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Arolsen Archives Jahresbericht 2024

Bildungsangebote für die GenZ

Mit der Story-Erkundung beginnen

Unser Auftrag ist es, das historische Wissen über die NS-Verfolgung anschlussfähig zu vermitteln. Unsere Dokumente erzählen die Geschichten von Millionen NS-Opfern. Ihre Schicksale bewegen junge Menschen zum Nachdenken. In diesem Prozess gewinnen sie oft Erkenntnisse, die sie in ihrer Lebenswelt einbringen können. Deshalb entwickeln wir ständig neue und moderne Zugänge zu den Informationen in unserem Archiv.

Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives

Anhaltend hohe Anfragezahlen und Hunderttausende Online-Recherchen

Entwicklung der Anfragen bis 2024

Die Zahl der Anfragen ist in den letzten Jahren weiter gestiegen, weil immer mehr Menschen die Arolsen Archives kennenlernen und nach Spuren ihrer Angehörigen suchen – über Generationen hinweg. Auch 80 Jahre nach Kriegsende sind die Informationen entscheidend: Sie helfen, NS-Verfolgung zu verstehen, Biografien zu rekonstruieren und Familiengeschichten zu vervollständigen. Erinnerung bleibt persönlich und relevant.

Das Online-Archiv als zentrale Informationsquelle

Im Online-Archiv der Arolsen Archives können Interessierte selbstständig recherchieren – ein Angebot, das inzwischen täglich Tausende Menschen nutzen. Aktuell sind 40 Millionen Dokumente verfügbar. Durch Kooperationen mit anderen Archiven erweitern wir die digitale Sammlung ständig. Auch unsere Website nutzten 2024 mehr Menschen als je zuvor: Die Zahl stieg auf rund 580.000. Alle Web-Angebote der Arolsen Archives wurden insgesamt im vergangenen Jahr von über 1,4 Millionen Nutzerinnen und Nutzern besucht.

Wer hat 2024 angefragt

Gleichbleibend hoch ist die Zahl der Familienangehörigen, die uns ihre Anfragen senden. Es zeigt sich aber auch, dass eine breitere Öffentlichkeit mehr Interesse an der Beschäftigung mit den Geschichten der Opfer hat: Fast 10 Prozent der Anfragen erhielten wir von Menschen, die weder aus familiären noch beruflichen Gründen recherchieren, sondern die sich allgemein für die NS-Verfolgung oder einzelne Schicksale interessieren.


Auf den Spuren des Großvaters

Im April 2024 reiste Péter Füzi aus Budapest nach Ohrdruf in Thüringen: Gemeinsam mit Mitarbeiter*innen der Arolsen Archives und der Friedenstein Stiftung Gotha besuchte er das Gelände, auf dem sich früher das KZ Ohrdruf befand. Dorthin hatten die Nationalsozialisten seinen Großvater Benedek Sátori verschleppt. Péter erfuhr erst durch eine Anfrage bei den Arolsen Archives im Jahr zuvor von Benedeks Verfolgungsweg und seinem wahrscheinlichen Sterbeort. Bei seinem Besuch sprach er auch mit Schüler*innen eines Gymnasiums in Ohrdruf.

Vielfältiges Interesse am Archiv

Foto: Piper Verlag
Foto: Piper Verlag

Buch-Recherchen bei den Arolsen Archives

2024 sind in Deutschland gleich zwei vielbeachtete Bücher erschienen, die unter anderem auf Recherchen bei den Arolsen Archives basieren. Den Roman „All die gestohlenen Erinnerungen“ hatte die Autorin Gaëlle Nohant bereits 2023 auf Französisch veröffentlicht. Er entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Tracing-Team und erzählt von der Archivarin Irène, die bei den Arolsen Archives arbeitet und mit ihren Recherchen Familienschicksale aufklärt. Nachdem das Buch im Frühjahr 2024 den renommierten französischen Literaturpreis Grand Prix RTL-Lire erhalten hatte…

