Über die
Vorstellungskraft hinaus

Bei der Befreiung der KZ wurden die Soldaten mit unvorstellbarem Leid konfrontiert. Für viele Häftlinge kam ihre Hilfe zu spät.

Buchenwald, 16. April 1945. Foto: Harry Miller, National Archives, Washington, 111-SC 20 36 27 – S. Quelle: Fotoarchiv Buchenwald, 020-46.007

Leichen, Unrat, ausgezehrte und todkranke Häftlinge – als die alliierten Truppen in den Jahren 1944 und 1945 die Konzentrationslager im Reichsgebiet befreiten, begegnete ihnen unfassbares Leid. Die Soldaten waren nicht vorbereitet auf die grauenhaften Szenen, die sich ihnen in den Arbeitslagern und Tötungsanstalten der Nationalsozialisten boten.

Das erste von der US-Armee befreite KZ war das Außenlager Ohrdruf bei Gotha, Tarnname SIII . Von November 1944 bis April 1945 durchliefen etwa 20.000 Häftlinge aus verschiedenen europäischen Ländern das Lager, das zu Buchenwald gehörte. Sie mussten im benachbarten Jonastal Stollen in die Erde treiben, vermutlich um ein Ausweichquartier für die NS-Führung zu errichten. Am 4. April 1945 trafen die amerikanischen Truppen unter General George S. Patton in Ohrdruf ein.

Zeugen der bestialischen Morde

Einer der ersten Soldaten, die das Lager betraten, war Charles Thomas Payne, der Großonkel des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama. Mehr als 60 Jahre nach der Befreiung schilderte er in einem Zeitungsinterview, wie er die Situation damals erlebte.

Charles Payne sitzt an einem Schreibtisch und hält einen Stift in der Hand.
Charles Payne. Quelle: Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, University of Chicago Library

Dann kamen wir zu dem Lager mit dem großen, hölzernen Tor und dem Stacheldrahtzaun. Zuvor an jenem Tag hatten die Wachen Gefangene zusammengetrieben und mit Maschinengewehren niedergemäht, nahe am Eingang des Lagers. Sie hielten alle ihre Trinktassen noch in den Händen, so, als ob man sie zum Essen gerufen hatte. Im Lager waren noch mehr Leichen, man hatte ihnen die Kleider ausgezogen und sie aufeinandergestapelt, zu großen Haufen. Sie waren verhungert. Ich hätte mir vorher so etwas nie vorstellen können.

Charles Payne, Angehöriger der US-Armee und Großonkel des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama

Im Operations-Report der US-Armee vom 4. April 1945 ist vermerkt: „Kampferfahrene Veteranen, die dem Tod schon oft begegnet waren, blickten schweigend auf das Nazi-Schlachthaus. Manche weinten. Den Tod auf dem Schlachtfeld konnten sie verstehen. Dieses vorsätzliche, bestialische Morden aber ging über ihre Vorstellungskraft.“

Das Grauen dokumentieren

Eisenhower schlug vor, auch amerikanische und britische Journalisten nach Thüringen zu bringen, um das Grauen in den befreiten Lagern zu dokumentieren. Sie sollten der Welt zeigen, welche Verbrechen die Nazis begangen hatten. Große amerikanische Zeitungen berichteten. So prägten die Bilder aus Ohrdruf das öffentliche Bewusstsein für die NS-Verbrechen in den USA, während das Lager in Deutschland bis heute weitgehend unbekannt ist.

Während eines Inspektionsrundgangs im April 1945 durch das befreite Konzentrationslager Ohrdruf betrachten General Dwight D. Eisenhower, General George S. Patton und weitere hochrangige US-Offiziere die Überreste ermordeter Häftlinge, die von der SS während der Räumung des Lagers verbrannt wurden. Die Szene dokumentiert die Konfrontation der Alliierten mit den Verbrechen der Nationalsozialisten.
Während des Inspektionsrundgangs durch das befreite KZ Ohrdruf betrachten General D. Eisenhower und eine Gruppe hochrangiger Offiziere der US-Armee, darunter auch General Patton, die verkohlten Überreste von Gefangenen, die während der Räumung des Lagers entlang der Bahngleise verbrannt wurden. Quelle: United States Holocaust Memorial Museum Provenance: Harold Royall Source Record ID: 111-SC-203414 (Album 1362).

Die Versorgung sichern

Noch im selben Monat, am 23. April 1945, befreite die US-Armee auch das Konzentrationslager Flossenbürg im Oberpfälzer Wald. Zwischen 1938 und 1945 waren im Stammlager und den Außenlagern etwa 100.000 Häftlinge aus über 30 Nationen inhaftiert, von denen mindestens 30.000 starben. Viele mussten schwerste Zwangsarbeit im Steinbruch Flossenbürg verrichten.

Auch dieses Lager räumte die SS vor der Ankunft der Alliierten, schickte Zehntausende auf Todesmärsche oder verfrachtete sie in Güterwaggons. Zurück blieben etwa 1.600 Häftlinge, viele todkrank. Aus dem militärischen Bericht der US-Armee geht hervor, dass sich die Soldaten zunächst um die Grundversorgung kümmerten.

