Ab Januar 1945 werden die meisten Zwangsarbeits- und Konzentrationslager von den Alliierten befreit, mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai endet der Zweite Weltkrieg in Europa. Millionen Menschen bleiben heimatlos zurück. Ihre Versorgung und die Suche nach vermissten NS-Opfern stellen die Alliierten vor große Herausforderungen. In dieser chaotischen Situation leisten Überlebende unschätzbare Hilfe.

 

Walter Cieślik, Vilma Andersons und Philipp Auerbach sind drei von insgesamt rund 11 Millionen sogenannten Displaced Persons (DPs). Das waren vor allem ehemalige Zwangsarbeiter*innen, Kriegsgefangene, Flüchtlinge und befreite KZ-Häftlinge, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland befanden. Ihre Schicksale zeigen, wie sich NS-Verfolgte nach der Befreiung durch die Alliierten für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen einsetzen.

Sie sichern Dokumente aus den ehemaligen Konzentrationslagern, die die Gräueltaten der Nationalsozialisten belegen und die Suche nach Vermissten erleichtern. Sie helfen bei der Bergung und Identifizierung verstorbener Mithäftlinge oder kämpfen für die Entschädigung von Überlebenden. Einige übernehmen politische Ämter, andere arbeiten bei Hilfsorganisationen und Suchdiensten oder gründen selbst Auskunftstellen. Auch beim International Tracing Service, den heutigen Arolsen Archives, leisten DPs wertvolle Arbeit. Während weite Teile der deutschen Bevölkerung untätig bleiben, tragen Menschen wie Walter, Vilma und Philipp entscheidend zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bei.

 

Walter Cieślik – Er leitete eine der ersten Auskunftstellen

Eine der von Überlebenden selbst gegründeten Auskunftstellen war das International Information Office (IIO). Ehemalige Häftlinge des Konzentrationslager Dachau gründen es direkt nach ihrer Befreiung. Einer von ihnen ist Walter Cieślik, der die Leitung des IIO übernimmt.

Die Gestapo verhaftet den in Polen geborenen Bankangestellten am 25. Mai 1940 im schlesischen Zabrze und inhaftiert ihn als politischen Häftling im KZ Dachau. Hier erhält Walter eine Aufgabe in der Schreibstube, wodurch er Einblicke in die Häftlingsunterlagen des Lagers erhält. Kurz vor der Befreiung durch die Alliierten am 29. April 1945 gelingt es einigen Häftlingen, Teile eben dieser Häftlingsunterlagen sicherzustellen. Auf Grundlage der Dokumente erstellen Mitarbeitende des IIO später Inhaftierungsbescheinigungen, mit denen ehemalige Mithäftlinge und ihre Angehörigen Fürsorgeleistungen beantragen können. Im Sommer 1946 soll mit den überlieferten Dokumenten ein Verzeichnis aller Häftlinge des KZ Dachau erstellt werden. Walter Cieślik setzt das Vorhaben um. Die dabei entstandenen Listen der in Dachau inhaftierten und verstorbenen Personen sind nicht nur ein Personenverzeichnis, sondern gleichzeitig ein Beleg für die Grausamkeiten der Nationalsozialisten.

1947 geht Walter zurück nach Polen und setzt sich bis zu seinem Tod 1998 für die Unterstützung ehemaliger Insassen der Konzentrationslager und Ghettos ein.

 

Vilma Andersons – Sie blieb im Land der Täter, um zu helfen

Eine weitere Displaced Person in leitender Funktion, ist die gelernte Lehrerin Vilma Andersons. Mitte Oktober 1944 muss sie aus ihrem Heimatland Lettland fliehen, denn ab 1940 gerät Lettland wechselnd unter sowjetische und nationalsozialistische Besatzung. Vilmas Flucht endet in Stuttgart, wo sie bei der Firma Hagesüd in Stuttgart-Feuerbach Zwangsarbeit als Packerin verrichten muss. Nach ihrer Befreiung durch die Alliierten im Mai 1945 lebt sie in Lagern für lettische DPs und engagiert sich in verschiedenen Hilfsorganisationen. Von 1946 bis 1949 arbeitet sie erst bei der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) und anschließend bei der International Refugee Organization (IRO). Beide Organisationen übernahmen die Versorgung und Unterstützung der Millionen DPs.

In ihrem Antrag auf Unterstützung an die IRO gibt Vilma an, dass sie in die USA oder Kanada auswandern möchte. Doch letztlich entscheidet sich Vilma, in Deutschland zu bleiben. 1949 zieht sie ins nordhessische Arolsen und beginnt für den International Tracing Service (ITS) zu arbeiten. Als Leiterin der Abteilung Kindersuchdienst hilft sie maßgeblich bei der Suche nach Überlebenden und ist gleichzeitig eine der ersten Frauen in einer leitenden Position beim ITS.

 

Als die IRO im Juli 1947 die Versorgung der DPs übernahm, führten die Mitarbeiter*innen eine Überprüfung aller DPs durch. Um unterstützt zu werden, mussten sie in einem vierseitigen Formular Fragen über sich beantworten – dem „application for IRO assistance“. Außerdem legten die Alliierten bereits 1944 fest, dass alle DPs mit Hilfe einer „D.P. registration card“ registriert werden sollten. Ab Januar 1948 erfüllte die „identity card“ für DPs eine wichtige Aufgabe in der amerikanischen Zone. Dieser Ausweis belegte, dass die Person berechtigt war, sich in einem DP-Camp aufzuhalten.

Philipp Auerbach – Er setzte sich unerschütterlich für die Rechte der Überlebenden ein

Philipp Auerbach gilt als der bekannteste Jude Deutschlands der Nachkriegszeit. Nach seiner Befreiung aus dem KZ Buchenwald am 11. April 1945 setzt er sich vehement für die Unterstützung und Versorgung vor allem jüdischer DPs ein. Ab September 1945 arbeitet er als Oberregierungsrat für die Fürsorge politisch, religiöser und rassischer Verfolgter in Düsseldorf. Ein Jahr später leitet er als bayrischer Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte das Amt für Wiedergutmachung in München. Er versorgt die DPs mit grundlegenden Dingen und entwickelt Ideen, wie die Versorgung finanziert werden kann. Dabei ist er nicht leise und demütig, sondern fordert die Hilfe für Überlebende als ihr gutes Recht ein. Er widerspricht damit ganz fundamental dem Bild, wie sich Opfer für viele gesellschaftlich zu verhalten hatten und schon bald macht ihn seine unkonventionelle Art zur Zielscheibe der bayerischen Politiker*innen und Justiz. Im Sommer 1952 startet der bayrische Justizminister Josef Müller eine breit angelegte Kampagne gegen ihn. In einem umstrittenen Prozess wird er trotz fehlender Beweise verurteilt. Noch in der Nacht der Urteilsverkündung nimmt Philipp Auerbach sich das Leben. Zwei Jahre später wird das Urteil gegen ihn aufgehoben, er wird vollständig rehabilitiert. Eine detaillierte Darstellung des folgenschweren Prozesses gegen Philipp Auerbach finden Sie in unserem True Crime Podcast Verbrechen Vergessen.

 

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