Vorwort - Neustart in die Zukunft

2019 war ein Jahr voller Meilensteine. Unsere Mitarbeiter haben mit den internationalen Partnern so viele Projekte umgesetzt wie nie zuvor – vom weltweit beachteten neuen Online-Archiv über die zahlreichen #StolenMemory-Ausstellungen in ganz Europa bis hin zu unserer ersten Dauerausstellung. Wir sind jetzt ein lebendiges Archiv, das junge Internet-Nutzer auf der ganzen Welt erreicht. Und wir erschaffen ein Denkmal aus historischen Dokumenten – für die Wahrheit, gegen Geschichtsverdrängung und Fake News.

Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives

Rechte Ideologien bedrohen die Freiheit

Das Jahr 2019 hat uns auch gezeigt, wie wichtig die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus ist. Es war ein hartes Jahr für die Demokratie und für die Toleranz unter den Menschen. Die Anschläge in Halle und Christchurch, die Erfolge der rechten und antidemokratischen Parteien auf der ganzen Welt, das Rekordhoch rechtsextremer Straftaten hierzulande und schließlich der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten fast direkt vor unserer Haustür: Rechte Ideologien sind offenbar wieder salonfähig, bedrohen die Freiheit unserer Gesellschaft und führten zuletzt häufig zu rechtsextremem Terror.

Dokumente als Zeugen sprechen lassen

Geschichtsverleugnung, Geschichtsvergessenheit und Unwissen gehören zu den Ursprüngen dieser gefährlichen Entwicklung. Als das weltweit umfassendste Archiv über NS-Verfolgte ist es deshalb unsere Pflicht, die Bildungsarbeit über die Schicksale der Opfer weiter auszubauen. Wir wollen die Dokumente aus unserem Archiv als Zeugen „sprechen“ lassen. Sie erinnern daran, wie rassistische Parolen und völkischer Irrsinn zu einem Zivilisationsbruch mit Millionen Toten und Verfolgten geführt haben. Dazu wollen wir Stellung beziehen und politische Debatten mitgestalten.

Neue Ausrichtung auf junge Menschen

Genau darauf zielten 2019 all unsere Projekte und Aktivitäten ab – zuallererst natürlich unsere Umbenennung. Wir sind jetzt die „Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution“. Dieser Name hat eine authentische Geschichte, bezieht sich auf den Kern unserer Aufgabe, ist leicht zu merken und international. Er unterstreicht unsere neue Ausrichtung auf eine junge, weltweite Zielgruppe, die selbst keine Berührungspunkte mit NS-Verfolgung und Holocaust hat. Diese „Digital Natives“ erreichen wir mit leicht nutzbaren Internet-Angeboten wie unserem neuen Online-Archiv. Ende 2019 hatten schon rund 360 000 Nutzer in den Millionen dort abrufbaren Dokumenten recherchiert. Diesen Erfolg verdanken wir einer zukunftsweisenden Kooperation, denn das Portal baut auf der hochmodernen Technologie und der einzigartigen Datenbank zur erweiterten Ort- und Namensuche unseres Partners Yad Vashem auf.

Mit starken Partnern in die Zukunft

Viele Millionen Dokumente im Internet veröffentlichen, sie durchsuchbar und mit Kontextinformationen verständlich machen und damit ein „digitales Denkmal“ schaffen: Diese Aufgabe wird uns noch über Jahre beschäftigen. Sie ist so umfangreich, dass wir dabei auf starke Partner angewiesen sind. Auch die weltgrößte Ahnenforschungs-Plattform Ancestry hat uns Ende 2019 noch einmal tatkräftig unterstützt, Dokumente zu indizieren und online zu stellen. Dass wir in diesem Jahr so gut vorangekommen sind, ist natürlich auch der Verdienst unserer engagierten Mitarbeiter. Wir haben 2019 junge Spezialisten für IT, historische Forschung, Bildungsvermittlung, Kommunikation, Archivierung und Indizierung eingestellt, die gemeinsam mit unseren erfahrenen, langjährigen Mitarbeitern einiges auf die Beine gestellt haben. 

Ausstellungen in ganz Europa

Als wichtigen Meilenstein möchte ich unsere erste Dauerausstellung hervorheben, die nun in Bad Arolsen anschaulich und interaktiv durch die Geschichte der Institution führt. Besonders stolz bin ich auch auf die zahlreichen weiteren #StolenMemory-Ausstellungen, die wir 2019 in Europa eröffnen konnten. Sie helfen uns, noch mehr Familienangehörige von ehemaligen KZ-Angehörigen zu finden, deren persönliche Gegenstände bei uns verwahrt sind – insbesondere in Polen, wo wir vier Ausstellungen gezeigt haben. Dort hat die NS-Verfolgung besonders viele Menschen getroffen. Die folgenden Generationen interessieren sich jetzt für die Aufarbeitung dieser Schicksale. Uns haben 2019 wieder Anfragen zu fast 24 000 Menschen erreicht – über 70 Prozent davon kommen von Familienangehörigen der Opfer.

Ich freue mich darauf, unsere neuen Bildungs- und Aufklärungsangebote nun gemeinsam weiterzuführen und damit Schritt für Schritt eine immer größere Öffentlichkeit zu erreichen!

Rebranding

Neuer Name – Neue Aufgaben

Der frühere „International Tracing Service“ heißt nun „Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution“. Wir haben aber nicht nur unseren Namen geändert: Mit einem neuen, modernen Auftritt sprechen die Arolsen Archives jetzt weltweit mehr Menschen an.

Neuer Name - Neue Aufgaben

Wir wollen uns stärker in gesellschaftliche Diskussionen rund um Antisemitismus, Diskriminierung und Rassismus einschalten. Oder auch neue Formen der Geschichtsvermittlung entwickeln: Die Arolsen Archives sind schon seit vielen Jahren nicht mehr „nur“ das umfassendste Archiv über die NS-Verfolgung. „Heute sehen wir uns als internationales Dokumentationszentrum, das einen wichtigen Bildungs- und Forschungsauftrag wahrnimmt“, sagt Direktorin Floriane Azoulay. „Wir wollen die Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes mit einer Vielzahl an Kommunikationsmaßnahmen wachhalten und junge Menschen mit modernen Bildungsangeboten erreichen.“

Viele Aufgaben hinzugekommen

Deshalb war es längst an der Zeit, auch über einen kompletten Neuauftritt für die Organisation nachzudenken – inklusive neuem Namen. Der von den Alliierten vergebene Name „International Tracing Service“ beschrieb die ursprünglichen Aufgaben, die wir auch heute noch wahrnehmen: Die Schicksale von Opfern nationalsozialistischer Verbrechen zu klären. Aber viele der Aufgaben und Projekte, die in den letzten zehn Jahren hinzukamen, spiegelte er nicht mehr wider.

„Zudem haben wir immer wieder die Erfahrung gemacht, dass der historische Name den Menschen nichts sagt und auch nicht im Gedächtnis bleibt“, erläutert Floriane Azoulay die Gründe für die Umbenennung. Dass die Institution in Israel und in den USA von Überlebenden der NS-Verfolgung und Angehörigen immer schon „Arolsen“ genannt wurde, war ein wichtiges Argument für den neuen Namen: Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution.

Offene Institution mit digitaler Zukunft

Ein umfassendes „Rebranding“ macht allerdings nicht Halt bei einem neuen Namen. Wir haben den kompletten Auftritt unserer Organisation überarbeitet und eine moderne Website aufgebaut. Schließlich ging es darum, einer neuen Identität Ausdruck zu geben – für eine authentische, empathische, offene Institution mit digitaler Zukunft. Viele Mitarbeiter haben dafür über Monate gemeinsam mit internationalen Partnern an der Website getüftelt, ein neues Logo entwickelt, Flyer und Informationsbroschüren gestaltet, Veranstaltungen organisiert und Millionen von Dokumenten in das neue, nutzerfreundliche Online-Archiv eingestellt. Sie alle haben auf ein Ziel hingearbeitet: Eine moderne, zukunftsorientierte Organisation zu gestalten, die jungen Menschen auf der ganzen Welt die Schicksale der NS-Opfer näherbringt.

Online-Archiv

Internet-Recherche für alle

Insgesamt 14 Millionen Dokumente mit Informationen über 17 Millionen Namen haben wir 2019 in unserem neuen, modernen Online-Archiv veröffentlicht. Die Nutzerzahlen zeigen: Das Interesse an den Schicksalen der NS-Verfolgten ist ungebrochen.

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Jeder Name zählt

„Wir sprechen jetzt junge Menschen an, die selbst keine Berührungspunkte mit NS-Verfolgung und Holocaust haben. Für diese Generation entwickeln wir lebendige, zugängliche Angebote – online wie offline.“

Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives

Dauerausstellung

Ein Denkmal aus Papier

Unsere erste Dauerausstellung führt durch die Geschichte und die Gegenwart der Arolsen Archives und zeigt anschaulich, wie sich unsere Aufgaben in sieben Jahrzehnten verändert haben. Sie können uns sogar virtuell besuchen!

