Paragraph 175: Die Geschichte der strafbaren Homosexualität in Deutschland

Eine Gruppe Aktivist*innen demonstriert in Westberlin für die Rechte Homosexueller und gegen den Paragraphen 175

123 Jahre dauerte es, bis homosexuelle Männer in Deutschland ihre Sexualität offen ausleben durften, ohne mit einer offiziellen Strafe rechnen zu müssen. Erst 1994 wurde Paragraph 175 in der BRD aus dem Gesetzbuch gestrichen. Lesbischen Müttern wurde bis mindestens in die 1980er Jahre das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen. Auch heute noch erfahren queere Menschen Diskriminierung in der Gesellschaft.

 

Zwischen 1872 und 1994 legten die deutschen Gesetzgeber und Behörden den Paragraphen 175 immer wieder unterschiedlich aus. Im Kaiserreich wird das Gesetz zur Bestrafung homosexueller Handlungen unter dem §175 verankert. Der Gesetzestext spricht von „Unzucht zwischen Männer“; damit waren schwule Beziehungen offiziell strafbar. Aber auch andere homosexuelle und queere Paare waren von der Verfolgung durch die Nationalsozialisten betroffen.

Ȥ175 RStGB (1872)

Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.«

Auszug aus dem Gesetzestext

Während der Weimarer Republik in den 1920ern gab es in den Großstädten eine Gegenbewegung. Homosexuelles Leben blühte in Clubs und Bars auf, vor allem in Berlin. Das änderte sich mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten, die den Paragraphen 175 verschärften und homosexuelle Männer als Gefahr sahen für ihre Pläne, eine „arische Rasse“ zu erschaffen. Innerhalb weniger Wochen schloss die Polizei die bekannten Clubs und Bars, wo sich schwule Männer, lesbische Frauen und Transpersonen trafen, darunter das Eldorado in Berlin und das Dornröschen in Köln. Am 6. Mai 1933 plünderte die SA das Institut für Sexualwissenschaften von Magnus Hirschfeld, der die erste deutsche Homosexuellenbewegung prägte und schon 1920 beinahe einem Mordversuch von Rechtsextremen zum Opfer gefallen war.

Rosa Winkel: Kennzeichnung für angeblich homosexuelle Männer im KZ

Bereits ab 1933 lieferten die Nazis als homosexuell verfolgte Männer in Konzentrationslager ein. Als Kennzeichen mussten viele der Männer in den Lagern Aufnäher mit rosa Winkeln tragen. Die Winkel trugen zu noch größerer Stigmatisierung der Betroffenen bei, weil sie so im Lager klar als Homosexuelle gekennzeichnet waren und oft besonders brutal behandelt wurden. Auch der Diskriminierung durch andere Häftlinge waren sie so zum Teil ausgesetzt. In Dokumenten wie der Häftlingspersonalkarte von Rudolf Brazda wurde der rosa Winkel häufig mit den Kürzeln „Homo“ oder „§175“ kombiniert. Etwa 53,000 Männer wurden auf Basis von Paragraph 175 von der NS-Justiz verurteilt, und es wird davon ausgegangen, dass etwa 10,000 als homosexuell verfolgte Männer in Konzentrationslagern inhaftiert waren. Viele von ihnen überlebten die Haft nicht.

Während sich der Paragraph 175 in Deutschland ausschließlich auf Homosexualität zwischen Männern bezog, wurde im österreichischen Teil Nazi-Deutschlands auch Homosexualität zwischen Frauen strafrechtlich verfolgt. Lesbische Frauen und queere Personen waren jedoch auch unabhängig von der strafrechtlichen Verfolgung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und ihrer Geschlechtsidentität im Nationalsozialismus einem besonderen Risiko ausgesetzt, denunziert zu werden und ins Blickfeld der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) zu geraten. Ein Beispiel dafür sind die Schicksale von Ruth Maier und Gunvor Hofmo oder Alice Carlé und Eva Siewert.

In diesem Fall kamen weitere Faktoren ins Spiel: Kontakt zu Jüdinnen oder Kritik am NS-Regime waren Gründe, um in einem KZ interniert zu werden, genauso wie die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Juden, Sinti oder Roma. Unter den Frauen, die im Konzentrationslager als „Asozial“ oder „Politisch“ markiert waren, finden sich auch lesbische Frauen.

Im Aufsatz „Lesbianism, Transvestitism and the Nazi State. A Microhistory of a Gestapo Investigation, 1939–1943“ geht Laurie Marhoefer auf diese Themen genauer ein. Marhoefer hat die Geschichte von Ilse Totzke recherchiert, zu der es auch Unterlagen in den Arolsen Archives gibt. Totzke überlebte das Konzentrationslager Ravensbrück. Die Biografie von Ilse Trotzke kann auf
Fembio nachgelesen werden.

