Föhrenwald: Ein Zuhause auf Zeit

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs lebten rund 11 Millionen Displaced Persons (DPs) in Deutschland, darunter etwa 250.000 bis 300.000 jüdische Überlebende, die nach dem Holocaust in DP-Lagern untergebracht wurden – viele davon in der US-amerikanischen Besatzungszone in Deutschland. Abraham Ben, der heute in Frankfurt lebt, verbrachte prägende Jahre seiner Kindheit im Lager Föhrenwald in Bayern.
„80 cm groß, 14 Kilo schwer, blonde Haare, blaue Augen, geboren 1947 – Nationalität: polnischer Jude, Name: Abram Ben.“ Die Angaben stehen auf der Identity Card der IRO, einem Ausweisdokument für DPs, von Abraham Ben, einem Dokument, das vor 75 Jahren ausgestellt wurde und heute zur Sammlung der Arolsen Archives gehört. Im März 2025 sitzt Abraham Ben in der Cafeteria der Arolsen Archives – begleitet von seiner Schwester Bascha und deren Ehemann. Der pensionierte Geschäftsmann engagiert sich heute in der jüdischen Gemeinde Frankfurt und gibt Führungen durch das ehemalige Lager Föhrenwald für jüdische Displaced Persons. Im Gespräch mit Charlotte Meiwes, Mitarbeiterin der Arolsen Archives, gibt er Einblicke in eine ganz besondere Kindheit: Er wuchs in einer Schicksalsgemeinschaft auf, in einer eng gestrickten jüdischen Community im Lager Föhrenwald. Diese frühen Erfahrungen prägen sein Leben bis heute.
Herr Ben, wie kam Ihre Familie nach Föhrenwald?
Mein Vater und meine Mutter stammten beide aus Polen. Sie überlebten den Holocaust in Russland, nach dem Krieg kehrten sie in ihre alte Heimat Polen zurück, aber die Lage für Juden war dort katastrophal. Es gab Übergriffe und Gewalt. Also flohen sie erneut – über die Tschechoslowakei nach Österreich und schließlich nach Deutschland. Ich wurde 1947 in Bamberg geboren, bevor wir nach Föhrenwald kamen.
Wie haben Sie Ihre Kindheit im DP-Lager erlebt?
Für uns Kinder war Föhrenwald ein Paradies. Wir konnten frei spielen, waren umsorgt und beschützt. Niemals hätte jemand gewagt, uns etwas anzutun! Wir Kinder lebten im Paradies, für unsere Eltern war es die Hölle.

Wir Kinder lebten im Paradies, für unsere Eltern war es die Hölle.
Abraham Ben über seine Kindheit im DP-Lager Föhrenwald
Oft heißt es, dass Föhrenwald Deutschlands letztes Schtetl gewesen sei. Was machte den Ort so besonders?
Föhrenwald war eine jüdische Enklave mitten in Deutschland. Es gab eine Synagoge, Schulen, ein Theater – sogar eine Mikwe. Die jüdischen Feiertage wurden festlich begangen, zum Beispiel Chanukka, an dem wir Kinder Geschenke von jüdischen Organisationen aus Amerika bekamen. Die meisten Menschen im Lager sprachen Jiddisch, und es gab eine jüdische Polizei, die für Sicherheit sorgte. Auch das kulturelle Leben war aktiv: Es gab Theateraufführungen, Konzerte und sogar eine Fußballmannschaft, die 1947 süddeutscher Lagermeister wurde.
Welche Wünsche und Sehnsüchte hatten die Erwachsenen im Lager?
Die Menschen halfen sich gegenseitig und es gab einen hohen Gemeinsinn. Alle hielten zusammen. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Die Erwachsenen lebten in ständiger Angst vor der Zukunft. Viele hatten ihre Familien verloren und wussten nicht, wohin sie gehen sollten. Sie waren gezeichnet von ihren Erlebnissen, viele waren körperlich, aber auch psychisch krank. Und gleichzeitig warteten sie auf eine Chance zur Auswanderung. Die meisten wollten Deutschland verlassen.
Warum sind Ihre Eltern geblieben?
Mein Vater war an Tuberkulose erkrankt. Die Auswanderungsbehörden lehnten ihn deshalb ab, die Behandlung war aufwendig und langwierig. Viele Juden blieben nur deshalb in Deutschland, weil sie krank waren und nirgendwo aufgenommen wurden.
Wie war es für Sie, Föhrenwald zu verlassen?
Da gab es auch wieder große Unterschiede bei den Kindern und den Erwachsenen: Für uns Kinder war es ja ein Zuhause, für die Erwachsenen ein Ort des Übergangs. Als das Lager Mitte der 1950er-Jahre aufgelöst wurde, mussten die jüdischen Familien gehen. Viele zogen nach München oder Frankfurt, aber sie fanden dort nicht dieselbe Gemeinschaft vor. Föhrenwald war ein Ort der Hoffnung – und des Wartens. Der Abschied fiel schwer, weil damit eine ganze Lebenswelt verschwand. Es kam später in meinem Leben immer wieder zu Begegnungen mit Menschen, die ihre Kindheit in Föhrenwald verbracht hatten. All diese Zusammentreffen war unheimlich bewegend und zeigten, welch großen Einfluss das Aufwachsen in der jüdischen Enklave für uns hatte.

Wir waren keine Kriminellen, keine Gestrandeten – wir waren Menschen, die keinen Ort auf der Welt hatten, der uns haben wollte.
Abraham Ben über die jüdischen DPs nach 1945
Was haben Sie aus dieser besonderen Kindheit für Ihr Leben gelernt?
Ich habe gelernt, dass Zusammenhalt alles bedeutet. In Föhrenwald gab es Armut, aber auch eine starke Gemeinschaft. Jeder half dem anderen. Diese Solidarität prägt mich bis heute. Und ich habe verstanden, dass man immer weitergehen muss – egal, wie schwer es das Leben macht.
Haben Sie noch eine Botschaft, die Sie uns hier mitgeben möchten?
Ja, ich möchte noch eine ganz wichtige Botschaft mitgeben: „Glaubt nicht den Rattenfängern!“
Credits Foto „Denkmal am Prälat-Maier-Platz, geschaffen von Ernst Grünwald 1998“:
User: Mattes, CC BY-SA 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0>, via Wikimedia Commons