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#StolenMemory

#StolenMemory geht neue Wege

Nach Griechenland und Luxemburg fand 2019 die erste #StolenMemory Plakat-Ausstellung in Polen statt. Neben insgesamt fünf internationalen Ausstellungen wurde die Kampagne zentraler Bestandteil eines deutsch-polnischen Bildungsprojekts.

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Gedenkstättenseminar

Neue Formen der Erinnerungsarbeit

Begegnungen mit virtuellen Zeitzeug*innen, Augmented-Reality in Gedenkstätten, KZ-Dokumente bei Twitter… Darum ging es beim 65. Gedenkstättenseminar „Herausforderungen des Digitalen für Gedenkstätten und Dokumentationszentren“ bei den Arolsen Archives.

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Interview

Die Zeit rennt

Die meisten Anfragen erreichen uns inzwischen von den Nachkommen der NS-Verfolgten. Wonach suchen diese Familien? Ein Interview mit Anna Meier-Osiński, Leiterin der Abteilung Tracing, über die Fragen der jüngeren Generationen an die Arolsen Archives.

Die Zeit rennt

Nur noch selten suchen überlebende NS-Opfer bei den Arolsen Archives nach Dokumenten über ihre Vergangenheit. Die meisten Anfragen erreichen uns von ihren Nachkommen – den Kindern, Enkeln, oft sogar schon Urenkeln von Verfolgten. Wonach suchen die Angehörigen? Wie reagieren sie auf die neuen Informationen über das Schicksal ihrer Verwandten? Und warum müssen wir bei diesen Anfragen schnell sein? Ein Gespräch mit Anna Meier-Osiński, Leiterin der Abteilung Tracing, über die Suche der nachfolgenden Generationen.

Warum beschäftigt die Nachkommen das Schicksal ihrer verfolgten Verwandten jetzt noch? Müsste da nicht schon längst jede Geschichte erzählt sein?

Nein, das sieht man auch schon an den Dokumenten in unserem Archiv. Wir haben Informationen über 17,5 Millionen Menschen. Bisher sind Anfragen zu drei Millionen eingegangen. Es gibt also noch viele offene Fragen, selbst wenn man bedenkt, dass oft ganze Familien ermordet wurden und deshalb auch niemand mehr suchen kann. 2019 haben wir 16 000 Anfragen von den nachfolgenden Generationen erhalten. Gerade in Osteuropa und Russland gibt es noch Millionen Familien, die nicht wissen, was mit ihren Angehörigen damals passiert ist. In Polen war fast jede Familie von der NS-Verfolgung betroffen. Kinder und Enkelkinder sind jetzt auf der Suche nach Antworten auf Fragen, die sie ihren Eltern oder Großeltern nie stellen konnten.

Wie kommen die Menschen bei ihrer Recherche auf die Arolsen Archives?

Viele der Überlebenden haben in ihrer Familie nicht über ihr Schicksal gesprochen. Aber sie haben sich oft um Bescheinigungen über ihre Haft bemüht, um Entschädigungen zu erhalten. Solche Dokumente haben die Arolsen Archives und die Vorgängerinstitutionen ab 1945 ausgestellt. Wenn die Kinder oder Enkel so etwas nach dem Tod der Menschen im Nachlass finden, fragen sie bei uns an und möchten wissen, worum es damals ging. Viele Menschen recherchieren auch selbst nach dem Schicksal von Verwandten, von denen sie vielleicht nur den Namen kennen und wissen, dass sie von den Nazis deportiert wurden. Institutionen auf der ganzen Welt verweisen die Suchenden dann an uns. Oder die Menschen stoßen über ihre eigene Internet-Recherche auf die Arolsen Archives. Auch große Ahnenforschungs-Plattformen wie Ancestry und My Heritage weisen auf uns hin.

Was können diese Anfragesteller dann hier erfahren über ihre Verwandten?

