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Jahresbericht 2023

Geschichte ist jetzt!

Mit der Story-Erkundung beginnen

Wir erleben große Veränderungen und Herausforderungen. Der Krieg in der Ukraine ist ein Einschnitt und Wendepunkt, wie auch der Gaza-Konflikt. Die Zahl der antisemitischen Gewalttaten nimmt zu, der Blick auf Israel verändert sich ebenso wie die identitätsstiftenden Narrative in unserer Gesellschaft. Das alles hat starke Auswirkungen auch auf die Erinnerungsarbeit. Unser Ansatz sind gegenwartsbezogene Angebote für Jugendliche und junge Erwachsene, die in einer digitalen Welt aufwachsen. Das stellen wir Ihnen in unserem Jahresbericht vor, aber auch was uns sonst 2023 beschäftigt hat: von den Plänen für den Neubau unseres Archivs über den Einsatz von KI bis hin zu den stark gestiegenen Anfragen- und Nutzerzahlen.

Großes Interesse an Schicksalen der NS-Verfolgten und am Archiv

Zahl der Archiv-Anfragen ist wieder angestiegen

2023 ist das Interesse von Angehörigen und nachfolgenden Generationen an Informationen über NS-Verfolgte und ihre Schicksale sprunghaft angestiegen: Wir erhielten mehr als 20.000 Anfragen zu über 28.000 Personen – gut 30 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Zahl der konventionellen Anfragen ist beeindruckend. Aber es zeigt sich ein deutlicher Wandel in der Nutzung unserer Services: Noch nie haben so viele Menschen unser Online-Archiv genutzt wie 2023. Ihre Zahl stieg um 43 Prozent!

Wer hat 2023 bei den Arolsen Archives angefragt?

Bei den Arolsen Archives melden sich inzwischen nur noch sehr vereinzelt NS-Überlebende mit Fragen zu ihrem eigenen Schicksal oder ihren individuellen Dokumenten. Dafür steigt von Jahr zu Jahr die Zahl der Anfragen von Angehörigen früherer NS-Opfer. Oft sind es schon deren Enkel oder Urenkel, die nach Informationen oder nach Verwandten suchen. 2023 erhielten wir zudem sehr viele Anfragen von Forscher*innen. Auch die breite Öffentlichkeit interessiert sich vermehrt für die Themenvielfalt unserer umfassenden Sammlung.

99-jähriger NS-Überlebender auf Spurensuche

Die Anfrage von Dan Hadani hat uns 2023 sehr beeindruckt: Der 99-jährige wurde in Polen geboren und lebt heute in Tel Aviv. Er überlebte als einziger aus seiner Familie den Holocaust, wanderte nach Israel aus und schwieg ein Leben lang über seine Verfolgung und KZ-Haft. Im Alter holte ihn die Zeit ein. Er begann, eine Website über seine Familiengeschichte und sein eigenes Schicksal aufzubauen. Bei den Arolsen Archives fand er Dokumente, die ihm bei der Recherche zu seiner Schwester halfen.

Foto: David Peretz

Halbschwestern trafen sich nach über 60 Jahren

Bis heute gelingen unseren Mitarbeiter*innen immer wieder Familienzusammenführungen – allerdings nur noch wenige pro Jahr und häufig sind es keine engen Verwandtschaftsgrade. Doch 2023 fanden sich gleich in vier Fällen Halbgeschwister durch die Arbeit der Arolsen Archives. Dazu gehörten Helen Schaller (links) und Sula Miller, zwei Töchter eines KZ-Überlebenden. Helen war 1947 in Frankfurt/M. und Sula 1960 in den USA zur Welt gekommen.

Mehr Besucher vor Ort

2023 kamen wieder deutlich mehr Menschen nach Bad Arolsen, um persönlich nach Spuren ihrer Vorfahren zu suchen, die Dauerausstellung oder das Archiv zu besuchen. Mehr als doppelt so viele Angehörige und Privatpersonen besuchten die Arolsen Archives. Karen Mayfield und ihre Tochter Katja (auf dem Foto rechts) reisten sogar aus den USA an, um mehr über Karens Mutter zu erfahren, die in den Nachkriegsjahren bei den Arolsen Archives gearbeitet hatte.

Forschungsprojekte mit den Arolsen Archives

Auch Historiker*innen, Lokal-Forscher*innen, Universitäten und Schulen recherchierten wieder vermehrt vor Ort im Lesesaal, im Archiv oder der umfangreichen Bibliothek. Im Juni 2023 kamen beispielsweise 40 Studierende aus dem Fachbereich Soziale Arbeit der Uni Kassel nach Bad Arolsen. Sie arbeiteten in einem Workshop mit unseren Dokumenten zu Menschen, die Opfer der NS-„Euthanasie“ waren. Viele Forschende griffen auch per Remote Access auf unsere Datenbank zu oder nutzten die Online-Bibliothek.

