#StolenMemory in Polen
Anlässlich des 80. Jahrestages des Überfalls auf Polen und des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs haben die Arolsen Archives mit Kooperationspartnern im September 2019 drei #StolenMemory Ausstellungen in Polen eröffnet. Die Ausstellungen und das Rahmenprogramm lenken den Blick auf die nationalsozialistische Verfolgung und die Auswirkungen bis zum heutigen Tag.
Ort der Erinnerung
Das Museum Krakau hat für die Ausstellungseröffnung am 3. September 2019 den Platz der Ghettohelden gewählt. Der Ort hat eine besondere Geschichte: Von 1941-1943 war er Teil des Krakauer Ghettos und der Platz, auf dem die deutschen Besatzer die jüdische Bevölkerung versammelten, bevor sie sie in die Vernichtungslager Belzec und Auschwitz-Birkenau transportierten und ermordeten. Auf die Kampagne #StolenMemory werden hier viele Menschen aufmerksam, denn der Platz wird heute von Touristen aus aller Welt besucht. Er ist zentral gelegen zwischen dem Museum der Oskar-Schindler-Fabrik und der Apotheke „Pod Orłem“. Das von Tadeusz Pankiewicz – dem einzigen nichtjüdischen Polen, der im Ghetto bleiben durfte – betriebene Geschäft war ein Treffpunkt der im Ghetto lebenden Juden: Sie konnten sich hier nicht nur mit Medikamenten versorgen, sondern nutzten den Ort, um frei miteinander zu sprechen, Kontakt nach außen zu halten und Informationen aus der Untergrundpresse auszutauschen.
»Die Ausstellung und die Rückgabe der persönlichen Erinnerungen an die Familien der NS-Opfer hat nicht nur eine internationale Bedeutung, sondern ist auch wichtig für Polen und für Krakau, weil hier Schicksale von Menschen aus dieser Region gezeigt werden.«
Jacek Salwiński, Direktor des Museums Krakau
Die #StolenMemory-Kampagne sieht für jede Ausstellung auch einen lokal-historischen Bezug vor. Einige der insgesamt 32 Plakate in der Krakauer Ausstellung geben Auskunft über die Schicksale von Menschen aus der Region. Einer von ihnen ist Wilhelm Tomasik, den die Nationalsozialisten mit dem ersten Transport in das KZ Auschwitz verschleppt hatten. Zur Eröffnung der Ausstellung kamen sein Sohn und sein Enkel, Ryszard und Robert Tomasik. Sie hatten von den Arolsen Archives Wilhelms persönliche Gegenstände – Fotos und Schulzeugnisse – sowie Informationen zu seinem Verfolgungsweg erhalten. Für die Familie war die Rückgabe der Sachen ein wichtiger Meilenstein, um sein Schicksal besser nachzeichnen zu können. Wilhelm Tomasik hatte die KZ-Haft überlebt, er litt jedoch sehr unter dem erlebten Gräuel und sprach nie über diese Zeit.
In der Ausstellung sind auch sogenannte „Gesucht“-Plakate zu sehen: Schicksale, zu denen Angehörige noch gesucht werden. „Wir hoffen, dass die Ausstellung es ermöglichen wird, noch verbliebene Gegenstände aus den Arolsen Archives an die Familien ehemaliger Gefangener aus nationalsozialistischen deutschen Konzentrationslagern zu übergeben,“ so Mateusz Zdeb, Kurator der Ausstellung.
#StolenMemory als Bildungsprojekt
Knapp 100 Schüler*innen der Oświęcimer Schulen waren am 4. September bei der Ausstellungseröffnung in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte IJBS in Oświęcim/Auschwitz dabei. In Kooperation mit der IJBS wird #StolenMemory zum Bildungsprojekt: Die Jugendlichen werden in mehreren Seminaren mit den Biografien und Dokumenten arbeiten, nach Schicksalen aus der Region recherchieren und Spuren suchen, um vielleicht weitere Familien zu finden. Im März 2020 soll eine Vorstellung der ersten Ergebnisse der Suchaktion stattfinden.
Nach einer gemeinsamen Besichtigung der Ausstellung erlebten die Jugendlichen die Geschichte eines der Schicksale aus Sicht einer Zeitzeugin: die 81-jährige Wanda Różycka-Bilnik berichtete von ihrem Vaters Czesław – einer der „Gefundenen“, die auf den Plakaten zu sehen sind. Wanda Bilnik war vier Jahre alt, als die Gestapo ihren Vater im Haus der Familie verhaftete, weil er der polnischen Untergrundarmee „Armia Krajowa“ angehört und gemeinsam mit seiner Frau verwundete Partisanen versorgt hatte. Die Nationalsozialisten deportierten Czesław Bilnik ins KZ Dachau und später ins KZ Neuengamme. Er starb im Mai 1945 bei der Bombardierung des Passagierschiffes Cap Arcona in der Lübecker Bucht. Die Jugendlichen nutzten die persönliche Begegnung und stellten sofort Fragen: Was passierte mit den Partisanen? Welche Rolle spielte Czesław Bilnik bei seiner Unterstützung des Widerstands? Was genau machten die Fallschirmagenten „Cichociemni“ (Dt: die leisen Dunklen)?
