Gedenken heute

Wie Jugendliche im ehemaligen KZ Ohrdruf lebendiges Erinnern mitgestalten

Die Kunst des Erinnerns. Quelle: Weimarer Mal- und Zeichenschule

Das KZ Ohrdruf war eines von über 130 Außenlagern im weitverzweigten Lagersystem von Buchenwald. Vor 80 Jahren, am 4. April 1945, wurde es von US-amerikanischen Truppen befreit. Seit 2022 setzen sich die Arolsen Archives und die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora zusammen mit vielen Institutionen und Engagierten vor Ort dafür ein, dass die Geschichte des Lagers und seiner Opfer nicht in Vergessenheit gerät – durch den Einsatz digitaler Medien und vor allem mit Beteiligung junger Menschen.
Anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung organisierten die Kooperationspartner auf dem ehemaligen Lagergelände und im Bürgersaal des nahegelegenen Schloss Ehrenstein eine bewegende ganztägige Gedenkveranstaltung, die von zahlreichen Akteur*innen, darunter mehr als 150 Jugendliche mitgestaltet wurde.

Ein Gespräch mit den Initiator*innen

Was macht eine lebendige Erinnerungskultur aus? Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf die historisch-politische Bildungsarbeit? Und wie lässt sich würdiges Gedenken so gestalten, dass sich auch junge Menschen angesprochen fühlen? Über diese Fragen sprechen wir mit Birthe Pater, Leitung Bildung der Arolsen Archives, Holger Obbarius, Leiter der Bildungsabteilung der Gedenkstätte Buchenwald, und Christoph Mauny von der Weimarer Mal- und Zeichenschule.

Ihre drei Institutionen haben die ganztägige Gedenkveranstaltung am 4. April 2025 in Ohrdruf initiiert. Was war Ihnen bei der Planung besonders wichtig?

Birthe Pater

Ganz wichtig war uns, eine Gedenkveranstaltung von Jugendlichen für Jugendliche zu organisieren. Etwa 150 Schülerinnen und Schüler haben den Tag mit uns gemeinsam vorbereitet und in Teilen auch selbst gestaltet.

Holger Obbarius

Außerdem wollten wir die Akteur*innen vor Ort einbinden. Die Menschen, die sich zum Teil schon seit Jahren engagieren, sollten nicht das Gefühl bekommen, dass wir den bestellten Acker übernehmen. Sondern wir wollten das fruchtbare Feld noch reicher machen, indem wir extra Dünger mitbringen ─ um im Bild zu bleiben.

Christoph Mauny

Dass das geglückt ist, ist dem sensiblen und engagierten Team zu verdanken. So war die Arbeit für die Jugendlichen in Thüringen, die sich politisch oft sehr alleingelassen und unter Druck gesetzt fühlen, sehr rückenstärkend.

Die Gedenkveranstaltung war einer der Höhepunkte des Erinnerungsprojekts. Herr Mauny, Sie haben den Stein 2022 ins Rollen gebracht. Wie kam es dazu?

Christoph Mauny

Ich bin in Thüringen geboren und war damals schon fünf, sechs Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem großen Museum der Region, als ich überhaupt zum ersten Mal vom Lager gehört habe. Als ich die Situation vor Ort gesehen hatte, hat mich das erschrocken: Truppenübungsplatz der Bundeswehr, Naturschutzgebiet, Verschwörungsschwurbelein ─ ein erinnerungskulturell und physisch unzugänglicher Bereich der deutschen Geschichte. Es tat sich zu der Zeit die Chance auf, ein neues Konzept für die Bildungsarbeit im Museum zu entwickeln. Daraus entstand u.a. das Projekt Deutsche Erinnerungslücke KZ Ohrdruf, das sich zum Ziel gesetzt hat, einen Erinnerungsort für die Opfer zu schaffen und neue Formen der Erinnerungskultur zu finden.

