"Angriff auf die jüdische Bevölkerung": Interview mit Noa Luft

Noa Luft war Geschäftsführerin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) und ist im Vorstand des Jungen Forums Berlin der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) aktiv. Seit einem Jahr lebt sie in Tel Aviv.

Trauma für die israelische Gesellschaft

Noa, wie hast du die Angriffe der Hamas auf Israel in den vergangenen Wochen erlebt? Wie ist die Lage gerade?

Die israelische Gesellschaft ist gebrochen –  jeder hier kennt persönlich jemanden oder kennt jemanden, der jemanden kennt, der von den Hamas-Terroristen ermordet, entführt oder angegriffen wurde. Die Gesellschaft ist traumatisiert. Das jüdische Volk wurde erneut traumatisiert, denn seit der Shoah sind an einem Tag nicht mehr so viele Menschen ermordet worden, wie an dem Tag des Massakers vom 7. Oktober; und das sitzt sehr tief in der israelischen Gesellschaft.

Auf der anderen Seite hat mich die unglaubliche Solidarität und der gesellschaftliche Zusammenhalt in diesem Land überwältigt. Einen Tag nach dem Angriff ist der gesamte Dizengoff-Square, ein zentraler Platz im Herzen von Tel Aviv, schon zu einem Spenden-Sammelplatz umfunktioniert worden. Überall wurden Sachspenden für die Überlebenden des Massakers gesammelt, tausende Menschen sind zum Blutspenden gegangen. Fast alle Restaurants in Tel Aviv bereiten täglich Mahlzeiten für die Soldatinnen und Soldaten und die Überlebenden des Massakers zu. Das alles passiert als ehrenamtliches Engagement. So einen Zusammenhalt habe ich noch nie erlebt.

Ich glaube, dass es genau das ist, was das jüdische Volk ausmacht: In Zeiten einer Katastrophe, in Zeiten des Krieges steht man zusammen und hilft einander – und zwar komplett unabhängig von der politischen Gesinnung oder den persönlichen Ansichten. Man steht zusammen. Es gibt auch unzählige Reservistinnen und Reservisten, die sich freiwillig gemeldet haben, um für ihr Land einzustehen und es zu verteidigen. Schon am 8. und 9. Oktober, direkt nach dem Angriff vom 7. Oktober, habe ich auf Social Media gesehen, dass viele Menschen, mit denen ich eine Woche vorher noch Kaffeetrinken oder in einer Bar war, nun als Soldatinnen und Soldaten in Militär-Basen sind.

 

 

 

Terror in Israel 

Wie wird der Angriff der Hamas von Jüdinnen und Juden außerhalb Israels wahrgenommen?

Die Terroranschläge werden als Angriff auf die jüdische Bevölkerung wahrgenommen.

Klar, dieser barbarische Angriff der Hamas ist in Israel passiert, aber man sieht die Auswirkungen eben auch in den anderen Ländern und man sieht es als Angriff aufs jüdische Volk. Man weiß, dass die Hamas eine Terrororganisation ist und man weiß, dass deren einziges Ziel die Vernichtung Israels und der jüdischen Bevölkerung weltweit ist. Und das hat natürlich auch Einfluss auf die Jüdinnen und Juden in der Diaspora – insbesondere auch auf ihre Sicherheit.

 

Israelbezogener Antisemitismus darf nicht hingenommen werden

Wie blickst du – angesichts vieler antiisraelischer Proteste – auf die Lage in Deutschland?

Was zurzeit auf deutschen Straßen passiert, finde ich unglaublich erschreckend. Ich muss aber sagen, dass die Art und vor allem das Ausmaß des Antisemitismus für mich keine Überraschung ist. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland warnt schon seit Jahren vor diesen Dimensionen  des Antisemitismus in Deutschland und in meiner Wahrnehmung wurde dieser jahrelang so hingenommen und – gerade der israelbezogene Antisemitismus – teilweise auch totgeschwiegen.

 

 

Israelbezogener Antisemitismus

Antisemitismus richtet sich nicht nur gegen Jüdinnen und Juden, sondern in vielen Fällen auch gegen den jüdischen Staat Israel. Der Antisemitismusbeauftragte des Landes Berlin, Prof. Samuel Salzborn, sagt in unserem Interview, wie man diese Spielart des Judenhasses erkennen kann und worauf es im Kampf gegen Antisemitismus ankommt.

