"Der war gerade so alt wie ich?!“

Wiebke Finster ist Lehrerin für Geschichte und Englisch am Städtischen Gymnasium Erwitte. Vor etwa drei Jahren entdeckte sie #everynamecounts auf Instagram. Inzwischen hat ihre Schule schon an mehreren Challenges teilgenommen, allein 2024 hat das Gymnasium 600 Karteikarten indiziert.
Frau Finster, was hat Sie an der Initiative #everynamecounts interessiert?
Ich finde die Initiative richtig toll, weil dadurch nüchterne Zahlen einen Hintergrund bekommen. Die Schüler*innen lernen zwar im Geschichtsunterricht, dass in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten täglich Tausende Menschen getötet wurden. Aber was bedeutet das? Durch #everynamecounts stehen diese Zahlen plötzlich in Verbindung mit einzelnen Schicksalen. #everynamecounts zeigt, dass es im Prinzip jeden hätte treffen können, unabhängig von Alter, Geschlecht, Beruf, Herkunft usw. Nur ein kleiner, bedeutungsloser Marker – zum Beispiel die Ethnie oder Religion – war ausschlaggebend dafür, wer verfolgt wurde. Wir als Lehrer*innen haben die Verantwortung, den Schüler*innen das deutlich zu machen.
Wie setzen Sie das Tool in Ihrer Schule ein?
Wir setzen #everynamecounts auf zwei Arten ein: Zum einen haben wir in diesem Jahr gleich zweimal an einer Challenge teilgenommen. Die Challenges finden außerhalb des Lehrplans in einer Doppelstunde statt. Daran beteiligen sich Schüler*innen der Klassen 9 bis 12.
Zum anderen haben wir im Januar 2024 zum ersten Mal einen Projekttag „Gegen das Vergessen“ mit unseren 12. Klassen durchgeführt. Der Tag begann mit einer Lesung aus den Tagebüchern von Victor Klemperer. Im Anschluss haben die Schüler*innen mehrere Einzelschicksale von Verfolgtengruppen recherchiert. Daraus ist eine Ausstellung über 35 Menschen entstanden. In Rahmen des Projekttags haben wir dann auch wieder an einer Challenge teilgenommen.


Wie reagieren die Schüler*innen auf #everynamecounts?
Ein Großteil der Schüler*innen reagiert betroffen. Viele stellen Fragen zu den Personen und man merkt, dass sie sich mit den Schicksalen auseinandersetzen. Bei einer Challenge habe ich zum Beispiel erlebt, wie ein 16-jähriger Schüler die Daten eines gleichaltrigen Jungen eingegeben hat, der nach Ausschwitz deportiert wurde. Auf dieser Häftlingskarte gab es keinen Hinweis dazu, was später mit dem Jungen geschehen ist. Der Schüler hat mich gefragt: „Frau Finster, was bedeutet das?“. Ich habe gesagt: „Das könnte bedeuten, dass er ermordet wurde“. Und er antwortete ganz erschrocken: „Aber der war doch gerade mal so alt wie ich?!“.
Meist gibt es drei bis vier Schüler*innen, die weiterrecherchieren und versuchen herauszufinden, was aus den Menschen, deren Daten sie eingegeben haben, geworden ist, zum Teil auch im Online-Archiv der Arolsen Archives.
Spielt es eine Rolle, welche Dokumente digitalisiert werden?
Je näher die Schicksale der Menschen, deren Daten digitalisiert werden, an der Lebenswelt der Jugendlichen sind, desto stärker können sie sich hineinversetzen. Zu Schicksalen politischer Häftlinge beispielsweise ist die Distanz schon etwas größer.
Für welche Lerngruppen ist #everynamecounts ihrer Erfahrung nach besonders geeignet?
Ältere Schüler*innen aus den Abiturklassen gehen mit mehr Abstand an die Eingabe heran, sie reflektieren anders. Die Jüngeren haben einen unmittelbareren, emotionaleren Zugang. Wichtig ist aber meiner Meinung nach vor allem, dass das Thema NS-Zeit schon im Unterricht behandelt wurde. Sonst sind einfach zu viele Fragen während der Eingabe zu klären – das ist in einer Doppelstunde nicht zu schaffen. Deshalb setzen wir #everynamecounts erst ab der 9. Klasse ein.
Was kann #everynamecounts aus Ihrer Sicht leisten?
Durch die Initiative werden aus den reinen Opferzahlen einzelne Menschen, die einen Namen haben. Die Schüler*innen können aktiv an der Erinnerungskultur mitarbeiten und helfen, dass die Opfer nicht in Vergessenheit geraten. Das passiert normalerweise nicht im Schulunterricht. Ich finde es wichtig, den Schüler*innen zu vermitteln, dass sie auch eine eigene Verantwortung haben, dass solche Verbrechen nie wieder geschehen.