Das Staatsarchiv München verwahrt 844 Hinrichtungsakten, die auf wenigen Seiten die bürokratisch kalte Organisation der Hinrichtungen dokumentieren. Zugleich enthalten die Akten Dokumente, die zeigen, wie sich die zum Tode Verurteilten auf das Sterben vorbereiten, wie sie sich vom Leben und von ihren Liebsten verabschieden. Selten sind die Unmenschlichkeit des Staates und das Menschsein seiner Opfer enger miteinander verzahnt als in diesen Akten.
Meist am selben Tag, an dem ein Gericht einen Menschen zum Tode verurteilte, ordnete die Staatsanwaltschaft seine Überstellung nach München-Stadelheim an. Die Verurteilten hatten noch Gelegenheit, kurz mit ihrem Strafverteidiger oder ihrer Strafverteidigerin zu sprechen, um ein Gnadengesuch aufzusetzen. Anschließend wurden sie vom jeweiligen Gerichtsort ‒ etwa von Nürnberg, Innsbruck, Bayreuth oder aus dem Münchener Justizpalast ‒ per Zug oder im Gefangenenwagen in die „zentrale Hinrichtungsstätte“ transportiert.
Zusammen mit den Verurteilten wurden auch Dokumente aus dem Gericht überstellt, beispielsweise eine Abschrift des Urteils oder des Gnadengesuchs. Diese Unterlagen bildeten den Grundstock für die vermutlich damals schon so genannte „Hinrichtungsakte“ ‒ eine neue Gefangenenakte, die bei Ankunft in Stadelheim angelegt wurde. Sie enthielt auch den Transportschein und den Aufnahmebogen.


Schriftliche Spuren in den Akten
In den folgenden Wochen und Monaten hinterließ jede Aktion der Behörden oder der Gefangenen schriftliche Spuren in den Akten: ein Brief an die Familie ebenso wie ein Besuch von Angehörigen oder beim Arzt, ein Flucht- oder Selbstmordversuch, eine Hausstrafe, eine Eingabe und andere bürokratische Vorgänge. In einigen Akten befinden sich Kopien verschickter Abschiedsbriefe ‒ oder eben Abschiedsbriefe, die nie abgesendet wurden.
Da die Gefangenen unterschiedlich lange im Todestrakt ausharren mussten, sind die Akten mehr oder weniger umfangreich. Manche Gefangenen warteten ein halbes Jahr auf ihre Hinrichtung, andere wurden zu „Blitzhinrichtungen“ – so die Bezeichnung der NS-Justiz – nach Stadelheim gebracht und noch am selben Tag getötet. Die meisten Todeskandidaten mussten sechs bis acht Wochen auf ihre Hinrichtung warten. In dieser Zeit hofften sie auf eine günstige Beantwortung ihres Gnadengesuchs, korrespondierten mit ihren Anwälten oder schrieben und empfingen einige wenige Briefen, die ihnen der Staatsanwalt gestattete.
Deutsche Häftlinge, die das System der Strafvollstreckung verstanden und sich besser zu verständigen wussten, hinterließen weitaus mehr schriftliche Spuren als beispielsweise polnische Zwangsarbeiter, die in der Todeszelle neben allen Qualen auch sprachlich isoliert waren.


Was mit den Hingerichteten geschah
Die Hinrichtung selbst ist in der Akte nicht dokumentiert, das Vollstreckungsprotokoll befindet sich in der Regel in der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft. Wohl aber sind der genaue Zeitpunkt der Hinrichtung und der Verbleib des Körpers vermerkt. Die meisten Leichen wurden den Anatomien der Universitäten München, Erlangen, Innsbruck oder Würzburg übergeben. Andere wurden auf dem in unmittelbarer Nachbarschaft Stadelheims gelegenen Friedhof Perlacher Forst bestattet. Vorausgesetzt, die Angehörigen hatten die Bestattung schriftlich beantragt und kamen für die Kosten auf. In Einzelfällen wurde der Leichnam auch auf anderen Friedhöfen bestattet.
Großen Raum in der Hinrichtungsakte nimmt die Auflistung der Effekten und der Umgang mit diesen persönlichen Gegenständen der Gefangenen ein. Besonders traurig sind die Zettel, auf denen die zum Tode Verurteilten ‒ oft in brüchiger Schrift ‒ die Adresse ihrer Liebsten notierten, an die ihre Habseligkeiten geschickt werden sollten. Manchmal entschied der Staatsanwalt jedoch, dass der Nachlass das Porto nicht wert sei.


Wo sind die fehlenden Hinrichtungsakten?
Jeder zum Tode Verurteilte wurde bei seiner Ankunft in Stadelheim im „Hinrichtungs-Tagebuch“ eingetragen. Auf dieser Liste sind alle 1.381 Todeskandidaten vermerkt, die zwischen September 1934 und April 1945 offiziell in Stadelheim hingerichtet wurden. Im Staatsarchiv München sind jedoch nur 844 Hinrichtungsakten erhalten. Zwei weitere hat der Historiker Alexander Korb zwischen Aktendeckeln entdeckt. Es fehlen also 537 Hinrichtungsakten, die noch existiert haben dürften. Was ist mit diesen Akten geschehen?
Auffällig ist, dass vor allem Akten von „politischen“ Opfern fehlen, die vom Volksgerichtshof verurteilt wurden. Erhalten geblieben sind hingegen die Akten von Personen, die wegen vermeintlich krimineller Taten von Sondergerichten verurteilt und hingerichtet wurden. Diese Akten wurden im Jahr 1975 von der JVA Stadelheim an das Staatsarchiv München abgegeben.
Zum Verbleib der Akten der „politischen“ Häftlinge gibt es verschiedene Vermutungen: Eine geht davon aus, dass die Akten bereits 1945 auf Anweisung des Reichsanwalts vernichtet wurden. Eine andere legt nah, dass die Unterlagen von den Amerikanern ins Berlin Document Center gebracht wurden. Der Historiker Alexander Korb hält eine weitere Erklärung für plausibel. Er sieht einen Zusammenhang zur Einrichtung des Ehrenhains II auf dem Friedhof Perlacher Forst im Jahr 1945, als die Stadt München vermeintlich politische Hinrichtungsopfer in ein Sammelgrab umbettete. Möglicherweise haben städtische Angestellte die Gefangenenakten im Vorfeld gesichtet und „geeignete“ Hinrichtungsopfer ausgewählt. Die Akten dieser „politischen“ Opfer könnten dann ins Rathaus oder ins städtische Bestattungsamt gebracht worden sein, wo sich ihre Spur verlor.
