Todesurteile im Namen der NS-Justiz

Der Historiker Dr. Alexander Korb über das NS-Justizsystem und die Hinrichtungsopfer von München-Stadelheim

Schwarz-weiß Foto des Gefängnisses Stadelheim. Davor eine Gruppe Zwangsarbeiterinnen sowie Männer in Uniform.
Dieses Propagandabild der Nationalsozialisten zeigt Zwangsarbeiterinnen vor München-Stadelheim. © Bayerisches Hauptstaatsarchiv

Viele Menschen wurden in der Haftanstalt München-Stadelheim während des Nationalsozialismus hingerichtet – wegen politischer Überzeugungen, vermeintlicher Kriminalität oder aus rassistischen Motiven. Im Interview erläutert der Historiker Dr. Alexander Korb, wie das NS-Rechtssystem funktionierte, welche Rolle Sondergerichte und der Volksgerichtshof spielten, und was die erhaltenen Hinrichtungsakten über die letzten Wochen der Verurteilten erzählen.

In der Haftanstalt München-Stadelheim wurden bis 1945 über 1.000 Menschen hingerichtet. Was weiß man über diese NS-Opfer?

Erstaunlich wenig, obwohl die archivalische Überlieferung besonders dicht ist. Das hängt damit zusammen, dass Justizopfer generell in der Forschung nicht immer im Vordergrund stehen. Der Fokus lag bisher eher auf den politischen Opfern des Nationalsozialismus. In Stadelheim wurden zum Beispiel die sieben Mitglieder der Weißen Rose hingerichtet ‒ ihr Schicksal und das Prozedere ihrer Hinrichtung sind gut dokumentiert. Doch die Überlieferung ist sehr zersplittert. Die Akten werden in der Regel an dem Gerichtsort verwahrt, wo das Todesurteil gesprochen wurde. Die Quellen sind also weit verstreut.

Auf welcher Grundlage wurden die Menschen zur NS-Zeit hingerichtet?

Zunächst ist bemerkenswert, dass die Hinrichtungen individuell begründet wurden. Es handelte sich um Einzelverfahren, die öffentlich durchgeführt wurden ‒ im Gegensatz zu den millionenfachen Tötungen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern.

Darin spiegelt sich die Janusköpfigkeit der NS-Justiz wider. Sie gab sich viel Mühe, die Hinrichtungen „rechtsstaatlich“ zu organisieren und die Urteile zu begründen.

Dr. Alexander Korb

Vordergründig war das NS-Rechtssystem regel- und evidenzbasiert. Die Taten, die zur Anklage kamen, sind – soweit wir aus den Akten wissen – auch in irgendeiner Weise verübt worden. In manchen Fällen gab es sogar Freisprüche, wenn die Beweislage in den Augen der Richter nicht ausreichte.

Die einzige Ausnahme von dieser evidenzbasierten Praxis waren rassistische Urteile. Beschuldigte eine deutsche Person einen russischen oder polnischen Zwangsarbeiter, galt diese Beschuldigung als wahr. Auf Bauernhöfen zum Beispiel kam es beispielsweise häufiger zu Schlägereien zwischen ausländischen Zwangsarbeitern und deutschen Bauern. Wenn ein solcher Fall zur Anklage kam, war es für die ausländische Arbeitskraft extrem schwierig, ihre Unschuld zu beweisen.

Nahm die Zahl der Hinrichtungen in der NS-Zeit zu?

Ja, aber dafür muss man etwas weiter zurückschauen. Mit Blick auf die Hinrichtungspraxis stellte das Jahr 1933 zunächst keine so große Zäsur dar. In den 1920er-Jahren, nach dem Ersten Weltkrieg, wurden deutlich mehr Menschen hingerichtet als etwa Anfang der 1930er-Jahre. Ende der 1920er-Jahre formierte sich eine machtvolle Initiative zur Abschaffung der Todesstrafe. Zu Beginn 30er-Jahre nahmen die Hinrichtungen langsam wieder zu.

Vom Machtantritt der Nazis bis zum Kriegsbeginn waren alle 30 in Stadelheim Hingerichteten wegen Mordes verurteilt worden. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs änderte sich die Situation: Das NS-Justizsystem wurde nun sehr viel aggressiver und zupackender, die Zahl der todeswürdigen Strafbestimmungen explodierte ebenso wie die Zahl der Hinrichtungen. Es gab Verschärfungen der Verfahrensregeln und Richter wurden dazu angehalten, das Strafmaß voll auszuschöpfen. Vor allem aber wurden neue Gerichtsformen geschaffen: Die Sondergerichte, die vermeintliche Kriminalität aburteilten, und der Volksgerichtshof, an dem politische Taten verhandelt wurden.

