Im nordhessischen Bad Arolsen sind die Arolsen Archives seit ihrer Gründung zu Hause. Hier lebten nach dem Krieg Hunderte „Displaced Persons“ – Menschen, die im Nationalsozialismus verfolgt worden waren. Viele von ihnen halfen dabei, das weltgrößte Dokumentationszentrum über die NS-Opfer aufzubauen. In den Jahren davor war die Stadt aber auch ein wichtiger Standort der SS. Prinz Josias zu Waldeck und Pyrmont steuerte von hier aus seine Aufgaben als General der Waffen-SS. Zudem war vor Ort die SS-Führerschule samt KZ-Außenlager stationiert. Mit dem Ende des Krieges war diese Geschichte nicht vorbei: Noch jahrzehntelang hielten frühere SS-Mitglieder in Bad Arolsen große Treffen ab. Wir nehmen Euch mit auf eine Zeitreise: Lernt die Schauplätze der Bad Arolser NS-Geschichte kennen und erfahrt, welche Bedeutung diese Orte heute in der Stadt haben.
Ein Zentrum der NS-Eliten





Adeliger Unterstützer und Profiteur des Regimes
Bad Arolsen war bis 1918 die Residenzstadt des Fürstentums Waldeck-Pyrmont. In der NS-Zeit war die Stadt vor allem durch die Fürstliche Familie eng mit dem Regime verbunden. Josias zu Waldeck und Pyrmont (Foto), bis 1918 der letzte Erbprinz des Fürstentums, trat der NSDAP schon 1929 bei. Ab 1930 war er auch SS-Mitglied – als einer der ersten Vertreter aus den Reihen des deutschen Adels. Der frühere Erbprinz machte eine steile politische Karriere im NS-Staat. Er wurde Adjutant von Heinrich Himmler und saß ab 1933 für die NSDAP im Reichstag.
Das Alte Schloss in Bad Arolsen – im rechten Schlossflügel wohnt die Fürstliche Familie bis heute – prägte die nationalsozialistische Geschichte der Stadt. Hochrangige SS-Vertreter besuchten Bad Arolsen, um Prinz Josias und seinen Einsatz für die NS-Organisationen zu unterstützen. Oft wurden die Gäste offiziell und staatstragend empfangen, wie hier im März 1936: Der Stellvertreter Adolf Hitlers, Rudolf Heß (links) begrüßt die Arolser Bürger vor dem Schloss gemeinsam mit Prinz Josias (rechts).
Prinz Josias pflegte eine enge Freundschaft mit Heinrich Himmler: Der „Reichsführer SS“ war der mächtigste Mann im NS-Staat gleich nach Adolf Hitler. Himmler (auf dem Foto in der Mitte) war einige Male in Bad Arolsen zu Gast, wie hier auf dem Gelände der SS-Führerschule. 1936 wurde er Taufpate von Josias zu Waldeck und Pyrmonts erstem Sohn. Diese Freundschaft und viele weitere intensive Kontakte zu prominenten Persönlichkeiten aus NSDAP und SS ermöglichten dem Erbprinzen seinen schnellen Aufstieg. Im Januar 1936 wurde er SS-Obergruppenführer und leitete den SS-Oberabschnitt „Fulda-Werra“.
Das Neue Schloss in Bad Arolsen, in dem er zeitweise auch wohnte, wählte Prinz Josias als Dienstsitz aus. Von hier aus organisierte er auch die Anwerbung und Schulung neuer SS-Rekruten. 1937 unterstanden ihm über 12.000 SS-Leute. 1938 wurde Prinz Josias zum SS- und Polizeiführer im Wehrkreis IX ernannt, indem auch das KZ Buchenwald lag. 1943 ließ er in Kassel das Buchenwalder Außenlager Drusetal errichten. Die etwa 288 Häftlinge mussten überwiegend Bauarbeiten für die SS verrichten.
Verurteilung durch den US-Militärgerichtshof
Anfang April 1945 geriet Prinz Josias in die Gefangenschaft der US-Armee. Am 14. August 1947 verurteilte ihn der US-Militärgerichtshof im Buchenwald-Hauptprozess wegen Verbrechen im Zusammenhang mit dem Konzentrationslager Buchenwald zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Im Juni 1948 wurde die Haftzeit auf 20 Jahre verkürzt; 1950 wurde er aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig entlassen.
Die Kaserne: Wichtiger SS-Standort




