„Sej a Mensch“ gibt Leon Reif seinem Sohn, dem berühmten Sportjournalisten Marcel Reif, mit auf seinen Lebensweg. In den Jahren der deutschen NS-Herrschaft hat Leon als junger Mann am eigenen Leib erfahren, was es heißt, wenn Menschlichkeit mit Füßen getreten wird. Als jüdischer Zwangsarbeiter entgeht der Pole knapp dem Transport ins Vernichtungslager Belzec. Zeitlebens schweigt er über die traumatischen Erlebnisse – auch, um seinen Kindern ein unbeschwertes Leben in Deutschland zu ermöglichen. Die Arolsen Archives verwahren Dokumente, die helfen, sein Leben nachzuzeichnen.
„Wir konnten eine dumpfbackig fröhliche, entspannte, lustige, liebevolle Kindheit und Jugend leben, unbelastet, unbeschwert“, sagt Marcel Reif in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk 2024. Nie spricht sein jüdischer Vater über das Erlebte in der NS-Zeit. Nie fragt sein Sohn nach, auch aus Angst, Unerträgliches zu erfahren. Erst Jahre nach dem Tod des Vaters 1994 bricht die Mutter des Sportjournalisten das Schweigen.
Leon Reif wird am 9. Juli 1914 in Borysław, in den Nordkarpaten geboren. Die Kleinstadt liegt in der historischen Region Galizien in der Nähe von Lemberg, die in dieser Zeit zu Österreich-Ungarn gehört. Nach dem 1. Weltkrieg wird sie Teil des wieder gegründeten polnischen Staates. Schon im 19. Jahrhundert hatte sich die Region zu einem Zentrum der Erdölindustrie entwickelt. Die stark wachsende Industrie zog Arbeitskräfte und Händler an, darunter auch viele jüdische Familien. Die sechsköpfige Familie Reif war eine davon.

Deportation ins Vernichtungslager Belzec
Im Jahr 1939, zu Beginn des 2. Weltkriegs, leben etwa 14.000 Jüdinnen und Juden in der Region, ab jetzt unter sowjetische Besatzung. Eine Folge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts von Hitler und Stalin. Zu diesem Zeitpunkt ist Leon, jiddisch Leib, der Löwe, 25 Jahre alt, ein junger lebensfroher Mann. Er arbeitet als Tischler, sein Vater Natan hat eine Möbelfabrik. Drei Jahre später besetzen die Deutschen Borysław. Hunderte jüdische Männer werden verhaftet, erschossen oder verschleppt.
Im Sommer 1942 deportiert die SS Tausende ins nahe gelegene Vernichtungslager Belzec. Von den Viehwaggons kommen die Menschen direkt in die Gaskammern. Auch Leon und seine Geschwister sitzen schon im Zug. Doch ein Mann, etwa im gleichen Alter wie Leon, kommt ihnen zur Hilfe. Es ist Berthold Beitz, der kaufmännische Leiter der Karpathen Öl AG, der die SS am Bahnsteig zurechtweist. Vor ihren Waffen im Anschlag hat er keine Angst: „Ich brauche die Leute hier zur kriegswichtigen Arbeit, und wenn ihr mich daran hindert, sie mitzunehmen, könnt ihr was erleben!“ Das erzählt Leon nach dem Krieg seiner jungen Frau Lucie und diese nach Jahrzehnten ihrem Sohn Marcel. Berthold Beitz ist heute vor allem als einflussreicher Industrieller der Nachkriegszeit bekannt.


Jahre der Zwangsarbeit
Leon leistet nun Zwangsarbeit in der deutschen Karpathen Öl AG und kommt ins Firmenlager. Auch sein Vater und sein Bruder Leiser tauchen auf Arbeitslisten des Unternehmens auf, die die Arolsen Archives in Kopie verwahren. Sie dokumentieren, welche Jüdinnen und Juden im November 1943 in der Raffinerie tätig waren. Unter welchen Bedingungen ist ungewiss, aber was bekannt ist: Beitz, der spätere Krupp-Generalbevollmächtigte, bewahrte viele von ihnen vor der Ermordung in den Gaskammern.


Im März 1944 wird Beitz zum Militär abgerufen. Im Lager wütet die Gestapo weiter. „Es waren sehr schwere Arbeitsbedingungen im Lager. Wir arbeiteten 12 Stunden und bekamen täglich zweimal Essen…. Es wurden Ausrottungsaktionen gegen Arbeitsunfähige durchgeführt“, heißt es in einem von ehemaligen Zwangsarbeitern ausgefüllten Fragebogen des International Tracing Service (ITS), heute Arolsen Archives. Mit Vorrücken der sowjetischen Truppen wird das Zwangsarbeiterlager im Juli/August 1944 aufgelöst, die meisten der verbliebenen jüdischen Zwangsarbeiter in die Lager Krakau-Plaszow und Auschwitz deportiert.
Leon kann sich auch vor dieser Deportation retten, vermutlich versteckt er sich im Wald. Sein Sohn Marcel erzählt 2023 in einem Artikel in der Zeit: „Als er und eine Gruppe Juden vor den Deutschen in die Wälder flüchteten, mussten sie sofort alles stehen und liegen lassen. Mein Vater nahm jedoch einen kleinen Jungen auf die Schulter. Einen anderen Jungen ließen sie schweren Herzens bei polnischen Bauern zurück. Nach der Befreiung kamen sie zurück und wollten den Jungen abholen.“ Doch der Junge ist tot. Auch die meisten Verwandten von Leon, darunter sein Vater Natan, seine Mutter und die Brüder sind tot. Nur eine Schwester überlebt.


Nach dem Krieg
Nach dem Krieg findet Leon im schlesischen Waldenburg, heute Wałbrzych, zunächst eine neue Heimat. Er heiratet Lucie, eine Katholikin aus Schlesien. Sie bekommen zwei Kinder, erst Marcel 1949, dann Eva. Auch im Nachkriegspolen gibt es Antisemitismus. Mitte der 1950er Jahre wandert die Familie so zunächst nach Israel aus, aber schon nach einem Jahr ziehen sie nach Deutschland, in das Land der Täter*innen. Leon arbeitet bei den amerikanischen Streitkräften in Kaiserslautern.
Leon Reif ist ein lebensfroher, liebevoller Vater, berichtet sein Sohn Marcel in einer ZDF-Dokumentation von 2021. Die Vergangenheit hält er aus der Familie heraus, auch wenn er selbst immer wieder davon eingeholt wird und in depressiver Starre versinkt. Das Schweigen nimmt Marcel Reif seinem Vater nicht Übel. Im Gegenteil, wie er in seiner Bundestagsrede bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus 2024 betont: „Er hatte doch all das gesagt und mitgegeben, was ihm wichtig war, was er gerettet hatte, als Essenz aus seinen Erlebnissen. Und er hat uns den Satz oft geschenkt – mal als Mahnung, mal als Warnung, als Ratschlag oder auch als Tadel. Drei Worte nur in dem warmen Jiddisch, das ich so vermisse: „Sej a Mensch!“ – „Sei ein Mensch!“