… erschien im August 2024 „Gebt mir etwas Zeit“ von Hape Kerkeling, einem bekannten deutschen Komiker und Autor. In dem Bestseller über seinen Lebensweg taucht Kerkeling tief in die bewegte Geschichte seiner Vorfahren ein. Dafür recherchierte er auch bei den Arolsen Archives. Hier erfuhr er neue Details über die Verfolgungsgeschichte seines Großvaters, den die Nationalsozialisten als Kommunist im KZ Buchenwald inhaftiert hatten. Seine Wertschätzung für die Arbeit der Arolsen Archives drückte Kerkeling auch in seiner Danksagung am Anfang des Buches aus.

Workshop für Profi-Nutzer*innen

Zum internationalen User-Workshop im Juni 2024 trafen sich 20 Vertreter*innen mehrerer Institutionen aus den USA, Israel, Österreich, Deutschland und Polen bei den Arolsen Archives. Sie bekamen Einblick in neue Bestände und Recherchemöglichkeiten, diskutierten den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und OCR (optische Zeichenerkennung) und beschäftigten sich mit der Umstellung auf eine neue Datenbank. Weitere Themen waren der Datenschutz, die Unterstützung von Archiven in der Ukraine und die Akquise von Dokumenten. 

Angebote des Nutzerservice vor Ort und virtuell

Auch beim internationalen EHRI-Seminar „Citizen Science in der Archivarbeit“ kamen Teilnehmende aus ganz Europa bei den Arolsen Archives zusammen. Hier ging es um die praktische Umsetzung von Crowdsourcing-Projekten für Mikroarchive, wobei die Arolsen Archives ihre Erfahrungen mit #everynamecounts einbrachten. Vorträge zu Datenprozessierung, Community-Management, Geodaten und ein Fokus auf Mikroarchive in der Ukraine rundeten das Seminar ab. 2024 haben die Arolsen Archives zudem auch Online-Angebote wie den virtuellen Nutzerservice ausgebaut und einige Online-Schulungen durchgeführt, z.B. für Gedenkstätten.

134

Menschen recherchierten vor Ort im Lesesaal

84

neue User*innen erhielten für ihre Forschungsprojekte über einen längeren Zeitraum einen Fernzugriff auf die Datenbank

Jugendbegegnung des Bundestags

70 Jugendliche zu Gast im Archiv

Jedes Jahr veranstaltet der Deutsche Bundestag anlässlich des Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus eine Jugendbegegnung. Am 29. Januar 2024 besuchten rund 70 Jugendliche die Arolsen Archives. Sie machten einen Stadtrundgang durch die Geschichte von Bad Arolsen, lernten die Arbeit des Tracing-Teams kennen, bekamen einen Einblick in eine besondere Sammlung mit persönlichen Gegenständen von KZ-Häftlingen und erfuhren von unseren Projekten und Bildungsangeboten. Dabei konnten sie auch einen Blick hinter die Kulissen werfen und vor dem Launch das neue Bildungstool „arolsen school“ kennenlernen.

Bewegende Sucharbeit

Nathalie Letierce-Liebig (2.v.r.) beim Treffen mit der Familie eines NS-Opfers aus Frankreich.

Hinter jeder Anfrage verbarg sich ein Schicksal, eine Familiengeschichte und menschliche Tragödien, die man oft nur erahnen kann. Durch die persönlichen Kontakte mit den Familien habe ich viele emotionale Momente erleben dürfen, die ich nie vergessen werde. Für mich war meine Arbeit eine Lebensaufgabe, die mit dem Feierabend nicht endete.

Nathalie Letierce-Liebig, ehemalige Mitarbeiterin der Arolsen Archives

Viele der Mitarbeiter*innen begleiten bei den Arolsen Archives über Jahrzehnte hinweg die Suche nach Familien und beschäftigen sich dabei mit unzähligen Schicksalen. Nathalie Letierce-Liebig (auf dem Foto 2.v.r.) ist eine von ihnen: Die gebürtige Französin hat 40 Jahre lang bei uns gearbeitet. 2024 ist sie in Rente gegangen. Wir haben mit Nathalie auf ihre bewegende Zeit bei den Arolsen Archives zurückgeblickt – hier können Sie das ganze Interview lesen.

