„Der Warschauer Aufstand. 100 unbekannte Geschichten” – mit dieser Kampagne starteten die Arolsen Archives 2024 eine gezielte Suche nach Familien von NS-Verfolgten, die 1944 während des Aufstands deportiert wurden. Das Anliegen: Die Schicksale der Verschleppten aufzuklären und ihre persönlichen Gegenstände an die Nachkommen zurückzugeben. Mit Unterstützung von Freiwilligen ist es gelungen, schon 25 Familien ausfindig zu machen.

 

Feierliche Rückgabe im Warschauer Kulturpalast

Es waren bewegende Momente: Nach über 80 Jahren übergaben Mitarbeiterinnen der Arolsen Archives persönliche Gegenstände von NS-Verfolgten in die Hände der Angehörigen. Die bislang größte Rückgabezeremonie im Rahmen der #StolenMemory-Kampagne fand am 10. September 2024 im repräsentativen Kultur- und Wissenschaftspalast in Warschau statt. Die Familien von 11 NS-Verfolgten nahmen daran teil, fast alle waren mit mehreren Generationen vertreten.

„Für die Angehörigen ist der gemeinsame Austausch und das Gedenken in diesem feierlichen Rahmen von großer Bedeutung“, sagt Anna Meier-Osiński, Initiatorin der Kampagne. In Warschau wurden die Familien zunächst von Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives, begrüßt. Anschließend schilderten Archivmitarbeiterinnen, was über die Verfolgungswege der Deportierten bekannt ist, und auch die Angehörigen hatten Gelegenheit, über die Schicksale ihrer Familienmitglieder zu sprechen.

 

Die Großnichte von Jan Jędrzejczak. Foto: Maciej Stanik
Die bisher größte #StolenMemory-Rückgabezeremonie. Foto: Maciej Stanik

Letzte Andenken an die Verfolgten

Uhren, Eheringe, Familienfotos – die Arolsen Archives bewahren noch rund 2.000 Umschläge mit persönlichen Gegenständen von ehemaligen KZ-Häftlingen auf. Darunter auch viele von Menschen, die während des Warschauer Aufstands 1944 in Konzentrationslager nach Deutschland deportiert wurden. Hier nahm ihnen die SS alle ihre persönlichen Gegenstände ab.

 

Die Gegenstände, die bei dieser Zeremonie übergeben wurden, gehörten: Stanisława Wasilewska, Janina Mróz, Lucjan Chrzanowski, Danuta Krajewska geb. Szcześniak, Janina Januszewska, Jan Jędrzejczak, Ryszard Gogut, Józef Markiewicz, Rudolf Załucki, Wanda Ulatowska sowie den Schwestern Józefa Skórko und Zofia Strusińska.

 

Zeremonie auf dem Friedhof der Warschauer Aufständischen

Knapp zwei Monate später, am 26. November 2024, fand eine weitere Rückgabezeremonie statt, diesmal in der Gedenkhalle auf dem Friedhof der Warschauer Aufständischen. An dieser Übergabe nahmen auch Überlebende des Warschauer Aufstands teil. Sie, die den Aufstand als Kinder selbst miterlebt hatten, berichteten von ihren traumatischen Erlebnissen unter der deutschen Besatzung und von den Schicksalen ihrer deportierten Verwandten.
Einige Familien brachten Fotos, Briefe aus Konzentrationslagern und weitere historische Dokumente mit, die sie den Arolsen Archives zur Digitalisierung und Archivierung zur Verfügung stellten.

 

Die Familie von Aurelia Jasińska. Foto: Maciej Stanik

 

An diesem Tag wurden die Gegenstände dieser Personen zurückgegeben: Bolesław Ungier, Aniela Szczęścik, Wacław Lendzion, Ewelina Jaworowicz, Wacław Głodny, Bolesław Ślusarczyk und Aurelia Jasińska.

 

Ehering von Bolesław Ślusarczyk kehrt in die Familie zurück

Eine der Geschichten, die dank der Kampagne erzählt werden können, ist die von Bolesław Ślusarczyk, geboren am 16. April 1910 in Warschau. Er wurde als 34-Jähriger während des Aufstands, wie viele Tausend Warschauer*innen mit ihm, aus der polnischen Hauptstadt verschleppt. Eskortiert von Wehrmachtsoldaten kam er zu Fuß in das Durchgangslager in Pruszków, bekannt als Dulag 121. Das Lager befand sich auf dem Gelände der ehemaligen Eisenbahnwerkstätten und existierte vom 6. August 1944 bis zum 16. Januar 1945. In dieser Zeit durchliefen zwischen 340.000 und 650.000 Menschen das Lager, etwa 70.000 wurden in Konzentrationslager geschickt.
Bolesław Ślusarczyk kam Ende August 1944 in das KZ Stutthof, wenige Tage später verschleppten ihn die Nazis in das KZ Neuengamme bei Hamburg. Im Januar 1945 wurde er zum Einsatz im Außenkommando Meppen-Versen eingeteilt. Über sein weiteres Schicksal liegen bei den Arolsen Archives keine Dokumente vor.

 

Die Kinder von Bolesław Ślusarczyk bei der Rückgabe. Foto: Maciej Stanik

 

Bolesław überlebte die Haft. Sein 1937 geborener Sohn Jerzy, der mit seiner Mutter aus dem Warschauer Bezirk Wola nach Pruszków laufen mussten, erinnert sich: „Wir hatten nur Sandalen an den Füßen, später trugen wir Holzschuhe.“ Mehr als 80 Jahre nach dem Warschauer Aufstand bekamen nun Jerzy und Bolesławs Tochter Grażyna, die nach dem Krieg geboren wurde, den Ehering ihres Vaters zurück. Erst heute erfahren sie Details über seine Verfolgungsgeschichte: „Ich wusste, dass er in einem Konzentrationslager war, aber mein Vater wollte nie über die Kriegszeit sprechen“, erzählt Grażyna.

 

Die Kampagne geht weiter

Es ist vor allem Małgorzata Przybyła und der #StolenMemory-Freiwilligen Manuela Golc zu verdanken, dass bereits so viele Familien von Warschauer Aufständischen gefunden wurden. Für die Kampagne wurden die Arolsen Archives im November mit dem renommierten polnischen BohaterON-Preis ausgezeichnet. Und die Suche ist noch längst nicht zu Ende. Denn noch immer gibt es persönliche Gegenstände von NS-Verfolgten aus Warschau im Archiv, die darauf warten, an die Familien übergeben zu werden.

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