Die Arolsen Archives bringen vor allem digitale Kompetenzen in das Projekt ein. 2023 haben Freiwillige rund 20.000 Namen von Häftlingen aus dem KZ Ohrdruf digitalisiert. Frau Pater, wie verändert die Digitalisierung das Gedenken und die historisch-politische Bildung?

Birthe Pater

Durch die Digitalisierung unserer Dokumente, die schon in den 1990er Jahren begonnen hat, wurden Barrieren abgebaut. Biografien von NS-Verfolgten wurden plötzlich für eine breite Öffentlichkeit zugänglich. Das hat unsere Arbeit und auch unseren Auftrag verändert.

Birthe Pater. Quelle: Arolsen Archives

 

In der Bildungsarbeit haben wir durch die Digitalisierung neue technische Möglichkeiten. Wir sehen aber auch eine veränderte Gesellschaft. Junge Menschen müssen sich in einer Welt zurechtfinden, die sich ständig wandelt, die unsicher, komplex und mehrdeutig ist. Unser Ziel ist es, digitale Bildungsangebote zu entwickeln, die leicht zugänglich sind, aber zugleich die historische Urteilskraft stärken und Orientierung bieten.

Birthe Pater, Leiterin Education, Arolsen Archives

2024 ist das digitale Lernmodul „Suspekt“ von arolsen school erschienen, das einen virtuellen Zugang zum ehemalige Lagergelände schafft und Jugendliche einlädt, Spuren der NS-Vergangenheit zu entdecken.Herr Obbarius, Sie setzen das Modul in Ihrer Gedenkstätte ein. Welchen Gewinn sehen Sie darin?

Holger Obbarius

Suspekt ist ein jugendgerechtes Angebot, das ganz leicht zugänglich ist. Durch die digitale Präsentationsform wird das Interesse der Jugendlichen geweckt. Sie klicken sich durch die 360-Grad-Welt des ehemaligen Lagers und werden dabei durch ein Belohnungssystem bestärkt.
Wir sehen, dass sich Jugendliche sehr lange mit Suspekt beschäftigen. Sie behalten viele Fakten und Details. Offenbar regt die Art der Präsentation das Gedächtnis dazu an, eine historische Vorstellungskraft zu entwickeln. Und sie wirkt aktivierend. Jugendliche fragen uns hinterher oft: Was können wir tun?

Neben den digitalen gibt es auch gegenständliche Bildungsangebote. Herr Mauny, in den Workshops der Weimarer Mal- und Zeichenschule setzen sich Jugendliche künstlerisch mit der NS-Vergangenheit auseinander. Welche Erfahrungen machen Sie damit? 

Christoph Mauny

Zwei Beispiele: Für die Vorbereitung der Gedenkveranstaltung haben Jugendliche sogenannte Cyanotypien, Blaudrucken, hergestellt. Das ist ein frühes fotografisches Verfahren. Ausgangsmaterial waren NS-Dokumente, auch Häftlingsfotos. Durch ästhetische Mittel und einen persönlichen Zugang entstehen aus den kalten NS-Dokumenten nicht selten schöne, würdevolle Portraits. Eine andere Idee waren die Generationentandems. Jugendliche formten nach Fotos von KZ-Häftlingen Tonskulpturen, in die sie Samen einarbeiteten. Gemeinsam mit Angehörigen der Opfer haben sie diese Skulpturen am Gedenktag niedergelegt. Weil der Ton nicht gebrannt wurde, wird das Material mit der Zeit in die Landschaft übergehen. Vielleicht blüht etwas, vielleicht nicht.

Frau Pater, ein Baustein der Veranstaltung war ein Podiumsgespräch mit Schüler*innen. Welche Erwartungen an Gedenkarbeit formulieren Jugendliche heute?

