Neues Projekt rettet kleine Archive in der Ukraine

Ein Interview mit Hanna Lehun, Arolsen Archives-Mitarbeiterin aus der Ukraine und Projektkoordinatorin von „H-Files“

„Persönliche Geschichten, Erinnerungen und emotionale Erfahrungen spielen eine große Rolle in der Geschichtsschreibung“, sagt Hanna Lehun. Sie ist ukrainische Mitarbeiterin bei den Arolsen Archives und erschließt vor allem ukrainische Dokumente aus dem 2. Weltkrieg. Jetzt organisiert sie gemeinsam mit der Erinnerungsinitiative After Silence ein Projekt zur Digitalisierung kleiner, auch privater Sammlungen vor Ort in den Regionen. Diese gelten durch den russischen Angriffskrieg als extrem gefährdet, erhalten aber keine staatliche Unterstützung. Ein Interview über die Bedeutung von Mikroarchiven und die Archivarbeit im Krieg.

Hanna, was genau macht ihr zusammen mit After Silence im Projekt „H-Files“?

Hanna Lehun

Wir werden in den nächsten zwei Jahren Mikroarchive an 13 verschiedenen Orten in der Ukraine bei der Digitalisierung ihrer Bestände unterstützen. Das sind meist private, kleine Sammlungen oder lokale Museen oder private Initiativen, die zum Beispiel über die jüdische Geschichte vor Ort informieren, also unstrukturierte nicht-institutionelle Archive, auch Familienarchive. In den wieder befreiten Gebieten genauso, wie im Rest des Landes. Wir schicken Scanner, wir schulen beim Umgang mit der Technik, wir zeigen, wie man bei der Digitalisierung am besten vorgeht, damit das Archivgut dann auch für die Öffentlichkeit erschlossen werden kann. Außerdem unterstützen wir Aufrufe, damit Menschen aus der Region ihre privaten Sammlungen, Fotos und Dokumente, die etwas über die Historie unter NS-Besatzung erzählen, im Rahmen des Projekts digitalisieren lassen können.

Warum gerade Mikroarchive? Warum bekommt ihr finanzielle Unterstützung vom International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und der Gerda Henkel Stiftung?

Hanna Lehun

Die kleinen Sammlungen litten oder leiden immer noch sehr stark unter dem russischen Angriffskrieg, haben aber keine institutionelle Unterstützung und nicht das Know-how, um die Digitalisierung zur Rettung der Bestände systematisch angehen zu können. Sie haben oft keine Ordnungsstruktur, keine Inventare, keine Kopien ihrer Bestände an anderen Orten. In der Tat besitzen dann ein, zwei Personen das gesamte Wissen darüber, was sich in den Sammlungen befindet. Das ist bei großen Archives anders. Wir unterstützen diese übrigens auch, aber in anderen Projekten. Aktuell sprechen wir beispielsweise mit dem Nationalmuseum für die Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg über einen Kooperationsvertrag zur Integration ihrer digitalisierten Sammlungen in unsere Datenbank.

Wir hören immer wieder Berichte wie russische Soldaten kamen und spezifisch nach Dokumenten zur Geschichte in den lokalen Regionen suchten und sie zerstörten. Selbst Kisten mit Familiendokumenten und Fotos in privaten Häusern wurden und werden gezielt verbrannt. Ein Beispiel ist das Museum im Dorf Kalynivske, Region Kherson. Es war der jüdischen Geschichte in der Zentralukraine gewidmet, ein sehr spezifisches lokales Museum mit einer umfangreichen Sammlung über den Holocaust mit vielen Fotos. All das wurde zerstört. Davon und von vielen anderen Beispielen haben wir übrigens durch unser vorheriges humanitäres Hilfsprojekt erfahren. Wir konnten vielen Archiven aus der befreiten Region Kherson und einem Teil der Region Zaporizhzhia helfen. Im Anschluss führten die Arolsen Archives eine selbstfinanzierte Studie zur Bedarfsanalyse durch. Dabei stießen wir auf die Not der Mikroarchive.

Läuft das H-File-Projekt schon?

Hanna Lehun

An vier Orten haben wir schon begonnen. Ich war zum Launch im August im kleinen Dorf Lehedsyne in der zentralukrainischen Region Tscherkasy. Dort haben die Menschen in der Umgebung nun fünf Monate Zeit, auch ihre privaten Dokumente, Fotos und privaten Sammlungen zu bringen und einzuscannen. Die Digitalisierung dieser Fotos und Briefe ist sehr wichtig, auch dort, wo nicht so viel Zerstörung droht. Die alten Menschen verlassen die Dörfer, werden in die Städte gebracht, weil niemand mehr da ist, der sie pflegen kann. Zurück bleiben ihre Fotos in den verlassenen Häusern und keiner weiß, was darauf zu sehen ist. Wir von den Arolsen Archives kümmern uns im Projekt um die systematische Katalogisierung, auch Verschlagwortung und internationale Bereitstellung in unserer Datenbank.

