„Lebe! Staunend! Intensiv! Aus Hölle zurück, über deren Entmenschlichung sich geistiger Himmel der Freundschaft mit bedeutenden Frauen aller Länder spannte. Darum neben aller Qual innerer Reichtum, viel Liebe“, schreibt Alice Lesser im September 1945 an ihren Bruder Waldemar. Fast sechs Jahre KZ Ravensbrück hat die 64-Jährige überlebt. Ihre nach Brasilien emigrierten Töchter hatten versucht, über das IKRK in Kontakt zu bleiben. Dorthin wandert Alice 1948 schließlich selbst aus. Mit den Worten „Alles versuchen, mich fortzuholen. (…) Unter deutschen Menschen kann ich nicht mehr leben“, endet ihr Brief.
Alice Lesser kommt als Alice Elise Falckenthal 1881 in der kleinen Stadt Königsberg, heute Chojna, südlich von Stettin zur Welt. Ihre Eltern sind Gutsbesitzer. Sie wächst behütet auf. Um die Jahrhundertwende lernt sie den erheblich älteren Max Lesser kennen, verliebt sich. Der fast 50-Jährige arbeitet in Berlin als Korrespondent für das Neue Wiener Tagblatt und verkehrt als Literat und Schriftsteller in intellektuellen Kreisen. Theodor Fontane und Gerhart Hauptmann gehören zu seinem Bekanntenkreis. 1900 heiraten Alice und Max.

Nach ihrer Hochzeit leben sie im großbürgerlichen Berlin-Charlottenburg und bekommen innerhalb von vier Jahren drei Töchter. Die Eltern ermutigen die Mädchen kreativ zu sein. Die Älteste, Gerda, schreibt schon mit zwölf Gedichte. Ihr Vater schickt diese voller Stolz an Gerhart Hauptmann. Immer wieder fahren die Lessers an die Ostsee. In Neuendorf auf der Insel Wollin fühlen sie sich besonders wohl. Hier kommt 1919 auch die kleine Christine, genannt „Tine“ als Nachzüglerin, zur Welt. Kurz darauf beschließt Alice Lesser, dort eine Pension zu eröffnen. Ihr Mann steht kurz vor der Rente. Sein Einkommen als Korrespondent droht wegzubrechen. Fünf bis sieben Reichsmark nimmt Alice für Kost und Logis pro Nacht, ein stolzer Preis für damalige Zeiten, der auf eine bessere Unterkunft hindeutet.
Pensionsinhaberin an der Ostsee
Das Ehepaar Lesser pendelt mit der kleinen Tine nun zwischen Berlin und dem Ostseebad. Die drei großen Töchter sind mittlerweile erwachsen. Mit der Machtübernahme der NSDAP ändert sich ihr Leben schlagartig. Max ist Jude, Tochter Charitas, angehende Lehrerin, bekommt sofortiges Berufsverbot. Ihre ältere Schwester, promovierte Nationalökonomin, nimmt sich das Leben. Alice selbst ist evangelisch, standhaft aber hält sie zu ihrem jüdischen Mann. Schon 1933 gerät sie deshalb ins Visier der Gestapo.

Ab jetzt hält sich das Ehepaar Lessers ganz in Neuendorf auf. Der Druck auf sie wächst. Neue „Mischehen“ sind seit 1935 nicht mehr erlaubt, bestehende werden sozial geächtet. Viele im Ort bejubeln Hitler. Straßennamen werden schnell Nazi-Größen gewidmet. Max, der zunehmend erblindet, schreibt dennoch weiterhin pointierte, literarische Briefe an seine zum Teil bereits emigrierten, intellektuellen Freunde. Alice korrigiert und kommentiert sie. Auch Tochter Charitas wandert aus. Ab 1934 lebt sie in Palästina. Die anderen beiden Töchter, Eva und „Tine“, erhalten im Februar 1939 Visa für Brasilien und setzen von Bremen aus mit dem Schiff in ihre neue Heimat über. Nun sind Alice und Max allein auf sich gestellt.
Deportation im September 1939
Ein halbes Jahr später, kurz nach Kriegsbeginn im September, klopft die Gestapo an ihre Tür in Neuendorf. Vermutlich werden beide an diesem Tag abgeholt. Für Alice ist es dokumentiert. Am 2. November 1939 taucht ihr Name bei den Neuzugängen im KZ Ravensbrück auf. Als Internierungsgrund ist „politisch“ vermerkt. Max stirbt kurz darauf in einem Berliner Krankenhaus. Wann seine Frau und seine Töchter davon erfahren, ist ungewiss.