Sie sind häufig sehr erstaunt über die Fülle an Informationen, die hier verwahrt sind. Manchmal können wir sogar lückenlos den Verfolgungsweg rekonstruieren. Oft sind es auch nur einzelne Stationen. Aber auch das sind wichtige Informationen, wenn man nur wenig weiß. Die Nachkommen sehen ihre Verwandten dann oft mit ganz anderen Augen. Manchmal finden Familien durch unsere Dokumente die Gewissheit, nach der sie über Jahrzehnte gesucht haben. 2019 hatten wir den besonders tragischen Fall einer polnischen Familie, in der lange Zeit der Verdacht herrschte, dass der deportierte Großvater sich in Deutschland ein neues Leben aufgebaut hätte. Seine Frau und der Sohn haben ihre Zweifel mit ins Grab genommen. Erst die Enkelin erfuhr von uns, dass der Mann bei einem schrecklichen Massaker der Nazis ermordet wurde. Sie konnte dann seine Grabstätte in Sachsen-Anhalt besuchen. Diese Geschichte zeigt, wie die Zeit rennt bei solchen Anfragen. Ein paar Jahre früher hätten wir seine Frau und den Sohn noch erreicht.

Suchen die Familien immer nach Dokumenten, oder gibt es auch andere Fragen?

Es gibt auch Familien, die nach Angehörigen suchen. Das können Halbgeschwister sein, Cousins und Cousinen oder auch weiter entfernte Verwandte. Durch die NS-Verbrechen wurden hunderttausende Familien auseinandergerissen. Manchmal finden Familien erst heute Hinweise darauf, dass es weitere Überlebende gegeben hat. Auch bei solchen Fragen helfen wir. Wir können auch helfen bei der Suche nach Grabstätten, zum Beispiel von Zwangsarbeitern oder KZ-Häftlingen.

Wie geht es dann weiter mit den aufgeklärten Fällen?

Für viele Angehörige ist unsere Dokumentation nur der erste Schritt. Sie forschen dann weiter mit den neuen Anhaltspunkten, die sie von uns bekommen haben. Familien kommen auch zu uns nach Bad Arolsen, um die Originaldokumente einzusehen, denn die sind häufig die letzte Spur des Verwandten. Die Menschen nehmen dafür weite Reisen in Kauf, zum Beispiel aus den USA oder Australien. Oft besuchen die Angehörigen dann auch die Gedenkstätten an Orten der ehemaligen Konzentrationslager. Und sie nehmen ihre Kinder mit. Das NS-Schicksal wird in der Familie thematisiert und weitergetragen – obwohl viele der Angehörigen zunächst dachten, sie wären nicht betroffen oder sie könnten ohnehin nichts herausfinden.

Wie verändert sich die Arbeit der Arolsen Archives durch diese zahlreichen Anfragen der nachfolgenden Generationen? Was unterscheidet sie von den früheren Anfragen der Betroffenen?

Die Überlebenden selbst haben sich in der Nachkriegszeit um Entschädigung bemüht. Für sie war wichtig, von uns eine Haftbescheinigung zu bekommen. Diesen Menschen musste man nicht erklären, was ein Konzentrationslager ist oder was Zwangsarbeit bedeutet, weil sie dies alles selbst durchleben mussten. Bei den Nachkommen sind die Voraussetzungen unterschiedlich. Die allermeisten Anfragen kommen heute aus Polen, Russland, USA, Australien, Frankreich und Israel. Da ist jeder anders sozialisiert und hat mehr oder weniger Wissen über den Zweiten Weltkrieg in Europa. In Australien zum Beispiel ist das Interesse an der Ahnenforschung hoch, aber das Wissen über diese Zeit sehr gering. Und die wenigsten kennen Details aus den KZs.

Also müssen wir jetzt mehr aufklären?

Genau, denn das Dokument ist „nur“ der Schlüssel zur Vergangenheit, die die Angehörigen erforschen wollen. Dort sieht man, dass der Großvater von 1942 bis 1944 im KZ Dachau gefangen war. Seine Enkel interessiert aber, was das praktisch bedeutet: Wie sah sein Tag aus, welche Arbeit musste er dort leisten, was gab es zu essen? Das Erleben und das Schicksal der Person wird nur durch Kontextinformationen deutlich, die wir jetzt mit den Dokumentenkopien mitliefern. Mit neuen digitalen Angeboten wie unserem eGuide können die Menschen die Dokumente auch selbst entschlüsseln. Solche Möglichkeiten wollen wir in den nächsten Jahren noch viel stärker ausbauen.

Anna Meier-Osiński war bis Anfang 2020 Leiterin der Abteilung Tracing. Seit Februar 2020 arbeitet sie als Outreachmanagerin für die Region Zentral (Polen) und Osteuropa und baut eine Repräsentation der Arolsen Archives in Warschau auf.

Digitale Strategie

Hundert Prozent digital

Dank unserer neuen digitalen Strategie können wir nicht nur schneller Anfragen bearbeiten. Verbesserte Online-Angebote helfen uns auch, die Schicksale der Verfolgten in die Gegenwart zu holen.

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