Über die Hinrichtungsakten

Dokumente des Unrechts und der Unmenschlichkeit 

Brauner Umschlag auf dem ein handgeschriebener Zettel liegt
© Elisabeth Miletic, Bayerisches Hauptstaatsarchiv

Das Staatsarchiv München verwahrt 844 Hinrichtungsakten, die auf wenigen Seiten die bürokratisch kalte Organisation der Hinrichtungen dokumentieren. Zugleich enthalten die Akten Dokumente, die zeigen, wie sich die zum Tode Verurteilten auf das Sterben vorbereiten, wie sie sich vom Leben und von ihren Liebsten verabschieden. Selten sind die Unmenschlichkeit des Staates und das Menschsein seiner Opfer enger miteinander verzahnt als in diesen Akten.

Meist am selben Tag, an dem ein Gericht einen Menschen zum Tode verurteilte, ordnete die Staatsanwaltschaft seine Überstellung nach München-Stadelheim an. Die Verurteilten hatten noch Gelegenheit, kurz mit ihrem Strafverteidiger oder ihrer Strafverteidigerin zu sprechen, um ein Gnadengesuch aufzusetzen. Anschließend wurden sie vom jeweiligen Gerichtsort ‒ etwa von Nürnberg, Innsbruck, Bayreuth oder aus dem Münchener Justizpalast ‒ per Zug oder im Gefangenenwagen in die „zentrale Hinrichtungsstätte“ transportiert.

Zusammen mit den Verurteilten wurden auch Dokumente aus dem Gericht überstellt, beispielsweise eine Abschrift des Urteils oder des Gnadengesuchs. Diese Unterlagen bildeten den Grundstock für die vermutlich damals schon so genannte „Hinrichtungsakte“ ‒ eine neue Gefangenenakte, die bei Ankunft in Stadelheim angelegt wurde. Sie enthielt auch den Transportschein und den Aufnahmebogen.

Ein handgeschriebener Brief. Im Kopf findet sich der Hinweis auf das Strafvollzugsgefängnis München.
Brief von Charlotte Schulz an ihre Mutter vom 11. Mai 1940

Charlotte Schulz

Die 20-jährige Charlotte Schulz, geboren am 24. Oktober 1919 in Schlesien, bestritt ihren Lebensunterhalt mit Prostitution. 1939 wird sie in Nürnberg festgenommen. Ihr wird vorgeworfen, gemeinsam mit ihrem Verlobten Karl Fenn und anderen Mittäter*innen „gemeinschaftliche Diebstähle“ begangen zu haben. Am 23. Februar 1940 wird sie vom Sondergericht „als gefährliche Gewohnheitsverbrecherin“ zum Tode verurteilt.

Aus der Haft in Stadelheim schreibt sie einen verzweifelten Brief an ihre Mutter, in dem sie über die „nervenaufreibende Wartezeit“ klagt und fleht: „Liebe Mutti, helf mir doch bitte. Ich habe jetzt schon über eine Woche furchtbare Unterleibsschmerzen und kann manche Nacht nicht schlafen. Meine Regel ist jetzt schon über 10 Wochen ausgeblieben […]. Am Donnerstag habe ich mich zum Arzt gemeldet, aber man hat sich gar nicht darum gestört.“ Sechs Tage später, am 17. Mai 1940, wird Charlotte hingerichtet. Ihre Leiche wird der Anatomie in Erlangen übergeben.

Der Brief von Charlotte Schulz befindet sich in ihrer Gefangenenakte, zusammen mit den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft und dem Urteil des Sondergerichts.
Der Brief von Charlotte Schulz befindet sich in ihrer Gefangenenakte, zusammen mit den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft und dem Urteil des Sondergerichts.

Schriftliche Spuren in den Akten

In den folgenden Wochen und Monaten hinterließ jede Aktion der Behörden oder der Gefangenen schriftliche Spuren in den Akten: ein Brief an die Familie ebenso wie ein Besuch von Angehörigen oder beim Arzt, ein Flucht- oder Selbstmordversuch, eine Hausstrafe, eine Eingabe und andere bürokratische Vorgänge. In einigen Akten befinden sich Kopien verschickter Abschiedsbriefe ‒ oder eben Abschiedsbriefe, die nie abgesendet wurden.