Zum Interview

 

Sicherheit der Jüdinnen und Juden in Gefahr

Was bedeutet das für Jüdinnen und Juden in Deutschland?

Mit meinen jüdischen Freundinnen und Freunden in Deutschland, vor allem in Berlin, tausche ich mich täglich darüber aus, ob es gerade sicherer ist, auf Berliner Straßen zu sein oder in einer Tel Aviver Wohnung mit einem Shelter (Bunker, Anm. der Redaktion) zu sein. Und dass wir uns darüber unterhalten, finde ich unglaublich erschreckend. Die Tatsache, dass sich letzten Freitag (13. Oktober, Anm. der Redaktion) jüdische Freunde und Freundinnen nicht getraut haben, auf die Straße zu treten, dass jüdische Institutionen geschlossen blieben, dass Synagogen schon wieder angegriffen werden, dass israelische Flaggen auf deutschen Straßen verbrannt werden – da stelle ich mir wirklich die Frage, wie sicher die europäischen Länder sind, wie sicher Deutschland noch für Juden ist. Und ich frage mich auch, ob es nicht teilweise schon zu spät ist, an diesen Zuständen etwas zu ändern.

 

Zeig Solidarität!

Wie können Menschen in Deutschland solidarisch auf diese Situation reagieren?

Das Schweigen vieler Menschen schmerzt. Ich habe wahrgenommen, dass Leute, die sich sonst immer für Menschenrechte einsetzen und dagegen einstehen, dass Menschen leiden, gerade sehr, sehr leise sind. Jetzt, wo es um Solidarität mit Jüdinnen und Juden geht, halten sie sich zurück und dieses Schweigen ist für uns sehr laut.

Mir ist wichtig zu betonen: Man kann sich für die palästinensische Zivilbevölkerung einsetzen, man kann aber gleichzeitig gegen die Terrororganisation Hamas sein. Und man kann insbesondere Solidarität mit Jüdinnen und Juden zeigen angesichts dieses barbarischen Angriffs der Hamas gegen Israel. Ich glaube, da müssen sich viele Leute hinterfragen und sich nun gegen den Antisemitismus stellen, der auf den deutschen Straßen gerade hochkocht. Wenn wir von Floskeln reden, die seit Jahren bekannt sind, wie „From the river to the sea, Palestine will be free“, muss man sich fragen, was damit gemeint ist. Und damit ist eben die Ausrottung des jüdischen Volkes in dieser Region gemeint.

 

»Jetzt, wo es um Solidarität mit Jüdinnen und Juden geht, halten sich [viele Menschen] zurück und dieses Schweigen ist für uns sehr laut.«

Noa Luft

 

Das Ziel der Hamas ist es auch, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und Furcht und Angst in der Gesellschaft zu verbreiten. Das passiert nicht nur durch diese Terrorakte, durch das barbarische Massaker, das sie vor fast zwei Wochen angerichtet haben, sondern es passiert vor allem auch im digitalen Raum und medial. Als es um die Desinformationen rund um den vermeintlichen Angriff auf ein Krankenhaus in Gaza gegangen ist, habe ich mich wirklich hilflos gefühlt. Ich wusste nicht mehr, was man noch machen soll. Ob es sich um eine israelische Rakete handelte oder nicht, spielt anscheinend keine Rolle mehr. Israel wird trotzdem dafür zur Verantwortung gezogen und der einzige Grund dafür ist, dass Fake News verbreitet wurden – und darauf setzt die Hamas und es kommt ihr zugute . Dass auch teilweise Redaktionen nicht mehr nach den journalistischen Standards gearbeitet haben und dass sich diese Fake News wie ein Lauffeuer im digitalen Raum verbreitet hat… Man sollte wirklich alle Infos und Sharepics doppelt prüfen, wirklich der Quelle auf den Grund gehen und sich zweimal überlegen, was man im digitalen Raum teilt und was nicht.

Der Social Media Krieg, der sich gerade anbahnt bzw. eigentlich schon begonnen hat, ist unglaublich gefährlich. Und hier ist jeder User und jede Userin gefragt, das eigene Internetverhalten zu überdenken.

Was jede*r gegen Antisemitismus tun kann

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