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Erinnerungen an die
norwegischen Häftlinge

Mit der Story-Erkundung beginnen

Während der deutschen Besatzung Norwegens deportierten die Nationalsozialisten neben der jüdischen Bevölkerung auch Tausende politische Gegner. Sie kamen in Konzentrationslager und mussten Zwangsarbeit leisten. Die Arolsen Archives bewahren immer noch die persönlichen Gegenstände einiger Norweger auf, die ihnen bei der Verhaftung abgenommen worden waren. Auch die Dokumentensammlung enthält viele Informationen über die früheren Häftlinge. Ihre Schicksale haben die TV-Journalistin Gøril Grov Sørdal nach einem Besuch der Arolsen Archives nicht losgelassen. Hatten die jungen Männer die Haft überlebt? Wie erging es jenen, die nach Norwegen zurückkehrten? Gøril machte sich mit ihrem Team auf die Suche nach Verwandten – und fand nach intensiver Recherche über 20 Familien, denen sie die sogenannten „Effekten“ zurückgeben konnte.

Recherche bei den Arolsen Archives

Gøril und ihr Team besuchten die Arolsen Archives eigentlich, um für eine Folge der norwegischen Doku-Serie „Erben gesucht“ zu recherchieren. Sie waren auf der Suche nach Verwandten eines Estländers, der kurz zuvor in Norwegen verstorben war. Während der Dreharbeiten im Archiv entdeckte das Fernsehteam die Fülle an Informationen über norwegische NS-Opfer. Dabei erfuhren sie auch zum ersten Mal von den rund 30 Effekten der KZ-Häftlinge aus Norwegen, die hier aufbewahrt werden.

Es war so faszinierend, all diese Sachen in den Händen zu halten – ich hatte keine Ahnung, dass es eine solche Sammlung gibt! Dass ich die Verwandten dieser Menschen finden will, wusste ich direkt in diesem Moment.

Gøril Grov Sørdal, Journalistin
Die Taschenuhr des norwegischen KZ-Häftlings Hans Dalland.
Die Effekten von Storm Lochen haben die Jahre nicht unbeschädigt überstanden.

Die Effekten aus Norwegen

Mehr als 9.000 Norweger*innen waren in deutschen Konzentrationslagern inhaftiert. Es waren meistens junge Menschen, die gegen die Besatzung ihres Landes durch die Nazis gekämpft hatten. Bei ihrer Verhaftung wurden ihnen alle persönlichen Sachen abgenommen. Die norwegischen Effekten kommen ausschließlich aus dem KZ Neuengamme. Kurz vor Ende des Krieges versammelte das schwedische Rote Kreuz dort skandinavische Häftlinge aus verschiedenen Lagern, um sie vor den Kampfhandlungen zu schützen und in ihre Heimatländer zurückzubringen. Es handelt sich um eine kleine Sammlung mit den Sachen von rund 30 Häftlingen.

Insgesamt lagern im Archiv noch Effekten von rund 2.000 früheren KZ-Häftlingen aus ganz Europa. Die Arolsen Archives erhielten nach dem Krieg den Auftrag, die Sachen aufzubewahren und nach Möglichkeit den Menschen selbst oder ihren Verwandten zurückzugeben. Die Suche erwies sich aber als äußerst schwierig und aufwendig. Heute recherchieren im Rahmen der Aktion #StolenMemory freiwillige Helfer mit Sprach- und Landeskenntnissen direkt vor Ort – mit großem Erfolg: Dank der Unterstützung der Freiwilligen wie Gøril gelangen in den letzten Jahren Hunderte Übergaben.

Der Verlobungsring von Sophus Hansen.

Persönliche Treffen mit den Familien

Sieben der Familien hat Gøril persönlich getroffen, um ihnen die Gegenstände zurückzugeben. Meistens nahm sie dabei auch einige Kopien der KZ-Dokumente über die früheren Häftlinge bei den Arolsen Archives mit – wie hier bei der Übergabe von Egil Hjeldes Siegelring an seinen Enkel. Anhand der Dokumente lassen sich die Verfolgungswege der Menschen gut nachvollziehen.

Bei den Rückgaben erfuhr auch Gøril von den Familien teils tragische Hintergründe zu den Schicksalen der Häftlinge. „Nie vergessen“ wird sie die Geschichte von Sophus Hansen und seinem Verlobungsring: Sophus war kurz davor, seine Verlobte Gudrun zu heiraten. Alles war organisiert: Die Feier, die Möbel für ihr neues Zuhause. Gudrun hatte ein sehr schönes Hochzeitskleid gekauft. Dann kamen die Nazis und haben Sophus mitgenommen. Er starb kurz vor der Befreiung im KZ Neuengamme an Typhus.

Film: Emotionale Effektenübergabe in Norwegen

Thore Fives Nichten und Neffen waren sehr aufgeregt, als sie erfuhren, dass es von ihrem Onkel noch Sachen in einem deutschen Archiv gibt. Thore war 24 Jahre alt, als er verhaftet und ins KZ Natzweiler gebracht wurde: ein intelligenter, motivierter junger Mann, der eine vielversprechende Karriere als Ingenieur vor sich hatte. Er kehrte aus Deutschland zurück, aber starb drei Jahre später – eine Langzeitfolge der Tuberkulose, die er sich im Lager zugezogen hatte. Für seine Nichten und Neffen war er „der Onkel mit der Brille“, über den die Eltern und Großeltern oft sprachen.

