Nachrichten aus England für die Mutter im KZ

„Sorge dich nicht um uns“, schreibt Sonja Feinkuchen 1941 an ihre Mutter. Über das Rote Kreuz versucht sie den Kontakt ins KZ Ravensbrück zu halten – vergeblich

Nachricht der Töchter an Jochebeth Feinkuchen
Nachricht der Töchter Feinkuchen an ihre Mutter im KZ Ravensbrück, übermittelt via IKRK ans Deutsche Rote Kreuz. Quelle: Arolsen Archives, Doc ID 3774926, Provenienz: IKRK

„Das Kind sorgt sich sehr um seine Eltern“, schreibt das IKRK im Dezember 1940 an das Deutsche Rote Kreuz. Im Brief bittet das Komitee, nach Sonja Feinkuchens Eltern zu suchen, ein jüdisches Ehepaar, zuletzt wohnhaft in Cottbus. Sonja, mit einem Kindertransport nach England geschickt und seitdem von ihren Eltern getrennt, vermutet das Schlimmste. Zurecht, denn kurz darauf erfährt sie, dass ihr Vater tot und ihre Mutter im KZ Ravensbrück interniert ist. Mithilfe von Dokumenten, die die Arolsen Archives bewahren, lassen sich die Stationen ihrer Verfolgung nachzeichnen.

Die Feinkuchens leben ein gutes Leben in Cottbus. Jocheweth, genannt Hedwig ist mit Judka, der sich Julius nennt, glücklich verheiratet. 1922 kommt ihre Tochter Sonja, ein Jahr später die kleine Betty zur Welt. „Wir hatten ein sehr warmes, herzliches Familienleben mit sehr hingebungsvollen Eltern“, erinnert sich ihre Tochter Sonja in einem Zeitzeugeninterview 1995 an ihre Kindheit. Die Kinder haben alles, was sie brauchen. Der Ehemann ist ein angesehener Textilwarenhändler. Die Familie hat viele Freundschaften, die meisten, wie sie selbst, jüdisch. Auch Verwandtschaft lebt in der Stadt an der Spree.

Hedwigs Töchter lernen in Schwimmbad an der Spree schwimmen, trainieren im örtlichen Sportverein, gehen mit den Nachbarskindern zur Schule. Der Vater verdient gutes Geld. Ein sorgenfreies Leben, selbst nach der Machtübernahme der NSDAP. Nur langsam zeigt sich der Hass auf jüdisches Leben auch im Cottbusser Alltag. Noch darf Julius seine Textilwaren verkaufen, doch die Töchter verlieren Spielkameraden, müssen die Schule verlassen. Die Familie wird schließlich im Juni 1938 dazu gezwungen, in eine provisorische, kleine Wohnung in einem staubigen Warenlager umziehen.

Deportation der polnischen Verwandten

Ende Oktober 1938 werden in Cottbus, wie deutschlandweit, jüdische Familien mit polnischer Staatsbürgerschaft in der so genannten „Polenaktion“ in Viehwagons gepfercht und nach Polen gebracht, darunter die Brüder von Hedwig, ihre Ehefrauen und deren Kinder. Nur wenige Tage später, klingelt es früh am Morgen bei den Feinkuchens. Nichte Lieschen steht an der Tür und erzählt unter Tränen von den zerstörten jüdischen Geschäften in der Stadt, von ihrem jungen Mann Fritz, den die Gestapo abgeholt hat. Es ist der 9. November 1938. Julius verliert sein Geschäft, seine Bankkonten werden eingefroren.

Menschen aus Nürnberg, die auf ihren Abtransport warten, zu sehen
Am 28. Oktober 1938 werden bundesweit jüdische Menschen mit polnischem Pass ausgewiesen und in Viehwaggons Richtung Polen gekarrt. Im Bild sind Menschen aus Nürnberg, die auf ihren Abtransport warten, zu sehen. Quelle: Bundesarchiv, 146-1982-174-27, Provenienz: Bildarchiv Franken, Fotograf H. Großberger

Verzweifelte Versuche zu emigrieren

„Jetzt war klar, dass wir in Deutschland keine Zukunft haben“, erzählt Sonja im Zeitzeugeninterview. Julius sucht verzweifelt nach Wegen, das Deutsche Reich so schnell wie möglich zu verlassen. In den USA hat die Familie Verwandtschaft. Der Geschäftsmann beantragt Visa, ist ständig in Berlin im Konsulat. Aber die Wartelisten sind lang, viele jüdische Familien wollen emigrieren. Die besorgten Eltern hören von Kinderrettungstransporten nach Dänemark und England, organsiert von jüdischen Organisationen. 

