„Es gibt noch viele offene Fragen“

Besonders in Mittel- und Osteuropa gibt es noch viele Familien, die bis heute nichts über den Verbleib ihrer Angehörigen wissen.

Anna Meier-Osiński ist Outreach-Managerin der Arolsen Archives in Mittelosteuropa. Im Interview spricht sie darüber, warum die Präsenz der Arolsen Archives in dieser Region so wichtig ist. 

Frau Meier-Osiński, welche Bedeutung haben die Arolsen Archives für Angehörige in Ländern wie Polen oder Ukraine?

In diesen Gebieten haben die Nationalsozialisten auf besonders brutale Weise viele Millionen Menschen verfolgt, inhaftiert und ermordet. Unser Archivmaterial kann helfen, individuelle Schicksale zu erschließen.

Gerade in Mittel- und Osteuropa gibt es noch unzählige Familien, die nicht wissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist. Das hat verschiedene Gründe. Zum Beispiel galten in der Sowjetunion ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nicht als Opfer, sondern wurden als Kollaborateure stigmatisiert. Aus Angst vor Repressionen schwiegen daher viele.
Hinzu kommt, dass viele Familien nicht wissen, an wen sie sich wenden können. Die Arolsen Archives und auch unser umfangreiches Online-Archiv sind in diesen Ländern noch viel zu wenig bekannt. Deshalb machen wir mit verschiedenen Kampagnen, Ausstellungen und Projekten auf uns aufmerksam. Auch über die klassischen Medien, das polnische Fernsehen, erreichen wir viele Menschen, die bisher nichts von den Angeboten der Arolsen Archives wussten.

Wer fragt heute nach Informationen?

Anfragen von NS-Überlebenden sind inzwischen aus Altersgründen selten geworden. Heute sind es meist die Nachkommen von Verfolgten, zum Beispiel Kinder, Enkel und sogar Urenkel, die sich für die Schicksale ihrer Familienangehörigen interessieren. Die jüngeren Generationen sind jetzt auf der Suche nach Antworten auf Fragen, die sie ihren Eltern oder Großeltern nie stellen konnten.

Wie umfangreich sind die Dokumentenbestände für Osteuropa und die Länder der ehemaligen Sowjetunion bei den Arolsen Archives?

Seit den 1990er Jahren kooperieren wir mit vielen Institutionen, um unsere Sammlung gezielt zu erweitern. Heute sind wir zum Beispiel im Besitz von Kopien aus russischen Archiven, die im Original nicht mehr zugänglich sind. Das zeigt, welchen Wert auch solche Dokumente haben können.

Außerdem unterstützen wir lokale Archive bei der Digitalisierung. Ein Beispiel ist die Kooperation mit der Gedenkstätte Stutthof. Unsere Partner erhalten Scans von Dokumenten mit Metadaten, und wir veröffentlichen die digitalen Sammlungen in unserem Online-Archiv. So können Interessierte die Dokumente einfach und schnell an einem zentralen Ort finden. Besonders dringlich ist aktuell die Unterstützung von ukrainischen Archiven, denen wir dabei helfen, ihre Sammlungen über die Opfer des Nationalsozialismus digital zu sichern.

Wie reagieren die Familien auf die Dokumente aus den Arolsen Archives?

Sie sind häufig sehr erstaunt über die Fülle an Informationen, die wir zur Verfügung stellen können. Manchmal lassen sich ganze Verfolgungswege lückenlos rekonstruieren, häufig sind es nur einzelne Stationen. Aber auch das sind wichtige Informationen, wenn man nur wenig weiß. Die Nachkommen sehen ihre Verwandten dann oft mit ganz anderen Augen. Manchmal finden Familien durch unsere Dokumente die Gewissheit, nach der sie jahrzehntelang gesucht haben.

Welche Bedeutung hat die Initiative #StolenMemory für Mittel- und Osteuropa?

In den Arolsen Archives befinden sich noch persönliche Gegenstände von vielen Hundert polnischen Verfolgten sowie von über 300 Verfolgten aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Mit #StolenMemory möchte wir auf diesen Bestand aufmerksam machen und Angehörige in Polen, Russland, der Ukraine und Belarus finden.

Seit die Wanderausstellung in einem umgebauten Überseecontainer durch Polen tourt, bekommen wir mehr Aufmerksamkeit, die wir nutzen, um auf unsere Sammlung und unsere Arbeit im Sinne der NS-Verfolgten hinzuweisen.

Wir wenden uns aber auch die interessierte Öffentlichkeit und möchten zum Mitmachen anregen. Jeder und jede kann im Rahmen der Kampagne Spuren der Verfolgten suchen und persönliche Gegenstände an die Familien zurückgeben.

Gibt es einen Fall, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Jede Begegnung ist außergewöhnlich, wenn man bedenkt, wie die Traumata der deutschen Besatzung bis heute das Familienleben und die Erinnerungen prägen. Fast jede Familie ist davon betroffen und gibt diese Erzählungen an die nachfolgenden Generationen weiter. Wenn nach über 80 Jahren scheinbar aus dem nichts die letzten persönlichen Gegenstände wie eine Uhr, ein Ehering, Schmuck oder Familienfotos eines ermordeten Familienmitglieds auftauchen, ist das immer etwas Besonderes. In dem Moment, in dem die Angehörigen diese Gegenstände in den Händen halten, wird allen die Tragweite bewusst.

Was bewirken die Rückgaben bei den Familien?

Bei Rückgaben stellen wir fast immer fest, dass die Angehörigen häufig praktisch nichts über die Schicksale wissen. Oft können wir ihnen wichtige Informationen geben, zum Beispiel den Begräbnisort. Es geht also immer noch um Schicksalsklärung, selbst nach so langer Zeit. Die Kontaktaufnahme mit Familien und die Dokumentation der Erinnerungen leistet aber auch einen wichtigen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis.