Wie wird man zu einem Menschen, der sich unermüdlich für Aufklärung, Gedenken und politische Bildung engagiert? Für Sejfuddin Dizdarević, geboren 1977 in Zenica (Bosnien und Herzegowina) und seit seiner Jugend in Deutschland, war der Genozid von Srebrenica 1995 ein Wendepunkt. Obwohl er aus einem anderen Teil Bosniens stammt, wurde ihm früh bewusst: „Wären die Umstände anders gewesen, hätte auch ich ein Opfer werden können.“ Dieses Bewusstsein führte zu einem tiefen Verantwortungsgefühl.
Herr Dizdarević, wann war Ihnen klar: Ich will mich politisch engagieren?
Das war kein einzelner Moment, sondern ein langsamer Prozess. Aber der 11. Juli 1995 – der Tag des Massakers von Srebrenica – war ein Einschnitt. Ich war damals 18 Jahre alt. Obwohl ich aus Zentralbosnien komme und selbst nicht aus Srebrenica stamme, war mir sofort klar: Das hätte auch mich treffen können. Dass meine Stadt verschont blieb, war letztlich nur eine Frage der Umstände. Dieses Gefühl der Verbundenheit mit den Opfern und der Verantwortung gegenüber ihrer Geschichte begleitet mich seitdem. Ich konnte und wollte nicht einfach weitermachen, als wäre nichts geschehen.
Sie engagieren sich nun seit vielen Jahren – was hat sich über die Zeit hinweg verändert?
Am Anfang war mein Engagement eher unregelmäßig, abhängig von meiner Zeit, meinem Umfeld, auch meiner Kraft. Ich war berufstätig, hatte Familie, war eingebunden. Aber das Thema ließ mich nie los. Vor etwa fünf Jahren habe ich dann entschieden, mich intensiver zu engagieren. Ich wollte nicht nur erinnern, sondern aktiv aufklären – gerade hier in Deutschland. In dieser Zeit sind viele Projekte entstanden: Bildungsreisen nach Bosnien, die Begleitung von Gedenkmärschen, die Übersetzung eines Überlebendenberichts – und das Netzwerk, das wir gegründet haben.
Sie haben das „Srebrenica Awareness Network“ mitbegründet. Was bedeutet Netzwerkarbeit für Sie und für die Erinnerungskultur?
Sie ist essenziell. Ich habe bei vielen Veranstaltungen erlebt, dass es überall in Deutschland Menschen gibt, die sich engagieren – oft sehr engagiert, aber auch sehr isoliert. Netzwerkarbeit heißt: Wir bündeln Kräfte, tauschen Erfahrungen, organisieren uns besser. Wir stärken uns gegenseitig und machen unsere Arbeit sichtbarer. Gerade wenn man das Thema in die Mehrheitsgesellschaft bringen will, braucht es diese Verbindung. Der Genozid in Srebrenica darf kein Nischenthema bleiben. Und als Netzwerk sprechen wir mit einer Stimme, das macht uns stärker.

Netzwerkarbeit heißt: Wir bündeln Kräfte, tauschen Erfahrungen, organisieren uns besser. Wir stärken uns gegenseitig und machen unsere Arbeit sichtbarer. Gerade wenn man das Thema in die Mehrheitsgesellschaft bringen will, braucht es diese Verbindung.
Sejfuddin Dizdarević, Mitbegründer des Srebrenica Awareness Network e. V.
Sie organisieren auch Gruppen für den Friedensmarsch in Bosnien. Was bewirken solche Formate?
Sehr viel. Der Marsch folgt der Fluchtroute der Menschen aus Srebrenica , das sind 90 Kilometer, also drei Tage. Es ist körperlich anstrengend, emotional fordernd. Aber genau das verändert etwas. Wer dort mitgeht, wer mit Überlebenden spricht, wer sieht, was damals geschah, der begreift die Dimension des Verbrechens auf einer ganz anderen Ebene. Gerade junge Menschen nehmen das sehr intensiv wahr. Ich glaube, dass solche Erfahrungen ein Leben lang wirken. Sie schaffen Empathie, Verbundenheit – und oft auch ein neues Verantwortungsgefühl.
Was sind für Sie Momente, in denen Sie spüren: Mein Engagement bewirkt etwas?
Es gibt viele solche Momente. Als ich das Zeugnis eines Überlebenden ins Deutsche übersetzte, hatte ich keine großen Erwartungen. Heute weiß ich: Über 10.000 Menschen haben das Buch gelesen. Oder: Jemand reist mit mir nach Bosnien – und zwei Jahre später schreibt er oder sie journalistisch über das Thema. Oder organisiert selbst eine Veranstaltung. Das sind Multiplikator*innen. Und genau darum geht es mir: Menschen zu erreichen, die das Thema weitertragen. Denn ich allein kann nicht alles tun. Aber ich kann Impulse geben, die weiterwirken.
Sie haben mehrfach schon erwähnt, dass rechtsextreme Täter sich auf Srebrenica beziehen. Warum ist das so zentral in deiner Arbeit?
Weil es zeigt, dass wir es hier nicht mit einem abgeschlossenen Kapitel der Vergangenheit zu tun haben. Täter wie Anders Breivik oder der Attentäter von Christchurch beziehen sich ganz offen auf Srebrenica – als vermeintliches Vorbild. Sie sagen: So müsste man mit Musliminnen und Muslimen auch in westlichen Ländern umgehen. Das ist erschreckend – und es wird in der Öffentlichkeit oft übersehen. Erinnerung bedeutet deshalb nicht nur Rückblick, sondern auch Wachsamkeit. Wir müssen diese Bezüge kennen, benennen und dagegen arbeiten.
Was wünschen Sie sich von Politik und Gesellschaft?
Ich wünsche mir, dass der Genozid von Srebrenica Teil des historischen Gedächtnisses wird – auch in Deutschland. In Schulbüchern, in Gedenktagen, in der politischen Bildung. Es braucht Förderungen für zivilgesellschaftliche Initiativen, Unterstützung für Netzwerke, Räume für Begegnung und Aufklärung. Und ich wünsche mir mehr Verbündete – Menschen, die sich fragen: Was hat das mit mir zu tun? Und die dann merken: Es hat sehr viel mit uns allen zu tun.