Besonders streng verfolgt wurden jetzt Taten, die in Zusammenhang mit dem Krieg gebracht werden konnten: beispielsweise ein Fahrrad- oder ein Kofferdiebstahl während der Verdunkelung. Das war eine Lehre, die die Nazis aus dem Ersten Weltkrieg zogen. Man sei damals zu lasch gewesen, so die Lesart, deshalb habe man den Krieg verloren. Diese Vorstellung saß bei den Richtern tief. Die Zahl der Todesurteile, die in Stadelheim vor 1942 vollstreckt wurden, lag bei 136 ‒ zwischen 1942 und 1945 schoss sie auf über 1.000 in die Höhe.

Welche Hinrichtungsgründe wurden herangezogen?

Die Bandbreite der Hinrichtungsgründe reichte von politischen Vorwürfen wie Hochverrat bis zu kriminellen Taten wie Sexualverbrechen, Mordversuch und Mord, insbesondere Femiziden. Im Einzelnen waren sie aber sehr vielschichtig. Grob lässt sich sagen: Etwa ein Drittel der Urteile bezog sich auf politische Taten, ein weiteres Drittel auf Delikte der Kleinkriminalität. Ein beträchtlicher Teil betraf Menschen, die aus Sicht der Nationalsozialisten nicht in die Gesellschaft passten. Dazu zählten etwa „Landstreicher“, die falsche Angaben beim Sozialamt gemacht hatten, oder Sinti, die wegen ihres Lebenswandels verurteilt wurden. Ein kleinerer Prozentsatz betraf Soldaten, die von Militärgerichten schuldig gesprochen worden waren, in der Regel wegen Desertation. Kapitalverbrechen waren natürlich auch ein wichtiger Hinrichtungsgrund.

Welche Taten führten am häufigsten zu einem Todesurteil?

Die allermeisten Todesurteile in dieser Zeit wurden wegen Diebstahlsdelikten wie Plünderungen, Koffer- oder Postdiebstählen ausgesprochen. Dafür kreierten die Nazis sogar eigene Begriffe wie den „Postmarder“. Es folgten politische Todesurteile gegen Widerstandskämpfer*innen. Dann gab es Verbrechen, die praktisch nur von Ausländer*innen begangen werden konnten, wie „Herabwürdigung des Deutschtums“. Die Nazis befürchteten nämlich, dass die Hunderttausenden von Zwangsarbeiter*innen, die damals im Deutschen Reich arbeiteten, einen Aufstand anzetteln könnten.

Dokumente und Briefe der Hingerichteten

Welche Quellen geben über die Hinrichtungen Auskunft?

Hauptquelle sind die von den Staatsanwälten geführten Gerichtsakten. Sie enthalten alle Dokumente zu einem Prozess ‒ von der Anzeige bis zur Rechnung des Henkers. Meist sind darin auch die protokollierten Aussagen von Angeklagten und Zeugen enthalten, zudem das „Gnadenheft“ und das „Vollstreckungsheft“ sowie manchmal Briefe oder Fotos. All diese Dokumente zeichnen ein Bild des Verfahrens aus Sicht des Gerichts. Daneben gibt es die sehr viel dünneren Hinrichtungsakten.

Welche Dokumente befinden sich in den Hinrichtungsakten?

Am Tag seiner Einlieferung in das Gefängnis Stadelheim bekam jeder Verurteilte eine Hinrichtungsakte. Diese Akte begann mit der Abschrift des Urteils, hinzu kam der Laufzettel von der Überstellung des Verurteilten aus dem Gericht in die Hinrichtungsstätte. Außerdem wurden seine Habseligkeiten protokolliert. Es gab ein Verzeichnis seiner Kleidung, seines Handgepäcks oder auch des Bargelds, das er bei sich trug. Ein beträchtlicher Teil der Akte befasste sich mit der Frage, wem die Habseligkeiten nach der Hinrichtung überstellt werden sollten. Dann gab es noch ein Verzeichnis der Besuche und eine gelbe Briefkartei, in der jeder Briefwechsel vermerkt war, auch die Abschiedsbriefe. 

Durfte jeder Häftling einen Abschiedsbrief schreiben?

Ja, jeder Häftling hatte das Recht, einen oder auch mehrere Abschiedsbriefe zu schreiben. Und viele haben davon auch Gebrauch gemacht.