Die Töchter versuchen von Brasilien aus, Kontakt zu halten, wenden sich ans Rote Kreuz und erfahren, dass Alice im KZ Ravensbrück inhaftiert ist. 1940 ist sie 59 Jahre alt, „eine ältere, hochgebildete Dame“ wie sich Mitinhaftierte später erinnern. Mit Sorge fragen die Mädchen nach ihrem Gesundheitszustand und erfahren übers Deutsche Rote Kreuz, dass sie sich in einem „ausgezeichneten“ Zustand befände. „Bei einem Einlieferungsgewicht von 54,8 kg wiegt sie jetzt 59 kg“, zitiert das Reichssicherheitshauptamt aus einem ärztlichen Gutachten. Ob dies der Wahrheit entspricht, ist unklar. Auch Postkarten lassen sie ihr zukommen.
Chronologie der Korrespondenz des Roten Kreuzes



Kleine Gesten machen Mut
Ob diese Alice erreichen, ist ungewiss. Sie arbeitet in der KZ-Küche, muss früh aufstehen und lange Stunden stehen, aber es ist warm in den kalten Wintern und sie kann in unbeobachteten Momenten ein Stück Brot oder eine gekochte Kartoffel hinausschmuggeln. Nicht für sich, sondern für andere Frauen, denen es noch schlechter geht. Sie sieht, wie sie schikaniert werden, wie hart es ist, Straßen zu planieren, Steine zu klopfen, wie die Aufseherinnen Hunde auf sie hetzen, sie entwürdigen. Frauen werden zu medizinischen Experimenten abgeholt. Manche kommen nie wieder. Unter den politisch inhaftierten Frauen, die sie kennenlernt, ist der Zusammenhalt aber groß. Mit kleinen Gesten halten sie sich und ihre Hoffnung am Leben. Alice beginnt für sich und die anderen Frauen Gedichte zu schreiben.

,,Käthe summte mir einmal eine alte Bergmannsmelodie vor (….) und sie dichtete ein Gedicht dazu. Da ich dieses nicht mehr behalten habe, mir aber der trotzige Optimismus, der darin steckt, nicht aus dem Kopf will, habe ich mir aus der Erinnerung die Verse gemacht. Die Seele aber ist von Käthe“, schreibt sie später über ihr Gedicht „Wir schleppen schwere Lasten“, gewidmet der Sozialistin Käthe Leichter, die zusammen mit über 1.000 anderen Frauen aus dem KZ Ravensbrück im März und April 1942 in der Tötungsanstalt Bernburg ermordet wird. Die meisten Jüdinnen, aber auch Schwerkranke und alte, „arbeitsunfähige“ Frauen.

