Israelbezogener Antisemitismus: „Da gibt es keine Grauzone“

Antisemitismus richtet sich nicht nur gegen Jüdinnen und Juden, sondern in vielen Fällen auch gegen den jüdischen Staat Israel. Der Antisemitismusbeauftragte des Landes Berlin, Prof. Samuel Salzborn, sagt in unserem Interview, wie man diese Spielart des Judenhasses erkennen kann und worauf es im Kampf gegen Antisemitismus ankommt.

Immer häufiger beziehen sich judenfeindliche Äußerungen auf den jüdischen Staat Israel. Wie kann man diese Form des Antisemitismus erkennen?

Beim antiisraelische Antisemitismus richtet sich der antisemitische Hass gegen Israel. Dabei wird der Staat Israel dämonisiert, es werden doppelte Standards an ihn angelegt und er wird delegitimiert.

 

Das ist der sogenannte 3D-Test, mit dem man israelbezogenen Antisemitismus feststellen kann. Was genau bedeuten die drei Ds, also Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards?

Dämonisierung bedeutet, Israel in ganz besonders düsteren, brutalen, bösartigen Farben zu malen. Das Delegitimieren stellt die Existenz Israels als jüdischer und demokratischer Staat grundsätzlich in Frage. Und doppelte Standards beschreibt, dass die Politik Israels mit anderen, strengeren Maßstäben gemessen wird, als die Politik anderer Staaten.

 

 

Wie tritt diese Form von Judenhass beispielsweise auf?

Etwa wenn man das Agieren der israelischen Armee gleichsetzt mit dem Agieren der Wehrmacht oder der SS und damit unterstellt, Israel würde sich so verhalten wie die Nationalsozialisten. Oder wenn man den israelischen Kampf gegen Terrorismus gleichsetzt mit eben diesem Terrorismus. Da wird dann Israel häufig in dunkleren Farben gemalt als die eigentliche Bedrohung im Nahost-Konflikt, der Terrorismus.

 

»Das Ressentiment des antiisraelischen Antisemitismus ist gekennzeichnet durch Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards. Kritik hingegen bezieht sich auf ein ganz konkretes Handeln, sie ist sachlich und nicht emotional überladen.«

Samuel Salzborn, Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus

 

Wie schwierig ist es, zwischen Kritik und Antisemitismus zu unterscheiden?

Es ist sehr einfach, zwischen einer sachlichen Kritik und einem antisemitischen Ressentiment zu unterscheiden. Das Ressentiment des antiisraelischen Antisemitismus ist wie gesagt gekennzeichnet durch Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards. Kritik hingegen bezieht sich auf ein ganz konkretes Handeln, sie ist sachlich, also auch nicht emotional überladen und nicht mit Affekten überfüllt. Wichtig ist auch die Frage, ob die, die Kritik üben, selbst offen für Kritik sind und bereit, ihre Positionen zu revidieren. Das ist ein sehr markanter Unterschied. Wenn ein antisemitisches Ressentiment vorgetragen wird, dann in der Regel durch Personen oder Organisationen, die völlig immun sind gegen Selbstkritik. Da gibt es auch viele Ähnlichkeiten mit dem Verschwörungsglauben, dessen Anhängerinnen und Anhänger ebenfalls nicht zugänglich sind für sachliche Auseinandersetzungen.

 

Demos vor Synagogen, Drohungen gegen jüdische Gemeinden

Sind jüdische Menschen in Deutschland von israelbezogenem Antisemitismus betroffen?

Ja, denn Antisemitinnen und Antisemiten ist es relativ egal, ob ein Jude auch Israeli ist oder nicht. Jüdinnen und Juden werden deshalb oft in Haftung genommen für die Politik des Staates Israel. Es wird dann so getan, als seien sie verantwortlich für die Politik der israelischen Regierung. Zudem gibt es das erschreckende Phänomen, dass Antisemitinnen und Antisemiten Eskalationen im Nahost-Konflikt zum Vorwand nehmen, um direkt Jüdinnen und Juden anzugreifen, etwa durch Demonstrationen vor Synagogen, Drohungen gegen jüdische Gemeinden und Sprechchöre.

 

Wie verbreitet ist israelbezogener Antisemitismus in Deutschland?

Etwa 15-20 Prozent der Menschen in Deutschland vertreten antisemitische Einstellungen. Der gegen Israel gerichtete Antisemitismus liegt weit darüber. Mir ist wichtig, zu betonen, dass wir den antiisraelischen Antisemitismus in allen politischen Milieus finden: im Rechtsextremismus, im Linksextremismus, im religiösen, insbesondere auch islamistischen, Kontext genauso wie in der politischen Mitte.

