Interview mit Nathalie Letierce-Liebig: Eine Lebensaufgabe

Die langjährige Mitarbeiterin berichtet von ihrer Tätigkeit bei den Arolsen Archives

Nathalie Lethierce Liebig beim Treffen mit den Verwandten eines NS-Verfolgten aus Frankreich (September 2019). Quelle: Arolsen Archives

Nathalie Letierce-Liebig arbeitete über 40 Jahre lang bei den Arolsen Archives und beschäftigte sich dabei mit unzähligen Familiengeschichten. Im Jahr 2024 ging die Kollegin in die wohlverdiente Rente. Wir haben sie gefragt, wie sie heute auf ihre Arbeit zurückblickt und welche Schicksale ihr besonders im Gedächtnis geblieben sind.

Nathalie, welche Begegnung oder welches Schicksal hat dich persönlich am meisten bewegt?

Mir kommen unzählige Geschichten in den Sinn. Hinter jeder
Anfrage verbarg sich ein Schicksal, eine Familiengeschichte und menschliche
Tragödien, die man oft nur erahnen kann. Da gab es zum Beispiel Jean aus Polen,
dessen Vater Tadeusz die Nazis in ein Konzentrationslager brachten. Die Mutter
floh mit den Kindern nach Frankreich, wo bereits ihr Bruder lebte. Sie starb
kurz nach der Ankunft. Jean und seine Schwester blieben beim Onkel, der ein
Nazi-Kollaborateur war. Als Tadeusz befreit wurde und seine Kinder zurückhaben
wollte, erzählte ihm der Onkel, sie seien nicht mehr bei ihm. Die Kinder ließ
er in den Glauben, der Vater sei gestorben.
Für die Geschwister folgten Jahre der Misshandlung durch den
Onkel. Von Polen aus versuchte Tadeusz unermüdlich, sie zu finden. Aber Jean
erfuhr erst Jahre später, dass sein Vater noch lebte. Das lang ersehnte
Wiedersehen kam leider nicht zustande. Kurz bevor er die Reise zu seinem Sohn
antreten konnte, starb Tadeusz an einem Herzinfarkt. Jean war es wichtig, seine
Geschichte aufzuarbeiten und das Andenken seines Vaters wachzuhalten. In diesem
Zusammenhang haben wir lange miteinander korrespondiert; er kam auch ins Archiv.
Seitdem verbindet uns eine tiefe Freundschaft.

Wie hat sich deine Arbeit im Laufe der Jahre verändert?

Als ich 1984 anfing, gab es nur wenige Anfragen – vor allem
von Betroffenen oder Behörden, die für Renten Nachweise über eine erlittene
Haft oder geleistete Zwangsarbeit benötigten. Die Institution war für die
Öffentlichkeit nicht zugänglich, es gab keinen direkten Kontakt zu den
Betroffenen oder Angehörigen. Mit der Öffnung des Archivs und der
Digitalisierung der Dokumente hat sich vieles verändert. Ich bekam einen
Zugriff zur Datenbank, konnte Anfragen bearbeiten, in den Dokumenten
recherchieren und Kopien an die Familie schicken. Dadurch wurde mir das Ausmaß
der Verfolgung und die Gräueltaten der Nazis noch bewusster.
Ich wurde dann auch mit der Betreuung französischsprachiger
Besucher beauftragt. Durch die persönlichen Kontakte mit den Familien habe ich
viele emotionale Momente erleben dürfen, die ich nie vergessen werde – zum
Beispiel dieser Sohn, der eine Brieftasche öffnete und zum ersten Mal ein Bild
sah, auf dem sein verstorbener Vater ihn auf dem Arm hält. Aber auch wie
Menschen, die voneinander nicht wussten, sich zum ersten Mal trafen und sich in
die Arme fielen. Für mich war meine Arbeit eine Lebensaufgabe, die mit dem
Feierabend nicht endete und mich nachts oft nicht losließ. Und das ist immer
noch so. Ich unterstütze jetzt das Projekt #StolenMemory ehrenamtlich. Das sehe
ich als meine Pflicht gegenüber den Opfern des NS-Regimes und ihren
Angehörigen.

Hast du manchmal gespürt, wie wichtig deine Arbeit für die Nachkommen der Verfolgten ist?

Ja, sehr oft. Zum Beispiel bei der Anfrage von Véronique.
Sie hatte erst mit 18 Jahren erfahren, dass sie die uneheliche Tochter eines
deutschen jüdischen Überlebenden ist. Meine Recherchen ergaben, dass viele
Mitglieder der Familie ein tragisches Schicksal erlitten haben. Véronique war
es sehr wichtig, ihre Wurzeln und ihre jüdische Identität zu entdecken, auch
wenn es sehr schmerzhaft war. Seit ihrer ersten Anfrage sind Jahre vergangen,
aber sie informiert mich regelmäßig über die Erinnerungsarbeit, die sie
unermüdlich leistet für die Verwandten, die sie nie kennengelernt hat. Sie will
jetzt die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen, als Zeichen der Verbundenheit
mit ihrer deutsch-jüdischen Familie, aber auch als Zeichen der Versöhnung.
Was unter dem NS-Regime passiert ist, können wir leider
nicht ungeschehen machen. Aber wir können den Nachkommen der Opfer dabei
helfen, ihre Familiengeschichte aufzuarbeiten und das Andenken ihrer
Angehörigen für die zukünftigen Generationen wachzuhalten. Das ist in meinen
Augen eine der wichtigsten und verantwortungsvollen Aufgabe der Arolsen
Archives. Ich bin stolz darauf, einen kleinen Beitrag dazu geleistet zu haben.

Online Archive. Quelle: Arolsen Archives
Online Archiv. Quelle: Arolsen Archives
Zentrale Namenkartei. Quelle: Arolsen Archives.

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