Update für die Dauerausstellung

Neues Konzept und Verschönerungs-Arbeiten

Gemeinsam mit einer Agentur, die auf die Präsentation und Vermittlung von gesellschaftsrelevanten Themen spezialisiert ist, begann ein Projektteam Ende 2024, die Dauerausstellung zur Geschichte der Arolsen Archives zu überarbeiten. Dafür haben die Mitarbeitenden nicht nur eine neue Umsetzung und Gestaltung entwickelt, sondern auch selbst Hand angelegt – zum Beispiel, um die Rückwand der Ausstellung mit historischen Archivboxen zu begradigen: An zwei arbeitsintensiven Tagen haben sie dabei mehr als 4.700 Karteikästen aus- und wieder eingebaut.

Neue Prozesse und Technologien im Archiv

Wissens-Netzwerk über die NS-Verfolgung

Auf ihrem Weg in die digitale Zukunft entwickeln und testen die Arolsen Archives seit 2024 den Prototyp eines Wissensgraphen. Diese Systeme strukturieren und verknüpfen Daten aus verschiedenen Quellen zu einem intelligenten Netzwerk. In Kombination mit einem KI-basierten Sprachmodell könnte die Technologie die Recherche über NS-Opfer entscheidend voranbringen. Das gesamte Wissen und alle Daten zu einer Person oder einem Verfolgungsweg – auch aus anderen Institutionen – wären auf einen Blick verfügbar. Ein so weiterentwickeltes Online-Archiv könnte Fragen wie „Wie viele Menschen wurden im März 1943 von Berlin nach Auschwitz deportiert?“ einfach beantworten.

Dokumente „clustern“ mit Künstlicher Intelligenz

Das „Clustering“ von Dokumenten ist ein wichtiger Arbeitsschritt auf dem Weg zu einem intuitiven Online-Archiv: Um alle Informationen zu einem Thema oder einer Person zu bündeln und den User*innen eine einfache Recherche zu ermöglichen, muss das Archiv-Team zunächst riesige Mischbestände von Dokumenten in verschiedene Typen gruppieren. Dafür haben die Mitarbeiter*innen 2024 eine KI-Applikation getestet, die Dokumente erkennt, zerlegt und sie den einzelnen Dokumententypen zuordnet. Sogar Mikrofilm-Aufnahmen, die vor 30 Jahren in sowjetischen Archiven entstanden sind, erkennt die KI als Dokumente mit den korrekten Vorder- und Rückseiten.

Modernes Archivsystem und neues Tool fürs Tracing

Um alle Prozesse im Archiv digital, standardisiert und sicher zu bündeln, führen die Arolsen Archives ein neues Archivinformationssystem ein: Ende 2024 waren bereits die wichtigsten Archiv-Bestandteile im neuen System abgebildet. Bis Ende 2025 soll es komplett implementiert sein. Auch im Bereich Tracing bereiteten die Teams sich im vergangenen Jahr auf ein neues Tool vor: Ab Juni 2025 nutzen sie für die Anfragenbearbeitung ein modernes CRM-System (Customer-Relationship-Management).

Hybrides Scannen schont die Dokumente

Seit 2024 sorgt eine hybride Scan-Station für eine ausgezeichnete Qualität beim Digitalisieren von Original-Dokumenten. Das System kombiniert berührungslose Scantechnologien mit punktuellen Laserscans. So erfasst es alle Details sehr präzise, ohne das fragile Papier physisch zu beanspruchen – eine ideale Lösung für den Erhalt der wertvollen historischen Originale. Hybride Systeme können sowohl Einzelblätter als auch gebundene Bücher effizient erfassen, was die Digitalisierung großer Mengen erleichtert.