 

»Eine Mitverantwortung der politischen Mitte besteht darin, antiisraelischen Antisemitismus nicht klar genug zurückzuweisen. Da wird häufig so getan, als gebe es da eine Grauzone. Das halte ich für Unsinn. Bei Antisemitismus gibt es keine Grauzone. Es ist nicht etwas ein bisschen oder halb antisemitisch.«

Samuel Salzborn, Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus

 

Inwiefern ist die Mitte der Gesellschaft verantwortlich für den zunehmenden Antisemitismus?

Eine Mitverantwortung der politischen Mitte besteht darin, antiisraelischen Antisemitismus nicht klar genug zurückzuweisen. Da wird häufig so getan, als gebe es da eine Grauzone. Das halte ich für Unsinn. Bei Antisemitismus gibt es keine Grauzone. Es ist nicht etwas ein bisschen oder halb antisemitisch. Aber klar ist auch: Der antiisraelische Antisemitismus ist zu einer globalen Integrationsideologie geworden. Das heißt, politische Milieus, die sich ansonsten zutiefst verfeindet sind, etwa die extreme Rechte und Islamisten, sind sich an diesem Punkt wieder einig, finden zusammen, und zwar nicht nur hypothetisch, sondern auch auf Demonstrationen, die zum Teil extrem gewaltorientiert sind.

 

Der Begriff „Israel-Kritik“ ist bemerkenswert

Es gibt in Deutschland offenbar ein großes Interesse daran, über Israel zu reden.

Ja, es ist bemerkenswert, dass es so ein großes Interesse für die israelische Politik gibt. Der Staat ist flächenmäßig etwa so groß wie das Bundesland Hessen. Bemerkenswert ist auch, dass es in Deutschland den Begriff „Israel-Kritik“ gibt – das gibt es für andere Staaten nicht.

 

Wie kann denn ein aufgeklärtes, reflektiertes Sprechen über Israel aussehen?

Wichtig wäre, dass man sich mit den Grundlagen des jüdischen und demokratischen Staates Israel auseinandersetzt, um immer wieder aufgestellte Lügen – etwa die, Israel sei ein Apartheidstaat – mit Fakten widerlegen zu können. Zudem könnte man sich ansehen, wie die pluralistische israelische Gesellschaft funktioniert und sich schlicht mit dem Thema sachlich befassen. Dazu gehört dann auch, zu prüfen: Welche Quellen sind seriös? Fällt man auf Ressentiments rein? Zugleich ist die Auseinandersetzungen mit Israel in Deutschland wegen der weitgehenden Nichtaufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in den Familiengeschichten ganz stark geprägt ist von Emotion, Aggression, negativen Affekten und maßgeblich von Projektionen, die sich dann gegen Israel richten.

 

Plakat aus einer Kampagne der Amadeu Antonio Stiftung
Antisemitische Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus bei einer Versammlung in Berlin im Jahr 2021 (Foto: RIAS Berlin)

Antisemitische Vorfälle melden

In acht Bundesländern gibt es Meldestellen für antisemitische Vorfälle: Bayern, Berlin, Hessen, Niedersachen, Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Saarland, Schleswig-Holstein und Thüringen. Ihr Bundesverband RIAS bietet zudem das Online-Meldeportal report-antisemitism.de an. Die Meldestellen sorgen für eine Aufhellung des Dunkelfelds antisemitischer Vorfälle und vermitteln Beratung und Unterstützung für Betroffene.

 

Was kann unter diesen Umständen jeder und jede Einzelne gegen israelbezogenen Antisemitismus tun?

Auf staatlicher, zivilgesellschaftlicher und jüdischer Seite gibt es ein großes Engagement gegen Antisemitismus. Dieser Kampf kann aber nur gewonnen werden, wenn es das Anliegen jedes einzelnen Bürgers, jeder einzelnen Bürgerin wird und man im Alltag nicht wegschaut. Da ist es wichtig, ein größeres Bewusstsein zu schaffen und auch schmerzhafte Aspekte immer wieder anzusprechen, etwa die Nichtaufarbeitung der NS-Vergangenheit in Familiengeschichten – denn daraus resultiert die Abwehr dagegen, den Kampf gegen Antisemitismus als Anliegen aller Bürgerinnen und Bürger zu verstehen.

Professor Samuel Salzborn ist seit 2020 Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus. Der Politikwissenschaftler hat von 2012 bis 2017 an der Universität Göttingen gelehrt. In seinem Forschungsbereich hat er zahlreiche Bücher und Aufsätze veröffentlicht, zuletzt etwa „Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne“ (3. Aufl., 2020, erhältlich bei der Bundeszentrale für politische Bildung) und „Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“ (2020).

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