Holger Obbarius ist Leiter der Bildungsabteilung der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Das Lernmodul Suspekt – Landschaft der Verbrechen hält er für beispielhaft im Hinblick auf die Vermittlung von historischem Wissen.

Herr Obbarius, worin sehen Sie die größten Stärken von „Suspekt“?

Eine der größten Stärken von Suspekt ist die Verbindung von seriösen, gut recherchierten und wissenschaftlich abgesicherten Informationen mit den Rezeptionsgewohnheiten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Der historische Gegenstand, das ehemalige KZ-Außenlager Ohrdruf, das in eine ganze Landschaft der Verbrechen eingebettet ist, wird darin auf ungewöhnliche Weise vermittelt.

Während früher, z.B. in Publikationen und Ausstellungen, überwiegend textbasiert und linear erzählt wurde, bricht Suspekt mit diesem herkömmlichen Konzept. Nach dem Einstiegsvideo haben die Lernenden die Möglichkeit, sich frei in der 360 Grad-Landschaft zu bewegen und Informationen selbstbestimmt aufzunehmen. Ich habe die Wahl: Wo fange ich an? Was lasse ich aus? Je mehr Wissen ich mir aneigne, desto tiefer kann ich in das Thema eindringen.

 

»Dieser Ansatz nimmt das lernende Subjekt ernst und stellt es in den Mittelpunkt. Die Erfahrung von aktiver Aneignung und Selbstbestimmung ist meinem Verständnis nach Bildung im besten Sinne.«

 

 

Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Lernmodul gesammelt?

Erst kürzlich haben wir in unserer Gedenkstätte eine Gruppe Schüler*innen und eine Gruppe Studierende eingeladen, sich mit Suspekt zu beschäftigen. Beide haben das Modul drei Stunden lang intensiv genutzt. Anschließend haben wir sie gefragt, wie sie diese Form des Wissenserwerbs finden. Hat es ihnen Spaß gemacht, die digitalen Räume und Spuren zu erkunden? Hat es sie in das Thema reingeholt? Sie gefesselt?

 

Und welche Rückmeldung haben Sie bekommen?

Die Rückmeldungen waren extrem positiv. Wir haben ausnahmslos das Feedback bekommen, dass sich die Nutzer*innen gerne länger damit beschäftigt hätten. Viele habe gesagt, dass sie die Spurensuche zuhause am eigenen Rechner fortsetzen wollen. Aus meiner Perspektive war klar zu sehen, dass die jungen Leute buchstäblich in ihren Tablets verschwunden sind.

Wir haben auch versucht herauszufinden, was inhaltlich hängengeblieben ist. Ein guter Gradmesser dafür ist, ob die Nutzer*innen Zusammenhänge frei und in eigenen Worten formuliert auf den Punkt bringen können. Und das war hier der Fall. Daran zeigt sich, dass die Inhalte einerseits wahrgenommen werden und anderseits nicht überfordern. Die Vermittlungsweise drängt sich dabei nicht in den Vordergrund oder überformt gar die Inhalte – das sind für mich wichtige Erfolgskriterien.

 

Für den schulischen Einsatz gut geeignet

 

Sehen Sie Unterschiede im schulischen und außerschulischen Einsatz?

Die Rahmenbedingungen sind unterschiedlich. Anders als an der Uni oder beim privaten Gedenkstättenbesuch findet die Auseinandersetzung mit den historischen Themen im Unterricht ja überwiegend nicht freiwillig statt. Darin besteht ein Zielkonflikt: Suspekt ist ein freiwilliges Angebot, gleichzeitig werden Schüler*innen unter eine Art Zwang gesetzt.

Durch die Wahlmöglichkeiten in Suspekt wird dieser Widerspruch abgemildert. Um ein Beispiel zu geben: Ich kann bei meiner Spurensuche selbst entscheiden, ob ich mir ein historisches Foto von verbrannten Leichen anschaue oder nicht. Das halte ich im Sinne des Beutelsbacher Konsenses für wichtig. Weil Suspekt diese Entscheidungsfreiheit bietet, ist das Angebot gerade für den schulischen Einsatz gut geeignet.

 

Hinterbliebene von NS-Opfern äußern oft Unbehagen mit dem Begriff „Spiel“ im Kontext der Erinnerung an den Holocaust. Was antworten Sie?

Manche Begriffe verstellen mehr als sie erklären. Ich persönlich würde darauf verzichten. Aber natürlich nutzt das Lernmodul Elemente, die aus digitalen Spielen bekannt sind, um Aufmerksamkeit und Motivation zu steigern. Zum Beispiel das Navigieren durch virtuelle Räume oder Feedbacksysteme, die das menschliche Belohnungssystem ansprechen. Wichtig ist dabei, dass die Informationen seriös, pietät- und würdevoll aufbereitet sind.

 

»Wenn eine spielerische Herangehensweise die Bereitschaft fördert, sich mit historischen Inhalten zu beschäftigen – und zwar auf eine intensive Art –, dann finde ich das sehr sinnvoll.«

 

 

Sehen Sie Hürden oder Barrieren für die Rezeption?

Dafür gibt es aus meiner Sicht wenig Anhaltspunkte. Der Ansatz spricht mit seiner intuitiven Steuerung und der Art der inhaltlichen Aufbereitung schon ein sehr breites Publikum an. Möglicherweise ist die Komplexität für Menschen mit Lern- oder Konzentrationsschwächen herausfordernd. Für sie wäre das Umschalten auf eine Version, die eine reduzierte Auswahl an Inhalten anbietet und in Leichter Sprache verfasst ist, hilfreich. Im Sinne einer inklusiven Bildungsarbeit sollte das Angebot auch für Menschen, die eingeschränkt sehen oder hören können, zugänglich gemacht werden. Und um ein noch größeres, möglichst weltweites Publikum zu erreichen, wäre ein mehrsprachiges Angebot wünschenswert.

 

Jugendliche zur Auseinandersetzung mit NS-Geschichte aktivieren

 

Welche Erweiterungen könnten Sie sich für die Zukunft vorstellen?

»Ich halte die Form der Wissensaneignung, die mit Suspekt entwickelt wurde, wirklich für beispielhaft. Deshalb würde ich mir wünschen, dass wir diesen digitalen, medialen, methodischen und inhaltlichen Ansatz auf weitere Außenlager übertragen können.«

 

 

Mit dem Außenlager Ohrdruf haben wir ein reines Männerlager beschrieben. Ähnliches wäre zum Beispiel für Lager, in denen Frauen KZ-Zwangsarbeit verrichten mussten, denkbar. Anbieten würde sich auch eine geografische Ausweitung auf andere Bundesländer. Wenn digitale Lernangebote Spuren damaliger KZ-Außenlager im persönlichen Umfeld sichtbar machen, regt das zu historischem Lernen vor Ort an. So kann ein lebensweltlicher Bezug entstehen.

 

Welches Potenzial sehen Sie in dem digitalen Lernmodul noch?

So wie Protagonistin Vicky das Gelände im früheren Außenlager Ohrdruf und dessen Umfeld erkundet, lädt sie junge Menschen vielleicht dazu ein, es ihr gleichzutun. Suspekt bietet also im besten Fall Anreize, selbst aktiv zu werden, Fragen zur Vergangenheit zu stellen und sich mit Geschichte von NS-Unrecht in der eigenen Nachbarschaft zu beschäftigen. Darin sehe ich Potenzial, Jugendliche zur Auseinandersetzung mit Vergangenem und mit der Gegenwart zu aktivieren.

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