Gedichte und Musik gegen die Hoffnungslosigkeit
Alice, mittlerweile 61 Jahre alt, bleibt verschont – und tut viel dafür, dass auch andere Frauen im KZ die Hoffnung nicht verlieren. 1943 gibt sie ein Konzert auf einem aus der Effektenkammer geschmuggelten Akkordeon. Ein kurzer Moment, der den Anwesenden hilft, die unmenschliche Gewalt im Lager kurz zu vergessen, wie sie später berichten. Die Frauen tanzen und singen, eine gibt eine pantomimische Darbietung. Später schreibt Alice das Gedicht „Lied der Frauen in Ravensbrück“.
Doch irgendwann beginnen ihre Kräfte doch zu schwinden. „In der von mir erwähnten Zeit war sie am Ende ihrer Kräfte. Wir haben sie gemeinsam gerettet“, schreibt die Ravensbrück-Überlebende Urszula Wińska später über sie. Alice gehört nicht zu den über 7.000 Frauen, die das Schwedische Rote Kreuz in „Weißen Bussen“ wenige Tage vor Kriegsende rettet, sie verbleibt im KZ. Sie gehört zu den rund 2.000 Frauen, die zu schwach sind für einen Todesmarsch in Richtung Westen.
Ungewissheit nach der Befreiung
In den Wirren der Lagerauflösung und dem Vorrücken der sowjetischen Truppen, kann sie sich in einen nahegelegenen Wald flüchten. „Im Dunkeln der SS entwischt, so ihrem Erschießen entgangen“, schreibt sie später in einem Brief an ihren Bruder Waldemar. „Ohne Essen, schlecht bekleidet. Nächte draußen im Kampfgetümmel.“Sie schlägt sich durch bis zurück nach Neuendorf an der Ostsee. Ihr Haus, die Pension steht noch, aber innen ist alles geplündert.
„Bücher, Bilder – nichts mehr da. Schöne Bibliothek von Max. Boden und Keller noch von Gerümpel, mit Federn der zerschlitzen Betten bedeckt. Konnte ohne Hilfe nicht aufräumen (…) Hänge nun allein in der Luft, ohne jegliche Unterlagen (…). Wie heißt Tine jetzt? Ist Mann Jude? Weiß weder Adressen der Kinder noch Freunde (…).“ Zu den Frauen, die ihr Halt im KZ gaben, hält sie Kontakt. Und tut alles dafür, Deutschland so schnell wie möglich verlassen zu können.
Emigration nach Brasilien
Das Hamburger Komitee ehemaliger politischer Gefangener stellt ihr schließlich einen Identitätsnachweis aus. Zu dieser Zeit (1946) wohnt sie in einem Altenheim in Neumünster. 1948 gelingt es ihr, ihren Töchtern nach Brasilien zu folgen. Am 25. März steigt sie in Frankfurt in den Zug nach Paris, von wo sie am 3. April nach Rio de Janeiro abfliegt. Das schreibt ihre Freundin Katharina Staritz an ihren Vetter in Rio, den sie bittet, nach Alice zu schauen. Von ihr habe es seitdem kein Lebenszeichen mehr gegeben. „Sie hat sehr hübsche Gedichte gemacht. Der Umgang mit ihr hat mir im Lager viel bedeutet“, betont sie im Brief.

Aber Alice lebt. In Araruama, östlich von Rio findet sie ein neues Zuhause. Die Briefe nach Deutschland werden weniger. Ein letztes Mal schreibt sie noch an eine Freundin aus dem KZ und berichtet über die ärmlichen Verhältnisse in Brasilien, einer anderen sendet sie die Gedichte stellvertretend für die Lagergemeinschaft.
Bemühungen um Entschädigungszahlungen
In den 50er Jahren bemüht sie sich noch um Entschädigungszahlungen beim zuständigen Amt in Kiel. Dann zieht sie sich zurück und pflegt bis zu ihrem Tod 1970 nur noch Kontakt zu den engsten Angehörigen. „Wie einsam man wird. Dass der 89jährige Mann (Anmerkung: gemeint ist ihr Ehemann Max) und meine 93jährige Mutter allein sterben mussten, kann ich nicht verwinden“, schreibt sie in ihrem Brief an Bruder Waldemar.

Die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück verwahrt mittlerweile die Originale ihrer Gedichte zusammen mit einem kleinen Büchlein, das poetische Betrachtungen zu den vier Jahreszeiten enthält.

