Krieg in der Ukraine: Alte und neue Traumata

Nora Hespers: Das Trauma meines Großvaters wirkt noch heute nach

Die Journalistin Nora Hespers ließ in ihrem Podcast „Die Anachronistin“ die Geschichte ihres Großvaters aufleben, der im Widerstand gegen das NS-Regime gekämpft hatte. Ihr Buch „Mein Opa, sein Widerstand gegen die Nazis und ich“ erschien 2021. Darin beschäftigt sie sich auch mit der Frage, wie der Leidensweg des Opas in der Gegenwart nachwirkt und welche Folgen seine Erlebnisse für sie selbst haben. Wir haben am Anfang des Ukraine-Kriegs mit Nora Hespers über intergenerationale Traumata gesprochen und ihre Gedanken dazu hier zusammengefasst.

Die Traumata, die mein Vater und mein Großvater durch Verfolgung und Krieg erlebt haben, bewirken etwas in mir. Sie beeinflussen mich in meinem Alltag und in meiner Wahrnehmung gegenüber der Welt. Mein Vater hat außergewöhnliche Verhaltensweisen an den Tag gelegt, um mit seinen Traumata fertig zu werden. Er war unerschütterlich, unangreifbar und nicht zu kritisieren. So behauptete er sich selbst. Er aß verschimmelte Lebensmittel und konnte nichts wegwerfen. Die wichtigsten Dinge hatte er stets bei sich. Sein Auto war voll mit Sachen, die für ihn überlebenswichtig waren, von Körperpflegeartikeln bis zu Kochutensilien.

Mir ist es sehr wichtig, keinen Unterschied zu machen zwischen den Geflüchteten aus der Ukraine und Menschen, die aus Syrien oder afrikanischen Ländern oder vor dem Balkankrieg geflüchtet sind.

Nora Hespers

Mich erschüttert dieser neue Krieg sehr – genau wie alle anderen Kriegsereignisse in der letzten Zeit. Der Zusammenbruch in Afghanistan zum Beispiel hat mich emotional auch sehr angegriffen. Durch meine Auseinandersetzung mit der Geschichte meines Großvaters habe ich das Gefühl, etwas besser nachvollziehen zu können, was Menschen in solchen Situationen erleben und empfinden. 

Der Krieg in der Ukraine lässt mich an Flucht denken

Der Ukrainekrieg könnte uns jetzt aber unmittelbar treffen. Zum Beispiel, wenn dort ein Atomkraftwerk beschossen werden soll. Solche Szenarien bewirken bei mir, dass ich vorbereitet sein will, falls man Deutschland verlassen muss. Diese Gedanken waren mir nie ganz fremd – in bedrohlichen Situationen überlege ich immer, wohin ich flüchten könnte und was ich mitnehmen muss. Ob das ein intergenerationales Trauma ist oder einfach durch diese aktuelle Gefahr alle Menschen betrifft, kann ich nicht beurteilen. Aber ich kann mir vorstellen, dass es in Familien mit Kriegserfahrungen ein größeres Bewusstsein dafür gibt, vorsorgen zu müssen.

Gleiche Behandlung für alle Geflüchtete

Mir ist es sehr wichtig, keinen Unterschied zu machen zwischen den Geflüchteten aus der Ukraine und Menschen, die aus Syrien oder afrikanischen Ländern oder vor dem Balkankrieg geflüchtet sind. Wenn Menschen flüchten müssen, geht es nicht darum, wo sie herkommen oder welcher Religion sie angehören. Das ist ein Notzustand, der jede*n treffen kann. Deshalb brauchen auch alle die gleichen Hilfsangebote. Hätte meiner Familie beim Einmarsch der Nazis in die Niederlande niemand geholfen, würde es mich heute nicht geben.

Nationalsozialismus: Keine gemeinsame Erinnerungskultur

In dieser Situation zeigt sich auch wieder deutlich, dass es gar keine gemeinsame europäische Erinnerungskultur rund um den Nationalsozialismus gibt. Jede*r erzählt die Geschichten, die das eigene Land oder die eigenen Leute am besten aussehen lassen. Das gilt auch für uns. Wir erzählen die Widerstandsgeschichten und vergessen darüber die Geschichten der Täter*innen. Wir reden über den Krieg, aber nicht über die Verfolgung. In vielen Ländern, die gegen Deutschland gekämpft haben, gab es überhaupt keine Aufarbeitung. Und vor allem gab es wenig internationalen Austausch.

Kriegshelden oder Friedensprozess?

Wahrscheinlich hätte mein Großvater aufgrund seiner Erfahrungen die Gefahr, die von Russland ausgeht, sehr viel früher erkannt. Er hätte früher zum Widerstand geraten. Ich bin in einer Demokratie aufgewachsen und wünsche mir eine demokratische und diplomatische, gewaltfreie Lösung. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die junge Generation anders antwortet auf diese Konfliktsituation als die ältere. Wir haben verschiedene Erzählungen, die gerade parallel laufen. Die einen heroisieren Kriegs- oder Widerstandshelden, während junge Menschen eher versuchen, den Friedensprozess in den Fokus zu rücken.