In den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkrieges ereignete sich in der Lübecker Bucht eine der größten Schiffskatastrophen der Geschichte. Dabei kamen mehr als 6.000 KZ-Häftlinge ums Leben, die auf Frachtern und Passagierschiffen eingesperrt waren. Sie fielen einem folgenschweren Irrtum zum Opfer: Britische Kampfflugzeuge attakierten und versenkten die Schiffe, weil sie an Bord deutsche Truppenverbände vermuteten. Eine große Dokumentensammlung bei den Arolsen Archives hilft noch heute dabei, den Opfern ihre Namen zurückzugeben und Familienschicksale aufzuklären.
Marsch in den Tod
Im April 1945 räumte die SS Hunderte Konzentrationslager und schickte ihre Häftlinge auf sogenannte „Todesmärsche“. So versuchte man, die NS-Verbrechen vor den heranrückenden alliierten Truppen zu vertuschen. Für die Häftlinge aus dem KZ Neuengamme bei Hamburg beschlagnahmten die Nationalsozialisten drei Schiffe, die in der Lübecker Bucht lagen: Das Passagierschiff „Cap Arcona“ und die Frachter „Thielbeck“ und „Athen“. Die SS trieb 9.000 Menschen in Güterzügen und zu Fuß nach Lübeck, um sie auf die weit draußen in der Bucht liegenden Schiffe zu bringen.
Schwimmende Gefängnisse
Allein die „Cap Arcona“ – ursprünglich ein Luxusdampfer für 850 Passagiere – nahm rund 4.300 Häftlinge an Bord. Dazu kamen zirka 400 SS-Wachen und knapp 100 Mann Schiffsbesatzung. Für die Häftlinge gab es weder Trinkwasser noch Lebensmittel.
Kaum eine Chance, zu überleben
Am 3. Mai 1945 griffen britische Jagdbomber die beiden Schiffe an. Die „Cap Arcona“ geriet in Brand, aber es gab keine Rettungsboote für die Häftlinge. Deshalb sprangen etliche von ihnen in die eiskalte Ostsee, um ans Ufer zu schwimmen. Das überlebte vermutlich niemand: Die Wassertemperatur lag unter 10 Grad, das Ufer war 4 Kilometer entfernt und die Häftlinge waren bereits völlig entkräftet. Zudem schossen die SS-Wachen und leider auch die britischen Piloten weiter auf die Fliehenden.
Die „Cap Arcona“ kenterte ebenso wie die mehrfach getroffene „Thielbeck“. Von den über 7.000 Häftlingen an Bord der beiden Schiffe überlebten nur rund 600. Heute gehen viele Historiker davon aus, dass die Nazis das Unglück provoziert haben und bewusst einkalkulierten, dass die britische Luftwaffe die Schiffe angreifen würde.
Dokumente bei den Arolsen Archives
Nach dem Krieg entstand eine Vielzahl von Schriftstücken, um die Katastrophe in der Lübecker Bucht aufzuklären. Die Behörden mussten Leichen bergen, identifizieren und bestatten. Häftlingsnummern auf der Kleidung der Opfer waren oftmals die einzige Möglichkeit, ihre Identität festzustellen. Weil die Verantwortlichen damals noch keinen Zugriff auf die umfangreichen Dokumente aus den Konzentrationslagern hatten, blieben aber viele der Toten reine Nummern und somit Unbekannte.
Erst durch die Archivierung der Vielzahl an KZ-Dokumenten und weiteren Unterlagen war es möglich, den Häftlingsnummern Namen zuzuordnen. Im Online-Archiv der Arolsen Archives findet man heute zum Beispiel die Berichte zur Leichenbergung, das Kontobuch der Thielbek oder einen Lageplan von der Cap-Arcona-Ehrenfriedhofsanlage in Neustadt. Dazu kommen Dokumente, die aus dem Wrack der Thielbek geborgen wurden – zum Beispiel „Todesbescheinigungen“: Diese stellte die SS Häftlingen aus, die bereits in den Tagen und Wochen vor der Katastrophe an Bord der Schiffe starben.
Oftmals ahnten die Familien nichts vom Schicksal ihrer Angehörigen und folgten einer falschen Spur. Erst die Anfrage bei den Arolsen Archives führte sie zu den richtigen Dokumenten. In einigen Fällen war es dann sogar möglich, Familien nach über 70 Jahren endlich die Grabstelle ihrer Angehörigen mitzuteilen. Dass ein Verwandter zu den Opfern in der Lübecker Bucht gehört, ist für die Menschen meist eine überraschende und ebenso schmerzhafte Information.