Wanda Bilnik hatte 2017 in einer polnischen Zeitung über die Arolsen Archives und die dort verwahrten persönlichen Gegenstände ehemaliger KZ-Häftlinge gelesen. Sie nahm Kontakt auf und erfuhr, dass die Arolsen Archives neben Dokumenten tatsächlich auch eine Taschenuhr verwahren. 2017 holte sie sie persönlich in Arolsen ab. Die Uhr und die Erinnerung an ihren Vater haben für Wanda Bilnik einen besonderen Wert, was sie den Jugendlichen eindrücklich vermittelte.
Wanda Różycka-Bilnik berichtet
Wanda Różycka-Bilnik erzählt Schüler*innen der Oświęcimer Schulen, was ihr die Rückgabe der Uhr ihres Vaters bedeutete:
„Als ich das las, klopfte mir das Herz. Ich habe eine kurze Information gelesen, dass es in Deutschland eine Organisation gibt, die sich mit der Rückgabe von Gegenständen ehemaliger KZ-Häftlinge beschäftigt. Hört mal, mir klopfte das Herz ungemein. Ich habe dann in Deutschland angerufen und mit sehr netten Damen gesprochen. Die Erste sprach kein Polnisch und stellte mich zu einer Zweiten durch. Die konnte gut Polnisch und ich erzählte ihr, worum es ging. Dabei hörte ich, wie sie auf der Tastatur tippte. Ich nannte ihr den Namen Bilnik und sie sagte, „Ja, wir haben hier so einen Namen. Und wir haben auch eine Uhr!“ Wisst ihr, das war für mich ein so großes Erlebnis. Das ist so ein großes Erlebnis, dass man es selbst erleben muss, um es verstehen zu können. Ich werde das nie vergessen. Die Sehnsucht nach den Eltern kann nichts ersetzen.“
Im Anschluss wurde die Ausstellung für die Öffentlichkeit eröffnet. Zahlreiche Interessierte aus der Stadt Oświęcim sowie der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau nutzten die Gelegenheit, die Plakatausstellung zu besichtigten und sich über die Kampagne #StolenMemory zu informieren. Die Ausstellung im öffentlichen Raum – die Plakate hängen am Außenzaun der IJBS – bietet einen freien Zugang für Besucher.
Geschichtsforum mit anschließendem Bildungsprogramm
Vom 9.-10. September nahmen die Arolsen Archives beim Geschichtsforum des Deutsch-Polnischen Jugendwerks (DPJW) in Danzig teil. Neben Gedenkstätten und Bildungseinrichtungen aus Polen und Deutschland waren Lehrer*innen und Pädagog*innen eingeladen, die deutsch-polnische Jugendbegegnungen organisieren. In Workshops stellte Anna Meier-Osiński, Abteilungsleiterin Tracing, die Potenziale der Kampagne #StolenMemory für die Bildungsarbeit vor. Anhand eines konkreten Schicksals recherchierten die Teilnehmer dann selbst: Im Online-Archiv der Arolsen Archives erforschten sie die Dokumente von Waldemar Rowiński, einem 17-jährigen polnischen Schüler, den die SS ins KZ Auschwitz verschleppte. Er starb bei der Bombardierung des Passagierschiffes Cap Arcona. Die Arolsen Archives verwahren unter anderem seine Schulzeugnisse und seinen Schülerausweis. Hinzu kommen Dokumente über seine Haft und seine Todesursache. Die daraus gewonnenen Informationen nutzten die Teilnehmer für weitere Recherchen und waren erstaunt über die vielen Anknüpfungspunkte und Ergebnisse, die sich in kurzer Zeit ergaben: „Ich habe ganz nebenbei etwas über das polnische Schulsystem erfahren“ – „Ich weiß jetzt, was es mit dem Schiffsunglück der Cap Arcona auf sich hat“ – „Ich weiß jetzt mehr über den ersten Transport ins KZ Auschwitz“ – waren nur einige der Stimmen.
Im Jahr 2020 wird die Kampagne #StolenMemory einen der Schwerpunkte der deutsch-polnischen Projekte des DPJW darstellen. Im Rahmen des Förderprogramms „Wege zur Erinnerung“ können sich interessierte Lehrer*innen und Pädagog*innen um einen Zuschuss für die Teilnahme an dem Projekt bewerben, in dem es vordergründig um die Arbeit mit Biografien und Verfolgungswegen gehen wird. Den Startschuss bildet ein Vorbereitungsseminar in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim/Auschwitz vom 30.01. – 03.02.2020. Interessierte können sich direkt beim DPJW zum Projekt anmelden.