Da die Gefangenen unterschiedlich lange im Todestrakt ausharren mussten, sind die Akten mehr oder weniger umfangreich. Manche Gefangenen warteten ein halbes Jahr auf ihre Hinrichtung, andere wurden zu „Blitzhinrichtungen“ – so die Bezeichnung der NS-Justiz – nach Stadelheim gebracht und noch am selben Tag getötet. Die meisten Todeskandidaten mussten sechs bis acht Wochen auf ihre Hinrichtung warten. In dieser Zeit hofften sie auf eine günstige Beantwortung ihres Gnadengesuchs, korrespondierten mit ihren Anwälten oder schrieben und empfingen einige wenige Briefen, die ihnen der Staatsanwalt gestattete.
Deutsche Häftlinge, die das System der Strafvollstreckung verstanden und sich besser zu verständigen wussten, hinterließen weitaus mehr schriftliche Spuren als beispielsweise polnische Zwangsarbeiter, die in der Todeszelle neben allen Qualen auch sprachlich isoliert waren.

Victor Duoillet

Victor Duoillet, geboren am 28. Juni 1919, war gelernter Fleischer oder Bäcker, die Angaben in seiner Akte sind widersprüchlich. Er wuchs als Waisenkind in Paris auf und gehörte der französischen Armee an. 1943 kommt der 24-Jährige zum Arbeitseinsatz nach Nürnberg. Noch im selben Jahr gerät er in Haft. Zusammen mit mehreren Bekannten soll er Hasen und Geflügel aus Kleingärten gestohlen haben – während der Verdunkelung, was besonders streng geahndet wurde. Dafür verurteilt ihn das Gericht zum Tode, wie auch seinen Landsmann René Blondel. Vier Wochen nach ihrer Einlieferung, am 28. Oktober 1943, werden beide in Stadelheim hingerichtet. Seinen wütenden Abschiedsbrief richtet Duoillet im Namen beider an den Herrn „Diktator/Direktor“:

„aus dem gefängnis sprechen hier franzosen zu ihnen
in ihrem Land tötet man menschen, nur weil sie stehlen
aber die gaullistische Armee wird siegen – und uns rächen.
sie können diesen Brief an Hitler schicken und ihm sagen:
alle franzosen scheißen auf euch
es lebe unser vaterland, Frankreich […] Vive de Gaulle“

Handschriftlicher Brief. Im Kopf findet sich der Hinweis auf Strafvollzugsbehörde München.
Der Brief ist auf Französisch verfasst.
Briefumschlag auf Akten. Adressiert an die Gefängnisleitung
Brief von Victor Duoillet vom 28.Oktober 1943, der Adressat ist die Gefängnisleitung.

Was mit den Hingerichteten geschah

Die Hinrichtung selbst ist in der Akte nicht dokumentiert, das Vollstreckungsprotokoll befindet sich in der Regel in der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft. Wohl aber sind der genaue Zeitpunkt der Hinrichtung und der Verbleib des Körpers vermerkt. Die meisten Leichen wurden den Anatomien der Universitäten München, Erlangen, Innsbruck oder Würzburg übergeben. Andere wurden auf dem in unmittelbarer Nachbarschaft Stadelheims gelegenen Friedhof Perlacher Forst bestattet. Vorausgesetzt, die Angehörigen hatten die Bestattung schriftlich beantragt und kamen für die Kosten auf. In Einzelfällen wurde der Leichnam auch auf anderen Friedhöfen bestattet.

Großen Raum in der Hinrichtungsakte nimmt die Auflistung der Effekten und der Umgang mit diesen persönlichen Gegenständen der Gefangenen ein. Besonders traurig sind die Zettel, auf denen die zum Tode Verurteilten ‒ oft in brüchiger Schrift ‒ die Adresse ihrer Liebsten notierten, an die ihre Habseligkeiten geschickt werden sollten. Manchmal entschied der Staatsanwalt jedoch, dass der Nachlass das Porto nicht wert sei.  

Handschriftlicher Brief. Im Kopf erkennt man den Hinweis Strafvollzugsanstalt München
Brief von Josef Förster vom 26. August 1943

Josef Förster

Josef Förster, geboren am 7. Oktober 1900 in Warnsdorf (Nordböhmen), bezeichnete sich als Eisenflechter. Er und seine Frau Ida gehen keiner geregelten Arbeit nach, sondern halten sich mit Betrügereien und Diebstählen über Wasser, meist Kleidung, Schmuck, Möbel oder Lebensmittel. 1943 verurteilt sie das Gericht wegen „fortgesetzten gemeinschaftlichen Diebstahls“ zum Tode. Beide werden in München Stadelheim hingerichtet.

Nachdem ihm der Staatsanwalt am 26. August 1943 um 11 Uhr seine bevorstehende Hinrichtung verkündet, schreibt Josef einen bewegenden Abschiedsbrief an Ida:
„Meine liebe Frau!
Bin soeben verständigt worden, dass ich heute um 6.00 Uhr abends hingerichtet werde. […] Solltest Du diese Zeilen erhalten, so vergiss auf alles was ich Dir alles böse zugefügt habe. Auch ich verzeihe Dir, was Du an mir verbrochen hast. […] Mein Muckel lebe wohl und sei nicht traurig. Vielleicht sehen wir uns im Jenseits. Ich habe Dich geliebt so lange Zeit und werde Dich lieben in Ewigkeit. Ich sehe dem Tod ruhig entgegen. Dein Mann, Dein Peppi“. 

Briefumschlag auf Akten
Josef Förster sollte nie erfahren, dass seine Frau am selben Tag wie er sterben muss, und zwar wenige Minuten vor ihm unter derselben Guillotine, mit der auch er enthauptet wird. Die Körper des Ehepaares werden dem Anatomischen Institut der Universität München übergeben.

Wo sind die fehlenden Hinrichtungsakten?

Jeder zum Tode Verurteilte wurde bei seiner Ankunft in Stadelheim im „Hinrichtungs-Tagebuch“ eingetragen. Auf dieser Liste sind alle 1.381 Todeskandidaten vermerkt, die zwischen September 1934 und April 1945 offiziell in Stadelheim hingerichtet wurden. Im Staatsarchiv München sind jedoch nur 844 Hinrichtungsakten erhalten. Zwei weitere hat der Historiker Alexander Korb zwischen Aktendeckeln entdeckt. Es fehlen also 537 Hinrichtungsakten, die noch existiert haben dürften. Was ist mit diesen Akten geschehen?

Auffällig ist, dass vor allem Akten von „politischen“ Opfern fehlen, die vom Volksgerichtshof verurteilt wurden. Erhalten geblieben sind hingegen die Akten von Personen, die wegen vermeintlich krimineller Taten von Sondergerichten verurteilt und hingerichtet wurden. Diese Akten wurden im Jahr 1975 von der JVA Stadelheim an das Staatsarchiv München abgegeben.

Zum Verbleib der Akten der „politischen“ Häftlinge gibt es verschiedene Vermutungen: Eine geht davon aus, dass die Akten bereits 1945 auf Anweisung des Reichsanwalts vernichtet wurden. Eine andere legt nah, dass die Unterlagen von den Amerikanern ins Berlin Document Center gebracht wurden. Der Historiker Alexander Korb hält eine weitere Erklärung für plausibel. Er sieht einen Zusammenhang zur Einrichtung des Ehrenhains II auf dem Friedhof Perlacher Forst im Jahr 1945, als die Stadt München vermeintlich politische Hinrichtungsopfer in ein Sammelgrab umbettete. Möglicherweise haben städtische Angestellte die Gefangenenakten im Vorfeld gesichtet und „geeignete“ Hinrichtungsopfer ausgewählt. Die Akten dieser „politischen“ Opfer könnten dann ins Rathaus oder ins städtische Bestattungsamt gebracht worden sein, wo sich ihre Spur verlor.   

Mehr zu Dr. Alexander Korb