Seit 1869 gab es in Bad Arolsen eine Kasernenanlage, die nach dem Ersten Weltkrieg nur noch zivil genutzt wurde. Die Nationalsozialisten brachten auf dem Gelände direkt nach der Machtübernahme einen „freiwilligen Arbeitsdienst“ mit 120 Männern sowie ein „SA-Hilfswerk“ mit Sportschule und zirka 500 Mitgliedern unter. Danach bezog von 1935 bis 1939 das 2. Bataillon der SS-Verfügungstruppe „Germania“ mit etwa 800 Soldaten die Gebäude.
Die Stationierung dieser SS-Truppe wurde von großen Teilen der Bevölkerung gefeiert. Von ihren Manövern kommend rückte die „Germania“ oft in eine festlich geschmückte Stadt ein. Die Soldaten marschierten bei gut besuchten Paraden durch den Ort. 1939 nahm die Truppe am Angriff auf Polen teil und blieb dann im Krieg. In den folgenden Jahren waren auf dem Gelände mehrere „Totenkopf“-Divisionen stationiert: SS-Einheiten, die für eine besonders brutale Kriegsführung und viele Kriegsverbrechen bekannt waren.
Von 1943 bis 1945 nutzte die SS-Führerschule das Gelände. Jeweils rund 1.000 SS-Angehörige konnten in der Schule an dreimonatigen Lehrgängen teilnehmen, um in der Hierarchie ihrer Organisation weiter aufzusteigen. Sie bekamen Unterricht in Fächern wie „Weltanschauliche Schulung“, „Gefechtsausbildung“ oder „Leibeserziehung“. Zusätzlich gab es in der Kaserne ein Bekleidungslager, das die Waffen-SS mit Zeltplanen und Dienstuniformen ausstattete und die Reparatur der Kleidung verwundeter oder gefallener SS-Männer organisierte.
Die SS-Führerschule und die SS-Bekleidungskammer unterhielten von 1943 bis 1945 ein eigenes Arbeitskommando: Das Außenlager „Arthur“ mit zeitweise über 100 Häftlingen gehörte zum KZ Buchenwald. In mehreren Transporten wurden Menschen aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Dachau nach Bad Arolsen gebracht, um in der Kaserne zu arbeiten. Anfangs mussten sie beim Ausbau der SS-Führerschule helfen. Später arbeiteten sie in der Küche, in der Bekleidungskammer oder auch als Reinigungskräfte und Friseure für die SS-Männer. Die meisten Häftlinge waren in der Reithalle der Waffenmeisterei untergebracht (Foto).
KZ-Häftlinge in Bad Arolsen

Schlafen, arbeiten, essen… sonst nichts. Wir haben es aber nicht schlecht gehabt. Wir hatten genug zu essen.
Fernand Labalue, KZ-Häftling im Außenlager "Arthur" in Bad Arolsen
Fernand Labalue aus Belgien wurde 1941 als Student von der Sicherheitspolizei verhaftet und nach Deutschland verschleppt. Nach einigen Monaten Zwangsarbeit entließ ihn die SS. Fernand kehrte nach Belgien zurück und schloss sich dem Widerstand an. Kurze Zeit später wurde er wieder verhaftet und ins KZ Dachau gebracht, wo er an pseudomedizinischen Eiswasser-Experimenten teilnehmen musste. Er überlebte und wurde 1944 nach Bad Arolsen ins Außenlager „Arthur“ verlegt. Dort musste er in der SS-Bekleidungskammer arbeiten.

