Ein innovatives und interaktives Web-Portal über NS-Zwangsarbeit und Migration
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer weltweiten Migrationswelle. Millionen ehemalige Zwangsarbeiter*innen und andere NS-Opfer wollten nicht in ihre Heimatländer zurückkehren. Diesen sogenannten “Displaced Persons” (DPs) und ihren Bemühungen, umzusiedeln oder auszuwandern widmet sich das Web-Portal “Transnational Remembrance of Nazi Forced Labor and Migration”. Hier erfahren Sie mehr über das Projekt und können sich durch gesammelte Statements der Projektpartner über die Zielsetzungen informieren.
„Transnational Remembrance of Nazi Forced Labor and Migration” zeigt die Lebenswege ausgewählter DPs auf einer Weltkarte. Mit einem Klick kommt man zu den Daten ihrer Verfolgung und Migration. Das interaktive Portal bietet mit seiner hohen Informationsdichte viel Potential für Forschung und Bildung: Schüler*innen und Student*innen können nicht nur erkunden, sondern auch mitmachen und daraus eigene Projekte entwickeln.
Es gibt drei Zugänge zu den Lebenswegen der Menschen
- Eine interaktive Weltkarte zeigt die Lebenswege in einer grafischen Darstellung. Über Filterfunktionen lassen sich die biografischen Angaben über einzelne Personen oder ganze Gruppen (z.B. nach Australien ausgewanderte DPs) visualisieren. Nutzer können Orte oder Daten auswählen. Sie werden zu Dokumenten der Arolsen Archives geführt (CM/1-Akten der IRO), die sowohl über die Verfolgung als auch über die Zukunftspläne der DPs informieren.
- Bildhaft aufbereitete, multimediale „Story Maps“ erläutern Biografien bestimmter Gruppen, zum Beispiel die der staatenlosen DPs.
- Hinzu kommen gut aufbereitete Workshop-Materialien, die das Potenzial des Projekts für den Einsatz im Geschichtsunterricht aufzeigen.
„Transnational Remembrance of Nazi Forced Labor and Migration” steht in englischer Sprache zur Verfügung und wurde von den Arolsen Archives mit drei Partnerorganisationen realisiert. Die Finanzierung erfolgte aus Mitteln der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft” (EVZ).
Standpunkte: Über die Ziele, Schwerpunkte und Kooperationen des Projektes
Was genau ist das Ziel des Projektes? Welche Schwerpunkte hatten die beteiligten Partnerinstitutionen der Arolsen Archives? Und was sagen sie über die Zusammenarbeit? Wir haben nachgefragt! Im Interview geben Christoph Rass (Professor am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien in Osnabrück), Ismee Tames (Director of Research am NIOD Institute for War, Holocaust and Genocide Studies) und der Historiker Aliaksandr Dalhouski (Geschichtswerkstatt Leonid Lewin, Minsk) Einblicke in die gemeinsame Arbeit.
»Der Blick zurück in die Geschichte lässt uns hier also auch Gegenwart besser verstehen – und kann uns zeigen, dass wir sehr gut in der Lage sind, Menschen zu helfen und „Flüchtlingskrisen“ humanitär zu bewältigen, wenn es eine breite, internationale und anerkannte Zusammenarbeit gibt.«
Christoph Rass, Professor für historische Migrationsforschung an der Universität Osnabrück
Der Blick zurück lässt uns die Gegenwart besser verstehen
„Durch die Abbildung der Verfolgungswege von Displaced Persons in einer interaktiven Weltkarte wird sichtbar, wie diese Menschen durch Krieg, Verfolgung und Zwangsarbeit aus ihrem Leben gerissen wurden, wie und wo sie überlebt haben und wie sich später versucht haben, einen Ort zum Weiterleben zu finden. Ganz ähnlich ergeht es Flüchtenden und Geflüchteten heute weltweit. Der Blick zurück in die Geschichte lässt uns hier also auch Gegenwart besser verstehen - und kann uns zeigen, dass wir sehr gut in der Lage sind, Menschen zu helfen und "Flüchtlingskrisen" humanitär zu bewältigen, wenn es eine breite, internationale und anerkannte Zusammenarbeit gibt.“
Was war ihr Fokus im Projekt?
„Wir sind als Team aus der Migrationsforschung vom IMIS mit einigen Erfahrungen in der Auswertung von personenbezogenen Massendaten in historischen Kontexten vor allem für die Datenmodellierung und den Aufbau unseres geografischen Informationssystems zuständig gewesen. Das sind zum einen sehr technische Fragen, zum Beispiel zur Visualisierung der Wege und Stationen der Displaced Persons.