Um bei den Digitalisaten von Dokumenten eine besonders gute Bildqualität zu erhalten, arbeiten die Arolsen Archives zudem mit einer neuen ISO-Norm. Sie gibt feste Richtlinien vor für die Lesbarkeit von Texten, die Klarheit von Bildern und Grafiken und die Darstellung von Farben. Digitalisate, die auf diese Weise standardisiert sind, erleichtern die Online-Recherche. Außerdem eignen sie sich optimal für die automatisierte Texterkennung und die KI-gestützte Analyse.

Zahlreiche neue Dokumente beim e-Guide

Er ist ein wichtiges Instrument für das Verständnis und die Entschlüsselung vieler Sammlungen im Archiv: Der e-Guide erklärt einfach und interaktiv die Hintergründe zu den „individuellen Dokumenten“ – in der Regel Karteikarten oder Formulare, die Informationen zu einzelnen NS-Opfern liefern. Mit über 154.000 Aufrufen in 2024 verdoppelte das Angebot die Zugriffe im Vergleich zum Jahr 2022. Im vergangenen Jahr kamen auch zahlreiche neue Erläuterungen hinzu, vor allem zu Dokumenten über Displaced Persons. Weitere Einträge sind geplant, zum Beispiel rund um die verschiedenen Karteien der Geheimen Staatspolizei (Gestapo).

Restaurieren der Original-Dokumente

Aufwendige Konservierungsarbeiten

Über Jahrzehnte hinweg waren die Original-Dokumente im Archiv ein zentrales Arbeitsmittel bei der Suche nach Vermissten und der Dokumentation von Verfolgungswegen. Diese Nutzung hat viele Spuren hinterlassen. Im Rahmen des BKM-Sonderprogramms zur Erhaltung schriftlichen Kulturguts sichern wir die wertvollen Originale für zukünftige Generationen. 2024 betrafen die Restaurierungs-Arbeiten eine Sammlung, die nach Kriegsende von den Alliierten angelegt wurde: Tausende Listen über verschleppte NS-Verfolgte in der früheren sowjetischen Besatzungszone.

Nach einem aufwendigen Entsäuerungs- und Restaurierungsverfahren – dabei werden alkalische Stoffe in das Papier eingebracht, Risse geschlossen, Fehlstellen ergänzt, oder Verklebungen entfernt – konnten die Listen in einem guten Zustand…

… in archiv- und formatgerechte Archivboxen verpackt werden, um sie vor weiterem Verfall zu schützen.

26.000

Dokumente wurden bis Ende 2024 konservatorisch behandelt

346.000

Korrespondenzakten wurden 2024 archivgerecht verpackt. In diesen Akten sind oft Original-Briefe von Überlebenden oder von Angehörigen der Ermordeten enthalten.

Archiv-Neubau in Bad Arolsen

Nieto Sobejano Arquitectos zu Besuch bei den Arolsen Archives.

Auf dem Weg zum neuen Gebäude

Eine moderne Fassade aus rot eingefärbten Betonfertigteilen, die an Schachteln und Archivboxen erinnert: Beim Architekturwettbewerb im Herbst 2023 hatte der Entwurf des Büros Nieto Sobejano Arquitectos Platz 2 belegt. Im Rahmen der Expertenbeurteilung beim anschließenden EU-Vergabeverfahren setzte sich ihr Konzept jedoch durch. Der Archivneubau entsteht in unmittelbarer Nähe des Verwaltungsgebäudes im Zentrum von Bad Arolsen.

Bauplanung gestartet

Mit der Beauftragung des spanisch-deutschen Architekturbüros ging das Projekt bereits im Herbst 2024 in die Planungsphase. Die Architekten von Nieto Sobejano besuchten das Archiv, um sich eingehend über die Sammlungen zu informieren und begannen anschließend mit der detaillierten Ausführungsplanung des Neubaus. Das Gebäude wird nicht nur die Dokumente schützen und für die nächsten Generationen bewahren, sondern auch das UNESCO-Weltdokumentenerbe nach außen repräsentieren.

Weiter mit Kapitel #2

Jahresbericht 2024: Projekte und Kampagnen


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