Nach einem halben Jahr Haftzeit gelang Fernand mit drei anderen Häftlingen eine spektakuläre Flucht: Er organisierte vier Uniformen aus der Bekleidungskammer und sammelte dort vergessenes Geld ein. Die vier Männer besorgten sich auch Pässe und Proviant aus den SS-Beständen. Am 4. Juni 1944 setzten sie sich in eines der SS-Fahrzeuge, fuhren ohne weiteres Aufsehen aus der Kaserne und flüchteten weiter Richtung Westen.
Auf diesem Inhaftierungsdokument des KZ Buchenwald wird Fernand bereits als „flüchtig“ geführt.


Bad Arolsen wird Mittelpunkt der Suche nach NS-Opfern
Im Frühjahr 1945 erreichten amerikanische Truppen Bad Arolsen. Sie beschlagnahmten unter anderem die beiden Schlösser und verlegten Ende 1945 das Headquarter der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) ins Neue Schloss. Hier arbeiteten zeitweise fast 1.000 Menschen: alliierte Militärs und Zivilisten sowie Displaced Persons (DP). Die UNRRA war in der Nachkriegszeit ein Vorläufer der Arolsen Archives. Sie war überwiegend für die Repatriierung der DPs zuständig und suchte nach vermissten NS-Verfolgten.
Suchdienst geht in die Kaserne
Weil die Verteilung des Suchdienstes auf das ganze Stadtgebiet die Zusammenarbeit erschwerte, bezogen die Mitarbeiter*innen ab 1949 das Kasernengelände. Hier waren schon seit Kriegsende zahlreiche DPs und ein DP-Ausbildungszentrum untergebracht. Auch der Großteil der DP-Mitarbeiter*innen des Suchdienstes lebte im DP-Lager der Kaserne. Sie organisierten sich in nationalen Gruppen, veranstalteten gemeinsam Feste und vertraten ihre Interessen gegenüber der Stadtverwaltung.
Hadern mit der NS-Geschichte

Treffpunkt der früheren SS-Angehörigen
Nach Kriegsende gab es in Bad Arolsen regelmäßig größere Versammlungen ehemaliger Soldatenverbände wie des Panzerkorps „Großdeutschland“ oder der „Brandenburg-Verbände“. Auch frühere Angehörige der 3. SS-Panzer-Division „Totenkopf“ kamen regelmäßig nach Bad Arolsen. Viele Jahre lang fanden hier auch die Treffen der HIAG, der „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS“, statt. Ihr Ziel war die Rehabilitierung der Waffen-SS mit der Forderung, die SS-Angehörigen mit „einfachen Soldaten“ gleichzusetzen.
Im Juni 1959 sollte ein sogenanntes „Bundessuchdiensttreffen“ der HIAG in Bad Arolsen stattfinden. Dagegen organisierte die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Protest – mit dem Hinweis, dies müsse von den überlebenden NS-Opfern als Provokation empfunden werden, da Bad Arolsen Standort des Internationalen Suchdienstes (ITS) war.
Schützt Arolsen! Solange das Archiv in Arolsen steht, werden die Schandtaten der Nationalsozialisten mit mathematischer Exaktheit nachzuweisen sein. Es ist bekannt, daß die SS ausgerechnet diese Stadt zum Schauplatz eines Treffens machen will. Plant man einen zweiten Reichstagsbrand und eine zweite ‚Kristallnacht‘?
Aus der Verbandszeitung der Vereinigung "Verfolgte des Nazi-Regimes"
Auch das hessische Innenministerium und der damalige Bürgermeister von Bad Arolsen teilten die Bedenken gegen die Veranstaltung. Das Auswärtige Amt befürchtete zudem „außenpolitische Störungen“. So wurde das Treffen tatsächlich abgesagt. Aber es kam immer wieder zu Versammlungen ehemaliger SS-Angehöriger in Bad Arolsen, meist ohne nennenswerte Proteste. Lokalpolitiker vom Bürgermeister bis zum Landrat empfingen die Veranstaltungsteilnehmer*innen sogar mit Grußworten.