Wie viele dieser Hinrichtungsakten sind überliefert?

Im Staatsarchiv München sind 844 Hinrichtungsakten erhalten. Zwei weitere habe ich im Laufe meiner Forschung gefunden. Das sind Akten zu etwa zwei Dritteln der zum Tode Verurteilten. Warum die restlichen ca. 500 Akten fehlen, weiß man nicht. In diesen Akten haben wir über 50 Briefe von Hingerichteten identifiziert. Die Mehrzahl der Abschiedsbriefe wurde also vermutlich zugestellt.

Warum wurden einige Abschiedsbriefe nicht zugestellt?

Gründe konnten sein, dass die Briefe unleserlich oder kryptisch waren. Wahrscheinlich ist auch, dass Staatsanwälte oder die Gefängnisverwaltung Briefe zurückhielten, in denen Verurteilte Kritik am Verfahren oder am Todesurteil übten. Sie fühlten sich möglicherweise persönlich angegriffen. Ich nehme aber an, dass die Auswahl subjektiv war und es keine engmaschige Zensur gab.

Manchmal wurden auch Abschriften von Briefen angefertigt. Die NS-Justiz interessierte sich sehr für die psychologische Dimension der Verbrechen. So wurden zum Beispiel die Abschiedsbriefe des Serienmörders Johann Eichhorn abgetippt und vermutlich vielfach innerhalb des Justizapparats gelesen.

Die Briefe haben einen sehr unterschiedlichen Charakter: Manche kann man nicht lesen, ohne dass einem die Tränen in den Augen schießen, andere sind eher sachlich. Erstaunlich viele finden Trost in christlichen Jenseitsvorstellungen.

Die Briefe

In ihren Abschiedsbriefen wenden sich die zum Tode Verurteilten an ihre Eltern, Ehepartner, Verwandten und Freund*innen. Sie regeln, was mit ihren Habseligkeiten geschehen soll, und nehmen Abschied ‒ einige nüchtern und sachlich, viele verzweifelt, manche auch voller Wut über die große Ungerechtigkeit, die ihnen widerfährt. Schauspieler*innen der Münchner Kammerspiele lesen in sechs Videos ausgewählte Passagen aus den Abschiedsbriefen.

Gedenken an die NS-Justizopfer

Wird den NS-Justizopfern aus Ihrer Sicht ausreichend gedacht?

Es gibt einige Gedenkorte: Im Gerichtssaal des Münchener Justizpalasts, in dem einer der Prozesse gegen Mitglieder der Weißen Rose stattgefunden hat, gibt es zum Beispiel eine Ausstellung. Darin erfährt man allerdings nichts über die hunderten weniger prominenten Opfer, die im selben Gerichtssaal zum Tode verurteilt wurden. Im Jahr 1954 wurde auf dem Friedhof im Perlacher Forst ein Ehrenhain für die vermeintlich politischen NS-Justizopfer eingerichtet. Dort fehlt aber jede Erklärung, wer hier eigentlich bestattet wurde und warum. Vor dem Eingang der JVA-Stadelheim stehen einige Tafeln. Und auch an anderen Hinrichtungsstätten wie in Plötzensee oder Brandenburg-Görden wird der Opfer gedacht, die dort hingerichtet wurden.

Das Problematische ist aus meiner Sicht, dass bisher immer eine Trennung zwischen politischen und nichtpolitischen NS-Hinrichtungsopfern vorgenommen wird. Wir haben über das NS-Justizsystem gesprochen. Auch die als „kriminell“ Verurteilten waren Opfer des Unrechtsregimes. Es gibt bisher keinen Ort, der diese Geschichte in ihrer ganzen Bandbreite erzählt.

Wie könnte ein würdiges Gedenken aussehen?

Ich fände es gut, wenn es einen zentralen Ort für alle NS-Gerichtsopfer geben würde, zum Beispiel in Berlin, wo bereits vieler anderer NS-Opfergruppen gedacht wird. Vielleicht könnte auch ein Objekt wie die Stadelheimer Guillotine, die im Depot des Bayerischen Nationalmuseums steht und noch nie ausgestellt wurde, diese Funktion erfüllen.

Die Justizgeschichte ist – über den Nationalsozialismus hinaus ‒ zu lehrreich. Sie stößt mitten hinein in die Frage: Was ist Recht? Wie kann Recht pervertiert werden? Und wie kann man Recht bewahren? Es würde sich lohnen, über einen solchen Ort nachzudenken.

Dr. Alexander Korb

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