Birthe Pater

Die Schülerinnen und Schüler, die auf dem Podium saßen, hatten alle schon an Erinnerungsprojekten teilgenommen. Zu spüren war: Den Jugendlichen ist es wichtig, selbst etwas zu tun, ins Handeln zu kommen. Sie wünschen sich eine plurale Gedenkkultur, an der sie einen Anteil haben. Sie wollen gehört werden. Und sie suchen nach Bezügen zu ihrer Lebenswelt. Sie wollen wissen: Was hat das mit mir zu tun?

Christoph Mauny. Foto Boris Hajdukovic

Wir verbinden das Digitale mit den originalen Quellen, um den Bezug zur Realität zu veranschaulichen. Es geht darum, das Abstrakte konkret zu machen.

Christoph Mauny, Weimarer Mal- und Zeichenschule

Inwiefern ist das bei der Gedenkveranstaltung gelungen?

Birthe Pater

Ich finde, sie ist ein gutes Beispiel für ein zeitgemäßes, würdiges Gedenken. Zum einen weil viele verschiedene Perspektiven vertreten waren. Unter den Teilnehmenden waren Angehörige der Opfer, die Bundeswehr, die in Ohrdruf einen Truppenübungsplatz hat, Vertreter*innen von Stadt und Land, Ehrenamtliche aus lokalen Projekten sowie internationale Gäste wie der US-Generalkonsul John R. Crosby und eine Vertreterin des United States Holocaust Memorial Museum, die die Perspektive der Befreier vertraten. Es gab klassische Elemente wie eine Kranzniederlegung. Aber eben auch Elemente wie die Generationentandems oder Gespräche von Jugendlichen mit Angehörigen und Befreiern. Vielleicht könnte man sagen: Die Veranstaltung war ein Ausdruck von Demokratiebildung, denn Demokratie erlerne ich durch Handeln. Wir haben den Jugendlichen das Angebot gemacht, zu handeln und Teil von etwas zu sein.

Holger Obbarius. Foto: Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora

Dieser Gedenktag war überaus würdevoll. Besonders beeindruckt hat mich der Moment, in dem die Schüler*innen am Obelisken auf dem Massengrab in der Nähe des sogenannten Nordlagers Rosen niedergelegt haben. Die Zeremonie dauerte eine Weile, aber keiner der Jugendlichen hat auf sein Handy geschaut, niemand hat herumgelärmt oder – geschubst. Es war für alle ein bedeutungsvoller Moment, ganz ohne hängende Köpfe

Holger Obbarius, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora

Christoph Mauniy

Ja, wir blicken mit den Jugendlichen zusammen in den Abgrund, aber sehen keine hängenden Köpfe, weil sich die Jugendlichen als aktiven Teil begreifen. erleben, dass sie mit einfachen Mitteln etwas verändern können.

Und wie geht es mit dem Erinnerungsprojekt Ohrdruf weiter?

Birthe Pater

Die Schüler*innen haben bei der Podiumsdiskussion immer wieder betont, wie wichtig solche Gelegenheiten der Vernetzung für sie sind. Das wollen wir stärken und mit den Jugendlichen weiterarbeiten. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass wir ihnen im nächsten Jahr die Verantwortung für die Gedenkveranstaltung vollständig übergeben

Christoph Mauny

Wir möchten den Jugendlichen noch mehr Gestaltungsraum geben, unsere Formate weiterentwickeln, z.B. mit anderen Materialien wie Textilien, Glas oder Muschelkalk im Jonastal arbeiten, wo die Häftlinge Zwangsarbeit verrichten mussten.

Holger Obbarius

Wir wollen ein weiteres digitales Lernmodul zu einem anderen ehemaligen Außenlager entwickeln und dabei das Feedback zu Suspekt aufnehmen. Eine Kritik war, dass die weibliche Perspektive fehlt. Daher haben wir das damalige Frauenlager Penig in Sachsen ausgewählt und wollen in dem Modul die Geschichte von verfolgten Frauen, aber auch von SS-Aufseherinnen erzählen.