Zugleich mussten wir uns damit auseinandersetzen, dass die CM/1-Akten ja stets eine Aushandlung protokollieren zwischen einem „Eligibility Officer“ der IRO, der über die Vergabe des DP-Status entschieden hat, und von Menschen, die den DP-Status erlangen wollten, um ihr Leben neu aufzubauen. Es gibt also viele Ambiguitäten in den Akten, auf die wir reagieren mussten, Angaben zu „Nationalitiät“ oder „Volkszugehörigkeit“ und auch über Verschleppungswege und -umstände sind ja nicht einfach „Wahrheit“, sondern werden immer kontextabhängig erzählt und gedeutet.
Die scheinbare Vereindeutigung durch digitale Visualisierungen müssen wir also immer wieder „brechen“ um solche Unschärfen und den Prozess der Aushandlung zwischen den Hilfesuchenden und den Institutionen, an die sie sich gewandt haben, sichtbar zu machen. Deswegen ist auch immer der unmittelbare digitale Zugang zu den Akten in den Arolsen Archives so wichtig. Das Portal ist ein Schlüssel zu den Akten und zu vielen Schicksalen, deren Vielschichtigkeit zeigt aber oft erst die eingehende Befassung mit den Dokumenten selbst.“
Wie war Ihr Eindruck von der Projektarbeit bzw. der Kooperation der Institutionen?
„Die Kooperation zwischen den Arolsen Archives, dem NIOD, der Geschichtswerkstatt und uns war eine der ganz besonderen Erfahrungen im Projekt. Spezialist*innen aus ganz unterschiedlichen Arbeits- und Forschungsfeldern sind zusammengekommen und haben in intensiven Diskussionen zunächst einmal eine Verständigung zwischen den unterschiedlichen Herangehensweisen und Lesarten der Quellen hergestellt, um dann zwischen Wissenschaft, Archiv und Bildungsarbeit ein gutes Konzept für das Portal zu entwickeln und umzusetzen. Wir haben dabei international und interdisziplinär kooperiert und viele wichtige Erfahrungen gesammelt. Parallel zum Projekt haben wir in Osnabrück zum Beispiel eine Reihe von Seminaren angeboten, um mit Studierenden intensiv in den Arolsen Archives zu arbeiten. Gleichzeitig haben wir nun schon drei oder vier Konferenzen in Bad Arolsen, Wien, Osnabrück und Amsterdam organisiert, bei denen wir Fragen mit vielen weiteren Kolleg/innen diskutiert haben, die uns rund um das Projekt bewegt haben. Die Arolsen Archives sind dabei für uns als Archiv und als Partnerorganisation in der Forschung zu einem ganz zentralen Bezugspunkt geworden. Die Bestände des Archivs bieten der Historischen Migrationsforschung und gerade auch Ansätzen der Digital Humanities die Möglichkeit auf innovative und sehr stark weiterführende Art Fragen zur Flucht- und Gewaltmigration im 20. Jahrhundert und zum Umgang mit deren Folgeprozessen ganz grundlegend zu bearbeiten.“
»Linien auf einer Karte können so gerade und klar aussehen. Sie spiegeln jedoch vielschichtige Erfahrungen von Krieg, Vertreibung und Umsiedlung wider. Das ist was ich in den Story Maps hervorheben wollte.«
Ismee Tames, Director of Research am NIOD Institute of War, Holocaust and Genocide Studies
Linien auf einer Karte können so gerade und klar aussehen
„Ich konzentrierte mich auf die Story Maps und darauf, wie sie mit den Samples verknüpft werden konnten. Sie unterstützen die User*innen dabei, die Verfolgungswege, die sie auf der Karte sehen, zu verstehen. Linien auf einer Karte können so gerade und klar aussehen. Sie spiegeln jedoch vielschichtige Erfahrungen von Krieg, Vertreibung und Umsiedlung wider. Das ist was ich in den Story Maps hervorheben wollte.“
Was ist das Ziel des Projektes? Und was ist neu daran?
„Für mich war das Ziel und die Herausforderung dieses Projekts, wie wir einen „Mixed-Methods“-Ansatz weiterentwickeln können. Wir kombinierten quantitative und qualitative, sowie analoge und digitale Ansätze um besser zu verstehen, was es hieß als „Displaced Person“ in der Nachkriegszeit zu leben. Deshalb haben wir sowohl eine interaktive Karte erstellt, als auch einige Story Maps, die Schlüsselthemen rund um das Phänomen des „Displacement“ untersuchen.“
Wie war Ihr Eindruck von der Projektarbeit bzw. der Kooperation der Institutionen?
