Akten zu Kinderschicksalen in und nach der NS-Zeit
Nach Kriegsende gab es in Europa Millionen Überlebende der NS-Verfolgung: Befreite aus Konzentrationslagern, Kriegsgefangene, verschleppte Zwangsarbeiter*innen, unter ihnen Zehntausende Kinder, die auf sich allein gestellt waren. Um sie wieder mit ihren Familien zusammenzuführen, richtete die Vorgängerorganisation der Arolsen Archives einen speziellen Kindersuchdienst – und hielt jedes einzelne Schicksal in Fragebögen, Interviews und Protokolle eindrucksvoll fest.
In den Arolsen Archives sind mehr als 64.000 Kindersuchakten verwahrt. Die Dokumente, die überwiegend zwischen 1945 und 1951 entstanden, enthalten nicht nur Fakten, sondern auch die Hoffnungen und Träume der Kinder, die trotz allem einen Neuanfang suchten. Sie waren Überlebende der Ghettos und Konzentrationslager, Kinder von Zwangsarbeiterinnen, selbst verschleppt und zur Arbeit gezwungen oder hatten als jüdische Verfolgte jahrelang in Verstecken bei Nachbarn ausgeharrt. Andere waren ihren Familien in Osteuropa entrissen worden, um sie in Lebensborn-Heimen zu „germanisieren“. Auch über ihr Schicksal gibt der Teilbestand Auskunft – durch Abschriften von Dokumenten, die bis ins Jahr 1940 zurück reichen. Weitere Akten entstanden, wenn Menschen nach einem vermissten Kind suchten.
Kinder kommen selbst zu Wort
Die Kindersuchakten dokumentieren die Identität der Kinder, ihre Leidensgeschichten und die Versuche, sie wieder mit ihren Familien zu vereinen. Sie enthalten Fragebögen und Gesprächsprotokolle mit den Kindern, Berichte über medizinische Untersuchungen und persönliche Eindrücke der Betreuenden in den eigens eingerichteten Kinderzentren. Eines davon befand sich im bayerischen Kloster Indersdorf. Hier findet auch der 14-jährige Sacher Israeler ab Oktober 1945 für kurze Zeit ein erstes, neues Zuhause.
Verschleppt aus Polen: Sacher Israeler
Der Junge blickt auf Unvorstellbares zurück: Mit seiner jüdischen Familie flieht er 1939 von Krakau nach Tarnow. Dort werden seine Mutter und zwei Schwestern auf offener Straße erschossen, der Vater stirbt später an seinen Schussverletzungen. Sacher wird in das nahegelegene Ghetto verschleppt und später ins Konzentrationslager Plaszow deportiert. Er kommt zur Zwangsarbeit in ein Flugzeugwerk, von dort ins KZ Auschwitz und schließlich ins KZ Flossenbürg. Bei Kriegsende überlebt er den Todesmarsch in Richtung Dachau und wird von US-Soldaten entdeckt und in Obhut genommen. Nach einem Lazarettaufenhalt kommt er schließlich in das Kinderzentrum Kloster Indersdorf.
Dokumente aus eigens eingerichteten Kinderzentren
Sacher bekommt im Kinderzentrum Indersdorf Kleidung, Nahrung und erste Alltagsgegenstände. Zudem werden die Kinder bei Bedarf medizinisch und psychologisch betreut. Sofern alt genug, folgen Einzelgespräche. Bei den Kleinsten werden Beobachtungen notiert – wie sie auf Menschen reagieren, ob sie krank sind oder viel weinen. Das zeigt: In den Zentren wurden die Kinder als Individuen mit einer eigenen Geschichte, mit Träumen und Wünschen wahrgenommen. Das macht die Akten zu einer wichtigen Informationsquelle über die Betreuung der jüngsten Überlebenden nach 1945. Sie enthalten auch Hinweise zum weiteren Lebensweg: Der Kindersuchdienst findet Sachers Tanten und Onkel in den USA und Kanada. Auch seine Tante Anna hat das KZ überlebt und ist noch in Deutschland. Sie sehen sich im Januar 1946 in Konstanz wieder und beschließen gemeinsam über Paris nach Amerika zu gehen. 1947 kommen sie dort an.
Eine Aufgabe über viele Jahrzehnte
Der Child Search Branch (CSB) gehörte zum International Tracing Service ITS, so lautet der frühere Name der Arolsen Archives. Anfangs stand der Suchdienst unter der Leitung der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), der größten und wichtigsten Hilfsorganisation der Nachkriegszeit. Die UNRRA betrieb zudem die Kinderzentren und arbeitete dabei eng mit anderen Hilfsorganisationen wie Rot-Kreuz-Stellen und dem American Jewish Joint Distribution Committee zusammen.
Der Sitz des Kindersuchdienstes war zunächst Wiesbaden, dann Ludwigsburg und schließlich Esslingen am Neckar. Zum Team gehörten sogenannte Field Officer, die Hinweisen aus der Bevölkerung nachgingen und in deutschen Kinderheimen sowie auch in Familien nach Kindern von Zwangsarbeiterinnen oder verschleppten Kindern suchten.
In den frühen Jahren bis August 1950 hat der Kindersuchdienst 27.837 Anfragen erhalten. Eine Übersicht aus einem Tätigkeitsbericht von 1951 zeigt, dass es dem Kindersuchdienst gelang, in den sechs Jahren nach Kriegsende 17.341 unbegleitete Kinder zu finden. Dem gegenüber stand eine Zahl, die die traurige Situation der Kinder verdeutlicht: In nur 4855 Fällen gelang es dem Team, Verwandte zu finden. 1951 gingen alle Dokumente des Kindersuchdienstes zum ITS nach Arolsen. Die Vor-Ort-Suche mit Field Officern wurde eingestellt. Doch auch beim ITS ging die Suche in Kontakt mit internationalen Rot-Kreuz-Stellen, mit Überlebenden-Verbänden, mit Recherchen bei Kommunen, in Kirchenbüchern und auf vielen anderen Wegen über Jahrzehnte weiter. Und noch immer kommt es vor, dass zum Beispiel die wahre Identität eines geraubten Kinds geklärt werden kann, oder dass ein adoptiertes Kind nach einer Anfrage bei den Arolsen Archives seine Halbgeschwister kennenlernt.
Die umfangreichen erhaltenen Aktenbestände sind nach wie vor eine wichtige Ressource, um das Leid NS-verfolgter Kinder zu rekonstruieren und nachfolgende Generationen zu mahnen. Der Online-Zugang zu den Kindersuchakten ist aus Datenschutzgründen eingeschränkt. Für eine Einsichtnahme bitte an unser Archivteam wenden.