Maschinengeschriebene Seite eines Berichts von Major Samuel Gray über das Konzentrationslager Flossenbürg nach dessen Befreiung durch die US-Armee im April 1945. Das Dokument beschreibt unter anderem die katastrophale Ernährungslage sowie den Umgang mit den Toten im Lager. Es ist Teil eines mehrseitigen Reports, der die Zustände aus Sicht eines US-Offiziers dokumentiert. Quelle: Arolsen Archives
Bericht von Major Samuel Gray über die Situation im Konzentrationslager Flossenbürg nach der Befreiung durch die US-Armee. Der mehrseitige Report umfasst Punkte wie Ernährung, aber auch Respekt gegenüber den Verstorbenen. Quelle: Arolsen Archives 1.1.8.0. /82107071

Für viele Häftlinge kam jede Hilfe zu spät

Dem Bericht zufolge ließ der verantwortliche Major J. Blum zunächst Milch, Butter, Eier und andere landwirtschaftliche Produkte organisieren, um die Häftlinge, vor allem die Kranken, zu verpflegen. Der Speisesaal der SS wurde zur Küche umfunktioniert.

Da es im Lager kein medizinisches Personal gab, halfen Ärzte unter den Häftlingen, die Kranken medizinisch zu versorgen. Alle Patienten und Betten wurden mit DDT-Pulver gegen Läuse behandelt. Die Soldaten richteten die SS-Baracken her, um die Schwerkranken unter Quarantäne zu stellen. Die etwas gesünderen Personen wurden aus dem Hauptlager verlegt. Doch für viele Häftlinge kam die Hilfe zu spät, einige überlebten die Befreiung nur um wenige Stunden, mehr als 100 starben in den folgenden Wochen.

Würdiger Umgang mit den Toten

Die Befreier bemühten sich um eine würdige Bestattung der Toten. Major Blum stoppte die Verbrennung der Leichen und ließ das Krematorium schließen. Wegen der großen Zahl an Toten standen anfangs nicht genug Särge zur Verfügung, und die Leichenhalle musste erweitert werden, damit die Bestatter angemessen arbeiten konnten. Evangelische und jüdische Militärgeistliche besuchten das Lager und begleiteten die Beerdigungen auf dem Friedhof.  

Hinrichtungen und Racheakte

Sowohl in Flossenbürg als auch im KZ Dachau, das am 29. April 1945 befreit wurde, hatten die meisten SS-Leute das Lager längst verlassen, als die Alliierten eintrafen. Nur wenige waren zurückgeblieben und bezahlten dafür zum Teil mit ihrem Leben. So kam es im KZ Dachau am Tag der Befreiung zu Schusswechseln zwischen amerikanischen Soldaten und SS-Männern. In dem für 6.000 Menschen geplanten Lager vegetierten zuletzt etwa 32.000 Häftlinge in völlig überfüllten Baracken auf engstem Raum, viele von ihnen sterbenskrank und fast verhungert. Einige Wachleute, die sich ergeben hatten, wurden noch an der Lagermauer von US-Soldaten hingerichtet, andere vereinzelt von Häftlingen getötet. Die große Mehrheit der KZ-Häftlinge lehnte diese Racheakte jedoch ab.

Perspektiven auf die Befreiung

Im Dossier zu 80 Jahren Befreiung zeigen wir verschiedene Perspektiven auf das Ende der NS-Herrschaft und ihre Nachwirkungen.

Vergessene Helfer*innen

Die Displaced Persons und ihr Einsatz für die Aufarbeitung der NS-Verbrechen.

Walter Cieślik sitzt in Häftlingskleidung an einem Schreibtisch. Auf dem Bild ist eine kaum lesbare handschriftliche Notiz am rechten Bildrand vermerkt.
Walter Cieślik in Häftlingskleidung an seinem Schreibtisch im IIO, Dachau, 5.6.1945. Quelle: 1832/33281/KZ-Gedenkstätte Dachau

Im Angesicht der Schuld

Die Tage der KZ-Befreiung aus den Augen deutscher Nachbarn

Blick auf einen Teil des Konzentrationslagers Ohrdruf am 6. April 1945: Zu sehen sind mehrere hölzerne Baracken, teils zerstört, in einem offenen, schlammigen Gelände. Die Aufnahme entstand kurz nach der Befreiung durch alliierte Truppen.
Blick auf einen Teil des KZ Ohrdruf. Quelle: United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Nancy & Michael Krzyzanowski, 06.04.1945, Foto Nr. 85351.

„Wir machten einen Hungermarsch“

Zwang, Gewalt und Erschöpfung: Die Todesmärsche markieren das letzte grausame Kapitel der NS-Verbrechen.

Peter Mischtuk bei einer Gedenkveranstaltung im Jonastal im Jahr 2015. Er trägt Häftlingskleidung und hält die ukrainische Flagge.
Peter Mischtuk bei einer Gedenkveranstaltung im Jonastal 2015. Quelle: Klaus-Peter Schambach, www.tatort-jonastal.de

Niederlage, Befreiung oder Sieg?

Wie hat sich die Sicht auf das Kriegsende verändert und wie sieht es heute aus? Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns in unserem digitalen Lernmodul „Suspekt – Landschaft der Verbrechen“.

Nach der Befreiung: NS-Täter*innen auf der Flucht

Mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes flohen viele Täter*innen – und viele entzogen sich der Verantwortung.

Die Zeichnung der Künstlerin Helen Ernst zeigt eine situation im KZ Ravensbrück. Vier Frauen arbeiten mit gebeugtem Rücken und schaufeln. Hinter ihnen stehen zwei weitere Frauen, gekleidet in Uniformen. Eine von ihnen hebt den rechten Arm in Form eines NS-Grußes.
Ohne Titel. Zeichnung von Helen Ernst. Quelle: Museen der Landeshauptstadt Schwerin