 

Plakat „Schwüle Nachte“ der Aktionsgruppe Homosexualität in der Lagerhalle Osnabrück (1983) zeigt Silhouetten mit einem rosa Winkel auf der Brust
Plakat „Schwüle Nachte“ der Aktionsgruppe Homosexualität in der Lagerhalle Osnabrück (1983) zeigt Silhouetten mit einem rosa Winkel auf der Brust (c) Schwules Museum
Plakat „Schwüle Nachte“ der Aktionsgruppe Homosexualität in der Lagerhalle Osnabrück (1983) zeigt Silhouetten mit einem rosa Winkel auf der Brust
Aktivist*innen auf dem ersten Christopher Street Day in der BRD 1979 halten ein rosa Dreieck mit der Aufschrift „Ersatzlose Streichung des §175“ hoch, Berlin, Foto: Rolf Fischer/Schwules Museum

Umdeutung des rosa Winkels

In den 1970 und 1980er Jahren griffen Aktivist*innen der Schwulenbewegung den rosa Winkel als Symbol auf und deuteten ihn als positives Zeichen der Solidarität um.

Homosexualität in DDR und BRD: Razzien gegen „175er“

Auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges hielten sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die DDR an der Kriminalisierung von Homosexualität fest. Während die DDR zu den Bestimmungen aus der Weimarer Republik zurückkehrte, galt Paragraph 175 in der BRD in der im Nationalsozialismus erlassenen Fassung weiter. Teilweise wurden Männer, die eine KZ-Haft überlebt hatten, nach 1945 wieder inhaftiert. Viele Deutsche hegten auch in den 1950er und 1960er Jahren Vorurteile gegen Homosexuelle. In der Berliner Abendschau von 1965 wurden sie als „Parasiten der Gesellschaft“ bezeichnet, viele verloren nach freiwilligen oder unfreiwilligen Outings ihren Job. Hatten sie wegen Paragraph 175 einen Eintrag in ihrem Führungszeugnis, war es schwierig eine neue Arbeitsstelle zu finden. In Großstädten wie München und Berlin fanden Razzien statt, bei denen die Polizei versuchte, Männer (sog. „175er“) in flagranti zu erwischen. Das Bundesjustizministerium schätzt, dass in der BRD bis 1994 rund 64.000 Männer nach §175 verurteilt wurden.

 

Entzug des Sorgerechts für lesbische Mütter

Auch lesbische Frauen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg weiter diskriminiert – und das auch von staatlicher Seite. Ein drastisches Beispiel ist der Entzug des Sorgerechts für Frauen, bei denen bekannt war, dass sie lesbisch lebten: Bis mindestens in die 1980er Jahre nahmen bundesdeutsche Gerichte auf dieser Grundlage lesbischen Müttern ihre Kinder weg. Um sich und ihre Kinder zu schützen, versteckten manche Mütter ihre Lebensgefährtinnen. Erst seit 2021 liegt eine wissenschaftliche Studie über lesbisches Leben in Rheinland-Pfalz vor, die das Thema des Sorgerechtsentzugs thematisiert.

 

Abschaffung des §175 in der DDR

In der DDR wurde Homosexualität ab Ende der 1950er kaum mehr als Straftat geahndet und Paragraph 175 schließlich 1968 abgeschafft. Hinsicht des gesetzlichen Mindestalters waren bi- und homosexuelle Personen allerdings weiterhin diskriminiert: Während das „Schutzalter“ für heterosexuelle Handlungen bei 16 Jahren lag, machten sich Menschen, die homosexuelle Beziehungen mit unter 18-Jährigen eingingen, weiterhin strafbar. Von dieser Regelung waren Frauen und Männer gleichermaßen betroffen. Und auch im Alltag blieb queeres Leben tabuisiert.

Gleichzeitig setzen sich Aktivist*innen für Selbstbestimmung und gesellschaftliche Veränderungen ein. In den 1970er Jahren wurde beispielsweise die Homosexuelle Initiative Berlin (HIB) aufgebaut und das erste DDR-weite Treffen lesbischer Frauen organisiert. Trotz Versuchen der Polizei, die Veranstaltung zu verhindern, nahmen mehr als 100 Personen daran teil.

Wandel in der BRD: Entschärfung des §175

In der BRD erfolgte der erste Schritt zum Wandel 1969: Paragraph 175 wurde entschärft, sodass Sex unter Männern ab 21 Jahren nicht mehr strafbar war. In den 1970er Jahren griffen Aktivist*innen der Schwulenbewegung den rosa Winkel als Symbol auf und deuteten ihn als positives Zeichen der Solidarität um. Trotzdem sollte es noch viele Jahre dauern, bis Paragraph 175 1994 komplett aus dem Gesetzbuch gestrichen wurde und dann noch einmal 23 Jahre, bis 2017 alle betroffenen Männer offiziell rehabilitiert wurden. Seitdem steht ihnen eine Entschädigung von 3.000 Euro zu und zusätzlich 1.500 Euro pro angefangenem Gefängnisjahr. Nur wenige haben seitdem einen Antrag gestellt.

Falls Sie von der staatlichen Diskriminierung durch den Paragraph 175 betroffen waren oder Menschen kennen, auf die das zutrifft, kann die Entschädigung beim Bundesministerium der Justiz bis zum 21.07.2027 beansprucht werden.

Jetzt Spenden
Mehr erfahren