140

Menschen recherchierten vor Ort im Lesesaal

90

neue User*innen erhielten einen Fernzugriff auf die Datenbank

14.000

Bücher umfasst die Bibliothek der Arolsen Archives

190

neue Publikationen kamen 2023 dazu

Archiv-Digitalisierung schreitet voran

2023 haben die Arolsen Archives ihre Bestände weiter digitalisiert. In Kooperationen mit Partner-Institutionen, mit neuen Technologien und der Crowdsourcing-Initiative #everynamecounts digitalisieren unsere Teams Hunderttausende Dokumente. So wächst das Online-Archiv jeden Tag. Zusätzlich werden Original-Dokumente aufbereitet, konserviert und archivgerecht verpackt.

*Name ist nicht gleich Person: Viele Menschen erscheinen mit ihrem Namen auf mehreren, verschiedenen Dokumenten im Archiv.

Die Arolsen Archives haben durch die Digitalisierung in wenigen Jahren einen rasanten Wandel erlebt: Von quasi Null auf eine Million Online-Nutzer, von langwieriger analoger Anfragen-Bearbeitung zu superschnellen digitalen Prozessen. Wir interagieren jetzt ganz anders mit der Welt. Es gibt viele neue Arbeitsbereiche und Anforderungen. Unsere Zusammenarbeit als Archiv müssen wir deshalb komplett neu definieren.

Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives

Neue Scans und präzise Organisation der Bestände

Im Bereich Katalogisierung und Digitalisierung arbeiten mehrere Teams gemeinsam daran, neue Scans und Archivbeschreibungen der Dokumenten-Bestände anzufertigen. Sie stellen die Sammlungen im Online-Archiv kompakter dar und machen die einzelnen Dokumente gut lesbar. 2023 ging es dabei um den größten der KZ-Bestände – die Sammlung aus dem Konzentrationslager Buchenwald. Dokumente, die bisher nur als schlecht lesbare Schwarz-Weiß-Scans vorlagen, wie diese Transportliste…

…wurden mit höherer Auflösung, in Farbe und mit scharfen Kontrasten neu eingescannt. So sind jetzt sogar handschriftliche Eintragungen gut lesbar. Zusätzlich haben die Mitarbeiter*innen die Sammlung neu strukturiert und katalogisiert. Das ist vor allem hilfreich für Forscher*innen, die mit dem Bestand arbeiten wollen. Diese Aktivitäten führen wir in den nächsten Jahren mit weiteren Beständen und mehr Personal fort. Auch neue Sammlungen und Kopien aus Beständen anderer Archive erhalten dabei ihren Platz im Online-Archiv.

Privatsammlungen im Archiv

Immer mehr Wissenschaftler*innen, Lokalforscher*innen, NS-Verfolgte oder deren Nachkommen überlassen den Arolsen Archives ihre Sammlungen. 2023 schickte uns beispielsweise Harald Larsen aus Norwegen einige Fotografien und Dokumente aus dem Nachlass seiner Mutter. Sie ergänzen unseren Bestand zu den Lebensborn-Heimen, in denen die SS Tausende „arische“ Kinder aufzog. Harald Larsen musste 1944/1945 in einem sächsischen Lebensborn-Heim leben, was die Sammlung seiner Mutter umfassend dokumentiert.
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Neue KI hilft bei der Digitalisierung

Auch bei den Arolsen Archives verändert der Einsatz von KI die tägliche Arbeit. Das gilt aktuell besonders für die Mitarbeiter*innen aus dem Bereich Indizierung, in dem Martina Steiner-Güde tätig ist. Das Team ist unter anderem dafür zuständig, die Informationen auf Millionen Listen aus unserem Archiv digital zu erfassen. Die Nazis haben solche Listen beispielsweise für Häftlingstransporte erstellt. Wegen der Menge an Daten darauf und weil die Schrift oft schwer lesbar ist, war die Indizierung bisher für das Team besonders aufwendig.

Bis zuletzt mussten Martina und ihre Kolleg*innen bei jedem Dokument Name für Name, Ort für Ort, Datum für Datum entziffern und abtippen. Seit 2022 trainieren sie stattdessen eine KI, die ein so genanntes OCR-System steuert. OCR wandelt grafische Information in Text um. Statt 30 Minuten Eingabe von Daten sind es jetzt nur noch wenige Minuten Qualitätskontrolle. Manchmal muss das Team zwar noch Dokumente manuell bearbeiten, weil die OCR-Erkennung nicht immer effektiv anwendbar ist. Grundsätzlich bringt die Technologie aber eine enorme Arbeitserleichterung, wie Martina im Video zeigt.

Wir haben schon neue Ideen für den Einsatz von KI. In einem Pilotprojekt soll die Technologie alle Datenfunde zu einer Person im Online-Archiv visuell miteinander verknüpfen. So könnte man künftig ganze Verschleppungsrouten oder Fluchtwege nachzeichnen.

