Nach der Befreiung. Täter*innen auf der Flucht

Mit der Befreiung und dem Kriegsende setzt die Aufarbeitung der Verbrechen des Nazi-Regimes ein: Die Politik der Entnazifizierung beginnt, Prozesse werden vorbereitet, Dokumente gesichert, Einzelpersonen gesucht. Zum ersten Mal stellt eine internationale Staatengemeinschaft Vertreter eines Staates vor Gericht. Doch nicht alle NS-Täter*innen werden nach dem Krieg zur Rechenschaft gezogen. Viele entkommen der Justiz, leben unerkannt oder unbehelligt weiter – darunter auch diejenigen, die prominente Positionen im NS-Regime innehatten. Zwei Beispiele sind Richard Baer, der letzte Kommandant von Auschwitz, und Erna Wallisch, eine brutale KZ-Aufseherin.
Richard Baer – der Kommandant, der im Wald arbeitete

Richard Baer, der letzte Kommandant von Auschwitz. Quelle: Archiv KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Nachlass Hans Schwarz, 13-7-8-2.
Während andere NS-Verbrecher über Fluchtrouten nach Südamerika entkommen, bleibt Richard Baer in Deutschland. 1911 als Sohn eines Kolonialwarenhändlers und Landwirts geboren, absolviert er zunächst eine Konditorlehre, tritt 1930 der NSDAP bei und wird 1932 Mitglied der SS. Seine Laufbahn beginnt er als Wachmann in frühen Konzentrationslagern wie Dachau, Oranienburg und Sachsenhausen.
Im Krieg steigt Baer in der Hierarchie der Lager-SS auf: Für die gesamte Dauer des Regimes ist er Teil des KZ-Systems und arbeitet sich Stück für Stück nach oben. Im Jahr 1933 ist er noch Wachmann, daraufhin wird er 1937/38 Zugführer und Ausbilder. 1942 ist er Adjutant und stellvertretender Kommandant in Neuengamme. Schließlich wird er 1944 Kommandant Stammlager Auschwitz. Hier ist er verantwortlich für Selektionen und Massenmorde. Im Januar 1945 organisiert er die Räumung von Auschwitz, zwingt Zehntausende Häftlinge zu Todesmärschen und wird anschließend Kommandant des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora, wo Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeit leisten müssen.
Nach Kriegsende ändert Baer mithilfe eines gefälschten Entlassungsscheins aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft seinen Namen in Karl Neumann. Er findet eine Anstellung als Waldarbeiter bei der Fürstlich-Bismarckschen Forstverwaltung nahe Hamburg und lebt in unmittelbarer Nähe zur Familie seiner Ehefrau. Unter falschem Namen erwirbt er sogar ein eigenes Haus. Über 15 Jahre lang bleibt er unentdeckt. Ob die Familie von Bismarck von seiner wahren Identität weiß, ist bislang ungeklärt. Auffällig ist jedoch, dass auch der ehemalige SS-Oberscharführer Johann Mirbeth, der wie Baer in Auschwitz und Mittelbau-Dora tätig war, als Gärtner auf den bismarckschen Ländereien beschäftigt ist.
Verhaftung und Tod in Untersuchungshaft
Erst als die Frankfurter Staatsanwaltschaft im Zuge der Vorbereitungen des Auschwitz-Prozesses eine Belohnung von 10.000 D-Mark für Hinweise auf Richard Baer aussetzt, wird er im Dezember 1960 festgenommen. Nach seiner Überstellung nach Frankfurt verweigert er jede Aussage zu den ihm vorgeworfenen Verbrechen. Sein Lebenslauf wird zur Vorbereitung des Prozesses aufgenommen.
Am 17. Juni 1963 stirbt Baer in Untersuchungshaft in Frankfurt am Main an Herz- und Kreislaufversagen – und entgeht damit der juristischen Aufarbeitung seiner Verbrechen.
Erna Wallisch – die ungestrafte KZ-Aufseherin

Ohne Titel, Zeichnung Helen Ernst. Quelle: Museen der Landeshauptstadt Schwerin
Die gegen das NS-Regime engagierte Künstlerin war von 1941-44 im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert. Erna Wallisch war 1941 als Aufseherin in dem Lager tätig.
Erna Wallisch wird 1922 unter dem Mädchennamen Pfannstiel in Thüringen geboren. Über ihr frühes Leben ist wenig bekannt. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs schließt sie sich der SS an und gehört zum sogenannten SS-Gefolge – der Bezeichnung für weibliche Zivilangestellte der SS. 1941 beginnt sie im Alter von 19 Jahren ihren Dienst als Aufseherin im Frauen-KZ Ravensbrück. 1942 folgt die Anstellung im Vernichtungslager Majdanek bei Lublin im von Deutschland besetzten Polen. Dort lernt sie ihren späteren Ehemann Georg Wallisch kennen. Während ihrer Zeit im Lager wird sie schwanger. Trotz eines gegen Georg Wallisch geführten Diebstahlprozesses und seiner Verurteilung zu drei Jahren Haft, heiratet das Paar im März 1944 in Lublin. Erna Wallisch beendet ihren Dienst im Januar 1944, bringt im April ihre Tochter zur Welt und zieht anschließend nach Wien.
Als Aufseherin in Majdanek misshandelt Wallisch Häftlinge, ist für ihre Kälte und Brutalität bekannt. Überlebende schildern, wie sie einen inhaftierten Jungen mit einem Knüppel zu Tode prügelt. Sie selbst ist zu diesem Zeitpunkt schwanger.
Jahrzehnte der Straflosigkeit
Während andere hochrangige KZ-Aufseherinnen wie Maria Mandl oder Elisabeth Volkenrath verurteilt werden, lebt Wallisch über Jahrzehnte unbehelligt in Wien. Mitte der 1960er Jahre wird ein erstes Verfahren gegen sie in Graz eingeleitet, aber 1965 eingestellt. In den 1970er Jahren folgt ein zweites Verfahren in Wien. Auch dieses stellt die Staatsanwaltschaft ein – unter Berufung auf die damals geltende Rechtslage. Da Wallisch nur der „Beihilfe zum Mord“ beschuldigt wird, gilt ihr Verbrechen nach österreichischem Recht als verjährt. Die Behörden argumentieren zudem, es lägen keine ausreichenden Beweise für eine direkte Beteiligung an Morden vor. Überlebende von Majdanek widersprechen vehement und fordern, dass Wallisch zur Rechenschaft gezogen wird. Doch sie bleibt straflos.
Das Simon-Wiesenthal-Zentrum und die späte Aufmerksamkeit
Erst 2007 gerät Erna Wallisch erneut in die Schlagzeilen: Das Simon-Wiesenthal-Zentrum setzt sie auf die Liste der zehn meistgesuchten NS-Täter*innen. Im Januar 2008 gelingt es, fünf Zeug*innen aus Polen ausfindig zu machen, die bereit sind, über Wallischs Verhalten in Majdanek auszusagen. Die Diskussion um eine mögliche Auslieferung nimmt erneut Fahrt auf. Die österreichische Staatsanwaltschaft beginnt mit Ermittlungen, um die neuen Aussagen auf ihre Verwertbarkeit zu prüfen. Doch Wallisch stirbt am 16. Februar 2008. Das Ermittlungsverfahren wird eingestellt.
Zwei von vielen
Erna Wallisch und Richard Baer sind nur zwei von vielen NS-Täter*innen, die sich nach 1945 unter dem Deckmantel bürgerlicher Identitäten der Strafverfolgung entziehen konnten. Ihre Biografien stehen beispielhaft für jene, die von den Wirren der Nachkriegszeit profitierten – etwa durch gefälschte Papiere wie im Fall Baers. Doch solche Täuschungen wären vielfach kaum ohne Unterstützung möglich gewesen, sei es durch Familienangehörige, Arbeitgeber*innen oder Nachbar*innen: Die Strukturen und Netzwerke des NS-Regimes wirkten weit über dessen Ende hinaus. Anhänger*innen des Nationalsozialismus waren nach Kriegsende oft schnell wieder in Schlüsselpositionen. Diese Kontinuitäten haben unter anderem dazu geführt, dass Opfer der Nazis weiterhin diskriminiert und Verbrechen nicht geahndet wurden.
Perspektiven auf die Befreiung
Im Dossier zu 80 Jahren Befreiung zeigen wir verschiedene Perspektiven auf das Ende der NS-Herrschaft und ihre Nachwirkungen.
Vergessene Helfer*innen. Die Displaced Persons und ihr Einsatz für die Aufarbeitung der NS-Verbrechen:
Nach der Befreiung waren viele Displaced Persons nicht nur Überlebende – sie wurden zu Zeug*innen, Aktivist*innen und Organisator*innen. Viele setzten sich für Dokumentation, Aufklärung und Gerechtigkeit ein – oft aus eigener Initiative, nahezu immer unter schwierigsten Bedingungen.
Im Angesicht der Schuld: Die Tage der KZ-Befreiung aus den Augen deutscher Nachbarn
Wie nahmen die Deutschen das Leid der KZ-Häftlinge wahr? Zivilist*innen – Kinder wie Erwachsene – wurden bereits unter dem NS-Regime sowie nach der Befreiung mit dem Grauen des NS-Regimes konfrontiert.
„Wir machten einen Hungermarsch“
Zwang, Gewalt und Erschöpfung: Die Todesmärsche markieren das letzte grausame Kapitel der NS-Verbrechen. Petro Mischtschuk überlebte insgesamt 13 Lager und wurde auf zermürbende Märsche geschickt. Auch diese übersteht er. Wir fassen seine Geschichte zusammen und verlinken zu einem Zeitzeugengespräch mit ihm.
Über die Vorstellungskraft hinaus
Was fanden die Soldaten der Alliierten vor, als sie die Lager erreichten und die Opfer des NS-Terrors befreiten? Die Soldaten waren nicht vorbereitet auf die grauenhaften Szenen und konnten die Bilder ein Leben lang nicht vergessen.
Niederlage, Befreiung oder Sieg?
Wie wurde der 8. Mai 1945 in der DDR erinnert, wie wird er heute in der BRD und in den Ländern, die gegen das Deutsche Reich gekämpft haben, vergegenwärtig? Wie hat sich die Sicht auf das Kriegsende verändert und wie sieht es heute aus? Unter anderem mit diesen Fragen beschäftigen wir uns in unserem digitalen Lernmodul „Suspekt – Landschaft der Verbrechen“.