„Obwohl alle Institutionen ihre eigenen Aufgaben und Fachkenntnisse hatten, verstand ich dieses Projekt viel mehr als ein Projekt der Zusammenarbeit: Wir hatten alle das gleiche Ziel und eine ähnliche Vorstellung davon, wie wir das Thema der massenhaften Vertreibungen mithilfe von digitalen Quellen erschließen wollten. Das half uns die verschiedenen Aufgaben zu verknüpfen und erleichterte die Zusammenarbeit.“
»Auf Grundlage des Workshop-Konzepts sollen Lehrer im postsowjetischen Raum zukünftig die Biographien von Displaced Persons mit Hilfe des Portals kennenlernen und sich gegebenenfalls kritisch mit diesen auseinandersetzen. Dabei werden sie die Möglichkeit haben eigenen Content beitragen und für die historische Bildung zu nutzen.«
Aliaksandr Dalhouski, Historiker an der Geschichtswerkstatt Leonid Lewin in Minsk
Im Rahmen des Projektes fand eine transnationale Kooperation statt
„Im Rahmen des Projekts fand eine transnationale Kooperation zwischen niederländischen, deutschen und belarussischen Institutionen statt. Diese Zusammenarbeit eröffnete uns neue Kontakte und neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit.“
Was ist das Ziel des Projektes? Und was ist neu daran?
„Auf Grundlage dieses Konzepts sollen Lehrer im postsowjetischen Raum zukünftig die Biographien von Displaced Persons mit Hilfe des Portals kennenlernen und sich gegebenenfalls kritisch mit diesen auseinandersetzen. Dabei werden sie die Möglichkeit haben eigenen Content beitragen und für die historische Bildung zu nutzen. In Belarus haben sich Lehrer Minsker Universitäten und Schulen bereits bei der Vorbereitung des Workshop-Konzepts und Portals „Transnational remembrance of forced labor and migration: displaced persons from Eastern Europe“ zum ersten Mal mit biographischen Porträts von Displaced Persons aktiv auseinandergesetzt.“
Was war ihr Schwerpunkt in dem Projekt?
„Der Fokus der Geschichtswerkstatt „Leonid Lewin“ lag darauf das Workshop-Konzept „Transnational remembrance of forced labor and migration: displaced persons from Eastern Europe“ für Multiplikator/innen im postsowjetischen Raum zu erstellen.“
Förderung durch die EVZ-Stiftung
Agnieszka Pustola von der EVZ-Stiftung begleitete das Projekt bei der Umsetzung. Wir haben nachgefragt, was das Projekt ausmacht und warum sich die Stiftung dazu entschieden hat, das Vorhaben zu fördern.
Frau Pustola, was war ihrer Ansicht das Ziel des Projektes?
„Mit dem Projekt soll ein multiperspektivischer, transnationaler Gedenk- und Lernort im Internet geschaffen werden. Er dient der aktiven Auseinandersetzung mit der Gruppe derjenigen ehemaligen Zwangsarbeiter*innen, die nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehrten, sondern als DPs in verschiedene europäische und außereuropäische Staaten emigrierten oder in den Nachfolgestaaten NS-Deutschlands blieben. In der nationalstaatlich orientierten Erinnerungskultur ist diese Gruppe bis heute randständig geblieben, obwohl sie für eine historische Erfahrung steht, die angesichts der aktuellen Flüchtlingsthematik in Deutschland und seinen europäischen Nachbarländern nicht vergessen, sondern im öffentlichen Bewusstsein verankert werden sollte.“
Warum hat sich die EVZ Stiftung dazu entschieden das Projekt zu fördern?
„Das Projekt ist innovativ und nachhaltig. Es trifft einen Bedarf im Themenfeld ‚Kritische Auseinandersetzung mit Geschichte‘ mit Verbindung zu aktuellen Debatten im Bereich Migration und Flucht. Relevant ist auch die öffentliche Wirksamkeit des Projektes. Die Ziele des Projektes entsprechen den Zielen der Stiftung EVZ, insbesondere den Zielen des Förderprogramms ‚Zwangsarbeit und vergessene Opfer‘“.
Die Ergebnisse des Projektes sind seit Dezember 2019 in dem Web-Portal „Transnational Remembrance of Nazi forced labor and migration“ zu begutachten. Sie stellt erstmalig Migrationswege von Einzelpersonen und –gruppen in einer interaktiven Karte dar und beschreibt in Story Maps Flucht- und Migrationserfahrungen. Um das Portal weiterzuentwickeln, bietet das pädagogische Material nun die Möglichkeit für Workshops, Schüler*innen und Student*innen, weitere Story Maps zu entwickeln.