ihn und bringen ihn ins jüdische Ghetto, weil sie ihn für einen Partisanen halten. Im Frühjahr 1942 wird er am nächstgelegenen Bahnhof in einen überfüllten Waggon gesteckt und erst nach Auschwitz, dann weiter nach Berlin und über Magdeburg bis nach Buchenwald verschleppt.

Akte von Peter Mischtschuk aus dem Archiv der Arolsen Archives. Seine Nationalität ist als russisch benannt, der Vorname zu Peter umgewandelt.
Akte von Petr (Petro) Mischtschuk. Quelle: Arolsen Archives Doc ID 6641223

Zwangsarbeit, Hunger und Tod in Ohrdruf

Er durchläuft insgesamt 13 Lager und muss schwerste Zwangsarbeit leisten. „Das schrecklichste Lager war Ohrdruf SIII “, sagt er rückblickend. Petro Mischtschuk wird zunächst gezwungen, das kilometerweit entfernte Lagergelände mit Stacheldraht einzuzäunen, später arbeitet er Tag und Nacht in den Stollen des Steinbruchs Jonastal, hievt mit bloßen Händen scharfkantige Felsbrocken auf die Loren einer kleinen Baubahn. Einmal am Tag gibt es mageres Essen, Spinat, Steckrüben. „Jeden Tag starben Menschen“, erinnert er sich. Diese Toten muss er in einer Baracke wie „Brennholz“ stapeln und mit ansehen, wie SS-Aufseher den Leichen die Goldzähne aus dem Kiefer brechen, bevor sie sie in Massengräbern im Wald verbrennen.

Endlose,zermürbende
Märsche

Ab dem 1. April 1945, die Panzer der Amerikaner sind schon zu hören, treibt die SS die Gefangenen aus Ohrdruf zunächst zum KZ Buchenwald.  Kranke Häftlinge, die nicht gehen können, werden auf dem Appellplatz erschossen. Doch angesichts der herannahenden US-Truppen wird auch dieses Lager ab dem 7. April 1945 geräumt. Die SS zwingt 28.000 Gefangene zum Abmarsch. Jeder Dritte wird die Todesmärsche nicht überleben.
Nach schier endlosen, zermürbenden Märschen gelangt Petro Mischtschuk nach Sachsenhausen nördlich von Berlin. Auch dieses KZ befindet sich bereits in Auflösung. Die Häftlinge werden in einem langen Tross weiter nach Nordwesten geschickt.
Unterwegs gibt es nichts zu essen. Manchmal werfen ihnen Dorfbewohner Kohl und Kartoffeln zu, oft halb verfault. Wenn sie im Wald sind, sammelt Petro Mischtschuk Bucheckern. Manche Gefangene essen aus Verzweiflung Gras und Baumrinde. „Wir machten einen Hungermarsch“, so beschreibt es der Ukrainer Jahrzehnte später rückblickend. „Einmal verteilte das Internationale Rote Kreuz Essenspakete. Drei Personen mussten sich eine einzige Ration teilen.“ An der Nordsee angekommen, geht das Gerücht um, dass sie auf ein Schiff verfrachtet und ertränkt werden sollen.
Bevor es dazu kommt, wird seine Gruppe von amerikanischen Truppen befreit. Doch Petro Mischtschuk traut niemandem mehr; wie viele andere KZ-Häftlinge flieht er und macht sich auf den Weg zurück nach Hause ‒ ohne Geld, ohne Kleidung, ohne Koffer.  Er klammert sich an Eisenbahnwaggons, lässt sich von Autos mitnehmen, bis er seine ukrainische Heimat erreicht.

Extreme Gewalt

In einem Interview aus dem Jahr 2023 fasst der Hochbetagte die Zeit seiner NS-Gefangenschaft so zusammen: „Ich war fünf Jahre in Lagern. Dasselbe wie im Tod. Sie haben mich im Frühjahr 1942 weggebracht. Und bis 1945 war ich weg. […] Und so ging ich durch 13 Lager. Ich sah, wie Menschen getrieben, verbrannt, gefoltert wurden, wie Zähne ausgeschlagen wurden… Ja, ich habe gesehen! Außerdem habe ich getragen – die Toten getragen! Ich bin der einzige Überlebende von dort.“ Petro Mischtschuks Erinnerungen spiegeln die extreme Gewalt wider, die die Nationalsozialisten in der letzten Phase ihrer Herrschaft ausübten ‒ auch um Zeugen ihrer Verbrechen zu beseitigen.

Perspektiven auf die Befreiung

Im Dossier zu 80 Jahren Befreiung zeigen wir verschiedene Perspektiven auf das Ende der NS-Herrschaft und ihre Nachwirkungen.

Vergessene Helfer*innen

Nach der Befreiung waren viele Displaced Persons nicht nur Überlebende – sie wurden zu Zeug*innen, Aktivist*innen und Organisator*innen. Viele setzten sich für Dokumentation, Aufklärung und Gerechtigkeit ein – oft aus eigener Initiative, nahezu immer unter schwierigsten Bedingungen.

Walter Cieślik in Häftlingskleidung an seinem Schreibtisch im IIO, Dachau, 5.6.1945. Quelle: KZ-Gedenkstätte Dachau, DaA F 1832/33281

Im Angesicht der Schuld

Wie nahmen die Deutschen das Leid der KZ-Häftlinge wahr? Zivilist*innen – Kinder wie Erwachsene – wurden bereits unter dem NS-Regime sowie nach der Befreiung mit dem Grauen des NS-Regimes konfrontiert.

Baustelle Jonastal bei Arnstadt, Oktober 1945. Quelle: Archiv Ernst Kott, Arnstadt BwA VI 930 L (c) Gedenkstätte Buchenwald

Über die
Vorstellungskraft hinaus

Was fanden die Soldaten der Alliierten vor, als sie die Lager erreichten und die Opfer des NS-Terrors befreiten? Die Soldaten waren nicht vorbereitet auf die grauenhaften Szenen und konnten die Bilder ein Leben lang nicht vergessen.

Das Bild stammt vom 19. April 1945. Es zeigt gerade befreite, inhaftierte Männer im KZ Buchenwald. Sie liegen kaum bekleidet und abgemagert auf Hochbetten. Ein Mann steht mit nacktem Oberkörper im rechten Teil des Bildes und guckt die Betrachter*innen an.
Buchenwald, 16. April 1945. Foto: Harry Miller, National Archives, Washington, 111-SC 20 36 27 – S. Quelle: Fotoarchiv Buchenwald, 020-46.007

Niederlage, Befreiung oder Sieg?

Wie wurde der 8. Mai 1945 in der DDR erinnert, wie wird er heute in der BRD und in den Ländern, die gegen das Deutsche Reich gekämpft haben, vergegenwärtig?

Nach der Befreiung: NS-Täter*innen auf der Flucht

Mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes flohen viele Täter*innen – und viele entzogen sich der Verantwortung. Es wurden systematisch Schuld verschleiert, Verfolgung vermieden und Prozesse verhindert.

Die Zeichnung der Künstlerin Helen Ernst zeigt eine situation im KZ Ravensbrück. Vier Frauen arbeiten mit gebeugtem Rücken und schaufeln. Hinter ihnen stehen zwei weitere Frauen, gekleidet in Uniformen. Eine von ihnen hebt den rechten Arm in Form eines NS-Grußes.
Ohne Titel. Zeichnung von Helen Ernst. Quelle: Museen der Landeshauptstadt Schwerin