Ein Treffen der SS-„Totenkopf“-Division Ende April 1979 in der Stadthalle stieß aber schließlich auf massiven Widerstand. Zuvor hatte hier schon der Bundesparteitag der NPD stattgefunden. Bei den Landtagswahlen hatte die NPD 14,4% Stimmen in Bad Arolsen erhalten, weshalb engagierte Bürger die „Waldecker Bürgerinitiative gegen Neofaschismus“ gründeten. In Kassel wurde zudem die Initiative „für das Verbot der SS-Treffen in Arolsen“ ins Leben gerufen. Diese Gruppen organisierten am Tag der Versammlung eine große Demo in der Stadt, an der Tausende Bürger teilnahmen.
Noch bis in die 80er Jahre fanden SS- und Wehrmachts-Versammlungen in Bad Arolsen in diesem Spannungsfeld zwischen Unterstützung und Protest statt.
Seit 2021 gibt es in Bad Arolsen eine „Kommission zur Sichtbarmachung der NS-Geschichte vor Ort“. Hier wirken Akteure aus Stadtverwaltung, Parteien, Schulen, Kirchen und der Fürstenfamilie mit. Auch die Arolsen Archives sind dabei. Die Mitglieder treffen sich regelmäßig, um strategische Ziele und neue Projekte rund um die Erinnerung an Bad Arolsens NS-Geschichte zu entwickeln. Aus dieser Zusammenarbeit entstand bereits ein neuer Gedenkort in der ehemaligen Kaserne. Aktuell arbeitet die Kommission an einem Gedenkprojekt für die früheren jüdischen Bürger der Stadt.
Heute: Erinnerung in Bad Arolsen





Das Alte Schloss
… ist heute wieder die Residenz der Fürstlichen Familie. Hier finden zudem wechselnde Kunst- und Kultur-Ausstellungen statt. Man kann auch die Hofbibliothek besichtigen. Prinz Carl Anton, der heute für die Erhaltung des historischen Bauwerks zuständig ist, möchte hier bald auch an die NS-Vergangenheit und die Nachkriegszeit erinnern.
Das Neue Schloss
… ist heute eine Klinik. Hier gibt es bisher noch keine Hinweise zur früheren Nutzung des Gebäudes als SS-Standort oder auf die Arbeit der Alliierten und DPs für den Suchdienst in der Nachkriegszeit.
Erinnerung in der Kaserne
Das ehemalige Stabsgebäude der Kaserne ist heute ein Ort der Erinnerung: Im „Historicum – Forum Zeitgeschichte“ zeigt das Museum Bad Arolsen in einer Dauerausstellung die Nutzung der Kaserne – mit einem ausführlichen Teil über die NS-Zeit und das Außenlager „Arthur“.
Keine Gedenktafeln an den Gebäuden
Das ehemalige KZ-Außenlager „Arthur“ (Foto) beherbergt heute einen Lebensmittelmarkt und ein Elektrofachgeschäft. Bisher gibt es keine Informationstafel an dem Gebäude. Der frühere Exerzierplatz ist heute ein riesiger Parkplatz. Manche der großen Kasernengebäude sind erhalten geblieben; viele Bereiche stehen leer. Es gibt keine Gedenktafeln.
Schülerprojekt über die KZ-Häftlinge
Im ehemaligen Gefängnishof der Kaserne erinnern seit Anfang 2022 Gedenktafeln an die Häftlinge des KZ-Außenlagers. Schüler der Christian-Rauch-Schule in Bad Arolsen haben die Inhalte für den Gedenkort und ein Website-Konzept für die Häftlings-Biografien erarbeitet.