Der Familienvater tut alles dafür, seinen Töchtern einen Platz nach England zu sichern, auch für die 17-Jährige Sonja, eigentlich schon zu alt für die Rettungsaktion: „An einem Freitag kam er von Berlin nach Hause und sagte, Mädchen, am Dienstag geht es los für euch. Ich habe mich nicht gefreut, der Gedanke meine Eltern zurückzulassen, war für mich schwer zu ertragen. Wir packten, wir weinten, ich war hysterisch.“

Kindertransport nach England

An einem Dienstagmorgen im Juli 1939 bringt Hedwig zusammen mit ihrem Mann die beiden Mädchen an den Bahnhof in Berlin, verabschiedet sich, winkt dem Zug hinterher. „Ich sehe dieses Bild noch heute vor mir. Wir haben sie nie wieder gesehen.“ Das Ehepaar harrt in Cottbus aus, wartet immer noch auf die Visa, wollen die Töchter bald in England abholen und gemeinsam nach Übersee auswandern.

Kinder polnischer Juden aus dem Gebiet zwischen Deutschland und Polen bei ihrer Ankunft mit der „Warschau“ in London, Februar 1939. Quelle: Bundesarchiv, Bildnummer: 183-S69279
Initiiert von jüdischen Organisationen reisten in der Zeit nach dem November-Pogrom 1938 über 10.000 jüdische Kinder allein ins Exil. Die meisten sahen ihre Eltern nie wieder. Im Bild: Kinder polnischer Juden aus dem Gebiet zwischen Deutschland und Polen bei ihrer Ankunft mit der „Warschau“ in London, Februar 1939. Quelle: Bundesarchiv, Bildnummer: 183-S69279.

„Wenn wir gewusst hätten, dass wir unsere Eltern nie wieder sehen werden, wären wir sicherlich nicht gefahren“, erinnert sich Sonja später. Sie und ihre Schwester halten sich ab Kriegsbeginn zunächst als Hausmädchen in einem College in Kent über Wasser, beginnen schließlich eine Ausbildung als Kinderpflegerinnen in Südengland, denn die Hoffnung, dass sie es mit ihren Eltern nach Amerika schaffen, schwindet. Täglich schreiben die Eltern. Irgendwann kommen keine Briefe mehr.

Letzte Lebenszeichen aus dem KZ

Mitte 1940 wendet sich Sonja voller Sorge ans Rote Kreuz. Schon fast ein Jahr hat sie nichts mehr von ihren Eltern gehört. Was ist mit ihnen geschehen? Zweimal schreibt das IKRK in ihrem Namen nach Deutschland, bevor im April 1941 Antwort kommt. Die Mädchen in England erfahren: Ihr Vater ist tot, verstorben an einem angeblichen „Nierenversagen“ im KZ Dachau, aber die Mutter lebt im Konzentrationslager Ravensbrück „in sehr gutem Ernährungs- und Kräftezustand“.

Antwortschreiben des DRK: Julius, von den Behörden als Judka geführt, ist verstorben, die Mutter interniert im KZ Ravensbrück.

Erste Informationen über den Verbleib der Eltern

Unten im Bild das Schreiben des IKRK ans Deutsche Rote Kreuz (DRK), datiert auf den 23. Dezember 1940. Es scheint bereits das zweite Schreiben mit der Bitte um Nachforschungen zum Ehepaar Feinkuchen zu sein. Möglicherweise um Mitleid zu erwecken, spricht Suzanne Ferrière, übrigens die Nichte des Mitgründers des IKRK Frédéric Ferrière, von der „kleinen Sonja”, dabei ist Sonja zu diesem Zeitpunkt bereits 18 Jahre alt. Im April 1941 kommt die Antwort vom DRK (links im Bild): Julius, von den Behörden als Judka geführt, ist verstorben, die Mutter interniert im KZ Ravensbrück.
Quellen: Arolsen Archives, Doc IDs 3774930 und 3774933, Provenienz: IKRK.

Schreiben des IKRK ans Deutsche Rote Kreuz (DRK), datiert auf den 23. Dezember 1940

Todesnachricht vom Vater

Weiß Hedwig, dass ihr Ehemann tot ist? Die Schwestern bitten das Rote Kreuz die Mutter zu informieren. Sie schreiben eine persönliche Nachricht, machen ihr Mut. „Sorge Dich nicht um uns, sind gesund und wohl“, schicken sie der Mutter auf einem Formular. Es ist fraglich, ob diese jemals Hedwig erreicht. 1941 sind die Baracken im KZ Ravensbrück bereits überfüllt. Die Frauen müssen Schwerstarbeit leisten, Hunger und Krankheiten bestimmen den Alltag. Seit dem 30. Januar 1940 ist die mittlerweile 49-Jährige schon dort.

Ermordung der Mutter

1942 wird Hedwig nach Bernburg verlegt, eine Tötungsanstalt. Sie gilt vermutlich als nicht mehr arbeitsfähig. Am 13.03.1942 wird sie dort ermordet. Insgesamt 14.000 Menschen sterben hier in den Gaskammern. Die Schwestern in England erfahren davon erst nach dem Krieg. Im Mai 1943 bitten sie das IKRK noch einmal um ein Lebenszeichen ihrer Mutter. Dem DRK überbringt das KZ Ravensbrück die Todesnachricht. Die Schwestern erreicht diese aber nicht. 

Stolperstein für Jochewed Feinkuchen in Cottbus11