Walery Bronicki
Die Arolsen Archives verwahren noch rund 2.000 sogenannte Effekten ehemaliger KZ-Häftlinge: Persönliche Gegenstände, die den Menschen bei ihrer Ankunft im Lager abgenommen wurden. Viele davon gehörten Häftlingen, die bei der Katastrophe in der Lübecker Bucht ums Leben kamen – zum Beispiel Walery Bronicki. Die Nationalsozialisten hatten den Polen als Kriegsgefangenen zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Er arbeitete in einem Außenlager des KZ Neuengamme.
Bei einer der täglichen Bergungsaktionen an den Stränden der Lübecker Bucht registrierte die Schutzpolizei in Neustadt im Juni 1945 seine Häftlingsnummer und ließ ihn vor Ort beerdigen. In den 50er Jahren starteten die Arolsen Archives ihre Ermittlungen zu Todesmärschen und zu Grabstellen unbekannter Toter, genannt „Attempted Identification of unknown dead“. Anhand der Registrierung von Walery Bronickys Häftlingsnummer in Neustadt und einigen historischen Dokumenten im Archivbestand gelang es, seinen Verfolgungsweg zu rekonstruieren.
So erhielt eines der bis dahin unbekannten Opfer der Katastrophe zumindest seinen Namen zurück. Die persönlichen Gegenstände von Walery Brunicki warten allerdings heute noch darauf, in den Besitz seiner Familie zurückzukehren.
Kazimierz Biel
… aus Krakau verschleppten die Nationalsozialisten als 19-Jährigen ins KZ Neuengamme. Er starb ebenfalls auf der Cap Arcona und wurde im Oktober 1950 auf dem Friedhof in Haffkrug in der Lübecker Bucht beerdigt. Die Arolsen Archives bewahrten seine Effekten jahrzehntelang auf und fanden schließlich 2018 im Rahmen der Kampagne #StolenMemory Kazimierz Biels Familie. Seine Nichten und Neffen erhielten nicht nur Erinnerungsstücke wie seinen Schülerausweis zurück, sondern erfuhren auch erstmals, dass ihr Onkel eine Grabstätte in Deutschland hat.
Einer von wenigen Überlebenden
Auch Willi Neurath (auf dem Foto links als Zwangsarbeiter bei Bauarbeiten im „Messelager Köln“) war auf der auf der Cap Arcona gefangen. Er war in der NS-Zeit mehrfach und insgesamt jahrelang in Haft, weil er sich im Widerstand engagiert hatte. Willi Neurath konnte nicht schwimmen und blieb deshalb am 3. Mai 1945 auf dem gekenterten, brennenden Schiff. Am Abend nach dem Luftangriff holten britische Soldaten ihn und die wenigen anderen Überlebenden von Bord und brachten ihn in Neustadt an Land.
Glückliches Wiedersehen
Was Willi Neurath nicht wusste: Auch seine Frau Eva befand sich in Neustadt. Sie war als Marinestabshelferin mit ihrem Kommando dorthin verlegt worden, um der Roten Armee zu entgehen. Eva Neurath hatte keine Ahnung, dass ihr Mann auf der Cap Arcona ausharrte. Sie hatte in den letzten Kriegsmonaten nur noch ungenaue Informationen über seinen Haftort. Am Morgen nach dem Angriff auf die Schiffe traf Eva Neurath zufällig auf ihren völlig verdreckten, verletzten Mann, den sie zunächst gar nicht erkannte. Bruno Neurath, der Sohn des Paares, schickte uns im Jahr 2020 Fotos erzählte uns die unglaubliche Geschichte seiner Eltern. Er hatte im Online-Archiv Dokumente über seine Familie gefunden.
Dieses Ereignis, dieses wundersame Zusammentreffen meiner Eltern am Strand von Neustadt „schwebte“ jahrzehntelang über unserer Familie. Nach dem Tod meines Vaters im Jahr 1961 hat es meine Mutter und uns Kinder immer wieder beschäftigt und aufgewühlt.
Bruno Neurath-Wilson, Sohn von Willi Neurath
Bruno Neurath möchte mit der Geschichte seiner Eltern auch einen Beitrag zur künftigen Erinnerungskultur leisten. Ihm geht es darum, den vielen Menschen, die für den Widerstand gegen das NS-Regime ihr Leben in Gefahr brachten, ein Denkmal zu setzen. Dafür arbeitete er auch mit Student*innen der Fachhochschule Düsseldorf zusammen, die 2013 im Studiengang Kommunikationsdesign einen Kurzfilm über das Schicksal von Willi und Eva Neurath gedreht haben: