Über die Vorstellungskraft hinaus

Leichen, Unrat, ausgezehrte und todkranke Häftlinge – als die alliierten Truppen in den Jahren 1944 und 1945 die Konzentrationslager im Reichsgebiet befreiten, begegnete ihnen unfassbares Leid. Die Soldaten waren nicht vorbereitet auf die grauenhaften Szenen, die sich ihnen in den Arbeitslagern und Tötungsanstalten der Nationalsozialisten boten.
Das erste von der US-Armee befreite KZ war das Außenlager Ohrdruf bei Gotha, Tarnname SIII. Von November 1944 bis April 1945 durchliefen etwa 20.000 Häftlinge aus verschiedenen europäischen Ländern das Lager, das zu Buchenwald gehörte. Sie mussten im benachbarten Jonastal Stollen in die Erde treiben, vermutlich um ein Ausweichquartier für die NS-Führung zu errichten. Am 4. April 1945 trafen die amerikanischen Truppen unter General George S. Patton in Ohrdruf ein.
Zeugen der bestialischen Morde
Einer der ersten Soldaten, die das Lager betraten, war Charles Thomas Payne, der Großonkel des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama. Mehr als 60 Jahre nach der Befreiung schilderte er in einem Zeitungsinterview, wie er die Situation damals erlebte:

„Dann kamen wir zu dem Lager mit dem großen, hölzernen Tor und dem Stacheldrahtzaun. Zuvor an jenem Tag hatten die Wachen Gefangene zusammengetrieben und mit Maschinengewehren niedergemäht, nahe am Eingang des Lagers. Sie hielten alle ihre Trinktassen noch in den Händen, so, als ob man sie zum Essen gerufen hatte. […] Ich hätte mir vorher so etwas nie vorstellen können.“
Charles Thomas Payne, der Großonkel des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama
Im Operations-Report der US-Armee vom 4. April 1945 ist vermerkt: „Kampferfahrene Veteranen, die dem Tod schon oft begegnet waren, blickten schweigend auf das Nazi-Schlachthaus. Manche weinten. Den Tod auf dem Schlachtfeld konnten sie verstehen. Dieses vorsätzliche, bestialische Morden aber ging über ihre Vorstellungskraft.“
Das Grauen dokumentieren
General Patton und seine Kommandeure entschieden, dass dieses Grauen für die Weltöffentlichkeit festgehalten werden müsse. Die Nachrichtentruppe der US-Armee, das sogenannte Signal Corps, wurde nach Ohrdruf beordert, um Fotos und Filmaufnahmen anzufertigen. Eine Woche später kam auch US-General Dwight D. Eisenhower, der Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte, nach Ohrdruf, um sich selbst ein Bild zu machen. Er besichtigte die Baracken, das Gelände und auch die Folterinstrumente und den Galgen im Lager.

Während des Inspektionsrundgangs durch das befreite KZ Ohrdruf betrachten General D. Eisenhower und eine Gruppe hochrangiger Offiziere der US-Armee, darunter auch General Patton, die verkohlten Überreste von Gefangenen, die während der Räumung des Lagers entlang der Bahngleise verbrannt wurden. Quelle: United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Harold Royall
Die Versorgung sichern
Noch im selben Monat, am 23. April 1945, befreite die US-Armee auch das Konzentrationslager Flossenbürg im Oberpfälzer Wald. Zwischen 1938 und 1945 waren im Stammlager und den Außenlagern etwa 100.000 Häftlinge aus über 30 Nationen inhaftiert, von denen mindestens 30.000 starben. Viele mussten schwerste Zwangsarbeit im Steinbruch Flossenbürg verrichten.
Auch dieses Lager räumte die SS vor der Ankunft der Alliierten, schickte Zehntausende auf Todesmärsche oder verfrachtete sie in Güterwaggons. Zurück blieben etwa 1.600 Häftlinge, viele todkrank. Aus dem militärischen Bericht der US-Armee geht hervor, dass sich die Soldaten zunächst um die Grundversorgung kümmerten.
Für viele Häftlinge kam jede Hilfe zu spät
Dem Bericht zufolge ließ der verantwortliche Major J. Blum zunächst Milch, Butter, Eier und andere landwirtschaftliche Produkte organisieren, um die Häftlinge, vor allem die Kranken, zu verpflegen. Der Speisesaal der SS wurde zur Küche umfunktioniert.
Da es im Lager kein medizinisches Personal gab, halfen Ärzte unter den Häftlingen, die Kranken medizinisch zu versorgen. Alle Patienten und Betten wurden mit DDT-Pulver gegen Läuse behandelt. Die Soldaten richteten die SS-Baracken her, um die Schwerkranken unter Quarantäne zu stellen. Die etwas gesünderen Personen wurden aus dem Hauptlager verlegt. Doch für viele Häftlinge kam die Hilfe zu spät, einige überlebten die Befreiung nur um wenige Stunden, mehr als 100 starben in den folgenden Wochen.
Würdiger Umgang mit den Toten
Die Befreier bemühten sich um eine würdige Bestattung der Toten. Major Blum stoppte die Verbrennung der Leichen und ließ das Krematorium schließen. Wegen der großen Zahl an Toten standen anfangs nicht genug Särge zur Verfügung, und die Leichenhalle musste erweitert werden, damit die Bestatter angemessen arbeiten konnten. Evangelische und jüdische Militärgeistliche besuchten das Lager und begleiteten die Beerdigungen auf dem Friedhof.
Hinrichtungen und Racheakte
Sowohl in Flossenbürg als auch im KZ Dachau, das am 29. April 1945 befreit wurde, hatten die meisten SS-Leute das Lager längst verlassen, als die Alliierten eintrafen. Nur wenige waren zurückgeblieben und bezahlten dafür zum Teil mit ihrem Leben. So kam es im KZ Dachau am Tag der Befreiung zu Schusswechseln zwischen amerikanischen Soldaten und SS-Männern. In dem für 6.000 Menschen geplanten Lager vegetierten zuletzt etwa 32.000 Häftlinge in völlig überfüllten Baracken auf engstem Raum, viele von ihnen sterbenskrank und fast verhungert. Einige Wachleute, die sich ergeben hatten, wurden noch an der Lagermauer von US-Soldaten hingerichtet, andere vereinzelt von Häftlingen getötet. Die große Mehrheit der KZ-Häftlinge lehnte diese Racheakte jedoch ab.
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