Michael Hoffmann, Referatsleiter Datenintegration

Restaurierung der Original-Dokumente

Vor ihrer Digitalisierung waren die Original-Dokumente im Archiv ein zentrales Arbeitsmittel bei der Suche nach Vermissten und der Dokumentation von Verfolgungswegen. Diese Nutzung hat viele Spuren hinterlassen. Weil wir die Dokumente für zukünftige Generationen sichern wollen, müssen wir sie nun Schritt für Schritt entsäuern, restaurieren und neu verpacken. Auch 2023 sind wir dabei wieder ein gutes Stück vorangekommen – dank des BKM-Sonderprogramms zur Erhaltung schriftlichen Kulturguts und durch den unermüdlichen Einsatz von Mitarbeiter*innen und Aushilfskräften, die beim aufwendigen Verpacken helfen.

20.100

Akten von Einrichtungen des Lebensborn wurden bis Ende des Jahres 2023 konservatorisch behandelt

360.300

Korrespondenzakten wurden 2023 archivgerecht verpackt

Archiv-Neubau in Bad Arolsen

Wichtiger Meilenstein

Das Weltdokumentenerbe wartet schon lange auf eine angemessene und archivgerechte Unterbringung. Seit Jahren lagern die wertvollen Sammlungen in einem Ausweicharchiv. Im April 2023 konnten die Arolsen Archives und das Land Hessen endlich einen Planungswettbewerb für ein neues Archivgebäude ausschreiben. Über 50 nationale und internationale Planungs- und Architekturbüros hatten sich beworben – 15 wurden für die Teilnahme am Wettbewerb ausgewählt.

Der Gewinner-Entwurf

Das Architekturbüro RIEHLE KOETH aus Stuttgart gewann mit seinem Entwurf den ersten Preis, gefolgt von Nieto Sobejano Architectos aus Berlin und AFF Architekten, ebenfalls aus Berlin. Welcher der drei Entwürfe gebaut werden wird, entscheidet 2024 ein EU-Vergabeverfahren. Bei dem Wettbewerb standen Kriterien wie zeitgenössische Architektur, Funktionalität, Energieeffizienz sowie baurechtliche Vorgaben und Freiflächengestaltung im Mittelpunkt. Besonderes Augenmerk legte die Jury auf eine sinnvolle Einbettung in den historischen Stadtpark am geplanten Standort. Auch eine repräsentative Außen- und Innenwirkung, die dem historischen und gesellschaftlichen Wert der Sammlung gerecht wird, war ein wichtiger Faktor.

Die Arolsen Archives bekommen endlich die bauliche Hülle, die der Bedeutung dieses Archivs entspricht. 30 Millionen Dokumente über NS-Verfolgte werden hier für die Nachwelt erstmals unter perfekten konservatorischen Bedingungen untergebracht. Das Archiv ist gleichermaßen Forschungsstätte und Mahnmal. Aus einer Vielzahl an hervorragenden Entwürfen ist es gelungen, drei außergewöhnlich gute Arbeiten zu prämieren. Eine gute Voraussetzung für das Gelingen des Neubaus

Prof. Gesine Weinmiller, Jury-Vorsitzende

Rund 17,3 Millionen Euro Baukosten sind für den Neubau veranschlagt. Er soll bis 2028 fertiggestellt sein. Auf einer Fläche von rund 3.000 Quadratmetern wird das Gebäude nicht nur die wertvollen historischen Dokumente sicher aufbewahren, sondern auch das UNESCO-Weltenerbe repräsentieren – zum Beispiel als Veranstaltungsort und Anlaufstelle für Erinnerung, Forschung und Bildung.

Eine Archiv-Fassade mit rot eingefärbten Betonteilen, die an Archivboxen erinnern: Diesen Entwurf zeichnete die Jury mit dem zweiten Preis aus.

Platz 3 inszeniert das Archivgebäude im Stil eines Gartendenkmals, harmonisch in den Park eingebettet.

Vorwürfe gegen die Direktion

Anfang März 2023 erhoben Beschäftigte und ehemalige Beschäftigte anonym Vorwürfe zu einem angeblichen Fehlverhalten der Direktion der Arolsen Archives. Der Internationale Ausschuss (IA), das Aufsichts- und Kontrollgremium der Arolsen Archives, gab eine Untersuchung durch eine unabhängige Anwaltskanzlei in Auftrag. Im August 2023 stellte die Kanzlei in ihrem Abschlussbericht fest, dass es keinerlei Hinweise auf arbeitsrechtlich oder strafrechtlich relevante Pflichtverletzungen gegeben habe.

Daraufhin sprach der IA der Direktion das Vertrauen aus. Für eine verbesserte Zusammenarbeit in der Organisation legte der IA außerdem die Entwicklung von vertrauensbildenden Maßnahmen zwischen der Direktion und der Belegschaft fest. Die Umsetzung umfasst eine Vielzahl zusätzlicher Angebote von einem Hinweisgebersystem bis hin zu Maßnahmen für mehr Austausch innerhalb der Institution.

Weiter mit Kapitel #2

Jahresbericht 2023: Projekte und Kampagnen


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