Warum ist es so wichtig die Dokumente zu erhalten?

Hanna Lehun

Unser Ziel ist es, die unschätzbaren Dokumente über den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg zu erhalten, zu digitalisieren und das Bewusstsein dafür zu schärfen. Ich würde sagen, es ist vor allem eine Frage der politischen Verantwortung, denn wir sehen, wie Russland bewusst die Geschichte, das kulturelle Erbe und damit die Identität der Menschen im Land zerstört. Die der Ukraine und die der anderen bewahrt gespeichert werden. Das betrifft auch die kleine ethnographische Geschichte, die persönlichen Geschichten von Familien und kleinen Dörfern. Die Erinnerungen und emotionalen Erfahrungen von Menschen spielen für die Geschichtsschreibung eine immer größere Rolle, allgemein und für mich persönlich.

Du hast erwähnt, dass du im letzten August in der Ukraine warst. Wie hast du den Launch vor Ort persönlich erlebt? Was war dein Eindruck, wie geht es den Menschen?

Hanna Lehun

Für mich war das wahrscheinlich eine der intensivsten Reisen, die ich je gemacht habe. Wegen der vielen Bombardierungen, wegen der Zerstörung, die ich gesehen habe, wegen der vielen Stromausfälle. Ich hatte häufig nicht mal ein Netz zum Telefonieren und ständig gab es Alarm wegen drohender Luftangriffe. Der August war laut UN der Monat mit den zweitmeisten Zerstörungen und zivilen Toten seit dem Angriff. Es ist für mich unbegreiflich, wie man unter diesen Bedingungen leben kann. Eigentlich müssen die Menschen die meiste Zeit in Luftschutzkellern verbringen. Es bleibt kaum Zeit zum Leben. Ich konnte sehen, wie das die Menschen stresst, wie sich psychisch darunter leiden. Sie können seit Monaten nicht mehr richtig schlafen. Zudem: Die Mitarbeitenden in den Archiven und viele meiner anderen Bekannten müssen die schwierige persönliche Entscheidung treffen, ob sie in die Armee gehen, um ihr Land zu schützen. Das sind riesige, schreckliche und heftige Entscheidungen. Auch Frauen entscheiden sich dafür. Das finde ich beeindruckend. Es ist aber auch schmerzhaft. Die, die gegangen sind, vermissen sie sehr.

Wie geht es dir und deiner Arbeit?

Hanna Lehun

Ich hatte nicht erwartet, dass ich so viel und so eng mit Menschen in der Ukraine zusammenarbeiten würde. Ich bin froh und dankbar, dass ich dies jetzt tun kann. Das, was die Arolsen Archives tun, ist super wichtig und sehr hilfreich. Ich spüre meine politische Verantwortung, aber gleichzeitig auch Machtlosigkeit. Fast immer, wenn ich in den Archiven in der Ukraine anrufe, weil ich eine Frage zum Beispiel zu einem Scan habe, höre ich persönliche Geschichten und fast jeder kennt mittlerweile jemanden, der gestorben ist: Der Ehemann, der Vater, der Sohn oder auch die Tochter. Dennoch hat das Leben dort nicht aufgehört, nein alles ist sogar intensiver und schneller geworden. Das ist das Beeindruckende an den Digitalisierungsprojekten. Das Scannen läuft ultraschnell und in einem großen Maßstab. Da wird so viel Energie reingesteckt. Das ist so ein so riesiger Unterschied zu dem, was vorher, noch vor fünf Jahren möglich war.

Hanna Lehun

… lebt in Berlin und arbeitet seit 2019 bei den Arolsen Archives als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Archivische Erschließung. Hier kümmert sie sich vor allem um Dokumente, die aus der Zeit der deutschen Besetzung der Ukraine im Zweiten Weltkrieg stammen. Derzeit koordiniert sie zudem in engem Kontakt mit Partnern in der Ukraine wichtige Digitalisierungsprojekte. Hanna hat in Kyjiw, London und Berlin Kulturwissenschaften, Fotografie und Geschichte studiert. Ihre Masterarbeit hat sie über Postkarten und Privatfotos von ukrainischen Zwangsarbeiter*innen geschrieben. Das „H-Files“-Projekt wird von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und der Gerda Henkel Stiftung unterstützt.