Von links nach rechts: Thorvalds Kinder Toril, Rolf und Bjørn, ihr Cousin Tore und die Journalistin Gøril.
Von links nach rechts: Thorvalds Kinder Toril, Rolf und Bjørn, ihr Cousin Tore und die Journalistin Gøril.
Seine Häftlingsnummern aus den drei Konzentrationslagern hat Thorvald in ein Album geklebt und aufbewahrt

Erinnerungen an den Vater

Die Nationalsozialisten nahmen Thorvald Michelsen im Konzentrationslager Natzweiler seinen Ehering ab. Er überlebte die Haft und kehrte nach Hause zurück. Mehr als 70 Jahre später bekamen seine drei Kinder Rolf, Toril und Bjørn (von links) den Ring zurück. Sie erinnerten sich bei Gørils Besuch im norwegischen Trondheim gemeinsam an die Geschichte des Vaters.

Wiedersehen an Thorvalds Geburtshaus

Thorvald war 28 Jahre alt, als die Gestapo im Oktober 1943 das Haus seiner Familie in Trondheim stürmte, um ihn zu verhaften. Thorvald, seine Frau Gunvor und ihr einjähriger Sohn Bjørn wohnten oben im ersten Stock. Unten lebten Thorvalds Eltern mit Tore, seinem Neffen. 77 Jahre später traf sich Gøril an diesem Haus mit Thorvalds drei Kindern und seinem Neffen Tore.

Hier erzählte Tore, wie er die Verhaftung erlebte. Er war damals sechs Jahre alt: „Ich saß gerade mit meinem Großvater beim Frühstück, als die Gestapo-Männer durchs Haus liefen und die Treppe hochstürmten, um Onkel Thorvald zu holen.“ Im Haus hatte sich auch ein Freund von Thorvald aus dem Widerstand versteckt, Kolbjørn Wiggen. Ihn und acht weitere Widerstandskämpfer richteten die Nationalsozialisten einen Monat später hin. Thorvald deportierten sie mit einigen anderen Häftlingen nach Deutschland, wo die jungen Männer schwerste Zwangsarbeit leisten sollten.

Seinen Ehering musste Thorvald abgeben

Thorvald kam mit rund 60 anderen norwegischen Häftlingen ins Konzentrationslager Natzweiler, in dem die Nationalsozialisten viele Skandinavier festhielten. Er war dort fast ein Jahr lang inhaftiert und musste in einem Steinbruch arbeiten. Bei der Einlieferung musste Thorvald seinen Ehering abgeben, in den der Name seiner Frau Gunvor eingraviert war.

Befreiung und Rückkehr nach Norwegen

Im September 1944 kam Thorvald ins KZ Dachau. Dort wurde er im Frühjahr 1945 mit anderen skandinavischen Häftlingen im Rahmen der Rettungsaktion der „Weißen Busse“ vom schwedischen Roten Kreuz befreit. Sie kamen zunächst mit Häftlingen aus vielen anderen Konzentrationslagern in das eigens für skandinavische Staatsbürger eingerichtete Sammellager im KZ Neuengamme bei Hamburg. Thorvald wurde von dort über Dänemark nach Schweden in ein Sanatorium gebracht, wo er sich erholen konnte. Am 27. Mai 1945 kehrte er mit dem Zug in seine Heimat zurück.

Der alte und der neue Ring

Thorvald und Gunvor lebten danach weiter in Trondheim, wo Thorvald auch politisch in der norwegischen Arbeiterpartei aktiv war. Ihre Tochter Toril kam ein Jahr nach seiner Rückkehr zur Welt, der jüngste Sohn Rolf wurde 1952 geboren. Gunvor starb 1992. Thorvald wurde noch 93 Jahre alt und starb im Jahr 2008. Seinen Ehering hatte Thorvald sich nach seiner Rückkehr aus Deutschland nachmachen lassen. Niemand vermutete, dass das Original noch existieren würde.

Thorvald sprach erst spät über die Haft

Bei der Übergabe des Rings mit Gøril zeigten die Geschwister viele Fotos und teilten Erinnerungen. Über die Verhaftung ihres Vaters und seine Erlebnisse in den Lagern hatten sie erst nur sehr wenig erfahren. „Unser Vater sprach lange Zeit fast gar nicht darüber“, sagt sein ältester Sohn Bjørn. Das änderte sich 1980, als sein Mithäftling und Bekannter Trygve Bratteli – er war in den 70er Jahren Norwegens Ministerpräsident – über seine Haftzeit den Bestseller Gefangen in Nacht und Nebel veröffentlichte. Das Buch löste eine Debatte aus so begann auch Thorvald, mehr über seine Erfahrungen zu sprechen.

Schreckliche Szenen im KZ Natzweiler

Er beschrieb nicht nur seinen Kindern, was die Erlebnisse im Konzentrationslager für ihn bedeuteten, sondern gab sogar einige Interviews – so wie auch viele andere der früheren Häftlinge aus Norwegen zu dieser Zeit. In einem davon erzählte er von einer Szene im KZ Natzweiler, die der norwegische Illustrator Rudolf Næss, ein Mithäftling, in einer Zeichnung festgehalten hat.

Am 26. Dezember wurden bei der Rückkehr aus dem Steinbruch zwei Gefangene vermisst. Sie wurden schnell gefunden, verprügelt und gehängt. Der Galgen war von überall im Lager sichtbar, und wir mussten alle an den beiden Männern vorbeimarschieren und sie ansehen. Sie waren wie Wachspuppen, es war kaum zu glauben, dass sie jemals am Leben waren.

Thorvald Michelsen, früherer Häftling im KZ Natzweiler

Thovald konnte sich noch an viele weitere Details erinnern. Er erklärte im gleichen Interview, warum es ihm jetzt leichter fällt, über den Krieg zu sprechen und was ihm dabei wichtig ist: „Die jungen Menschen müssen erfahren, was passiert ist. Unsere Demokratie ist zu wertvoll, um sie zu verlieren. Wir müssen weiter kämpfen, damit sie uns erhalten bleibt.“