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Jahresbericht 2023: Projekte und Kampagnen

Kapitel #1 ansehen

Über 100.000 Freiwillige bei #everynamecounts

Die Crowdsourcing-Initiative der Arolsen Archives

Bei #everynamecounts errichten Zehntausende Freiwillige aus aller Welt ein digitales Denkmal für die NS-Verfolgten. Dafür stehen auf einer Online-Plattform Millionen Dokumente aus unserem Archiv zur Digitalisierung bereit. Jedes davon enthält wichtige Informationen über die Schicksale der Opfer. Diese Namen, Daten oder Orte tragen die freiwilligen Helfer*innen in eine Datenbank ein.

So wächst das weltgrößte digitale Archiv über die Opfer der Nationalsozialisten immer weiter. Es ermöglicht einfache Recherchen zu Einzelschicksalen genauso wie spezielle Forschungsarbeiten. Vor allem soll es aber ein offener und dauerhafter Erinnerungsort für die Millionen Verfolgten des NS-Regimes sein.

Die #everynamecounts Challenge

Zum internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2023 riefen die Arolsen Archives und ihre Partner zu einer weltweiten #everynamecounts Challenge auf. Gemeinsam mit den Freiwilligen haben wir innerhalb von einer Woche Zehntausende Dokumente digitalisiert: Es ging um die sogenannten Häftlings-Personal-Karten, die von der SS im KZ Stutthof angelegt wurden. Unsere Social-Media-Mitarbeiterin Lilith erklärte auf Instagram, TikTok und Facebook, wie das Crowdsourcing funktioniert.

Über 15.000 Freiwillige sind dem Aufruf gefolgt: Etliche Schülerinnen und Schüler, aber auch 160 Institutionen und Unternehmen. Dazu gehörten Reporter ohne Grenzen, das U.S Generalkonsulat Frankfurt und das Pharma-Unternehmen Pfizer. Gemeinsam haben die Freiwilligen alle Erwartungen übertroffen und auf der #everynamecounts-Plattform fast 70.000 Namen von NS-Verfolgten digital erfasst.


Prominente Unterstützung für #everynamecounts

Im Rahmen der Crowdsourcing-Challenge Anfang 2023 hat sich auch Claudia Roth, die Staatsministerin für Kultur und Medien in Deutschland, für #everynamecounts eingesetzt. Sie besuchte die Arolsen Archives im März 2023, um die Mitarbeiter*innen, das umfangreiche Archiv und unsere Kampagnen besser kennenzulernen und zu unterstützen.

#everynamecounts ist zukunftsgewandtes Gedenken, das unsere tatkräftige Unterstützung verdient. Hier entsteht ein einzigartiges digitales Denkmal, bei dem jeder Mensch mitmachen und einen ganz konkreten Beitrag dazu leisten kann, die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten, ihr Schicksal international sichtbar und insbesondere jüngeren Menschen zugänglich zu machen. Gleichzeitig setzen alle, die daran mitwirken, ein starkes Zeichen gegen Hass und Hetze, gegen Antisemitismus und Rassismus.

Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien

3,3 Mio.

Bearbeitete Dokumente (2021 – 2023)

120.000

Freiwillige (Stand Dezember 2023)

Neues Crowdsourcing-Tool

Anfang 2023 haben wir eine neue Plattform veröffentlicht, die einen besonders einfachen Einstieg in das Crowdsourcing ermöglicht. Eine nutzerorientierte Eingabemaske und ein eigenes, spezifisches Indizierungs-Tool erleichtern die Arbeit mit den historischen Dokumenten. Das Angebot richtet sich insbesondere an die junge Generation und an Menschen, die nur gelegentlich mitmachen wollen. Es macht #everynamecounts für jede*n zugänglich, ohne digitale oder historische Kenntnisse vorauszusetzen.

#everynamecounts: Erinnerungslücke KZ Ohrdruf

Bei der Thüringer Erinnerungswoche „#everynamecounts: Erinnerungslücke KZ Ohrdruf“ (Mai 2023) engagierten sich Hunderte freiwillige Helfer*innen. Sie digitalisierten Dokumente mit mehr als 30.000 Namen von Häftlingen, die während der NS-Zeit im KZ Ohrdruf bei Gotha (Thüringen) inhaftiert waren.
In dem Lager starben zirka 10.000 Menschen. Dennoch ist es heute weitgehend unbekannt. Mit dem Bearbeiten der Dokumente bei #everynamecounts halfen lokale Unternehmen, Vereine und Schulen, die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten.

Zu der Erinnerungswoche rief die Stiftung Schloss Friedenstein Gotha zusammen mit den Arolsen Archives und den Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora auf. Im Rahmen des Projekts „Deutsche Erinnerungslücke KZ Ohrdruf“ wird ein virtueller Erinnerungsort für das frühere Konzentrationslager entwickelt. Dazu zählen neben Kampagnen auch Workshops und vor allem das digitale Lernmodul „Suspekt: Landschaft der Verbrechen“ für die neue Bildungsplattform der Arolsen Archives.

Digitale Lernangebote für die GenZ

Unsere Studie „Wie steht die GenZ zur NS-Zeit?“ aus dem Jahr 2022 hat gezeigt, dass Jugendliche sich für die NS-Geschichte interessieren – und dass sie moderne, digitale Formate erwarten, mit denen sie die Vergangenheit selbstbestimmt erkunden können. Damit war die Messlatte für die Entwicklung von neuen, spannenden interaktiven Lernangeboten definiert. Das Team Education der Arolsen Archives entwickelt neue Formate, die Geschichte auf attraktive Weise vermitteln und Impulse für eine aktive Erinnerungskultur geben. Sie sollen junge Menschen befähigen, in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine Haltung zu gesellschaftlichen Fragen zu entwickeln. 

Bildungshub „und heute?“

Die digitale Bildungsplattform „und heute?“ ist ein Angebot der historisch-politischen Bildung für Jugendliche, die in einer digitalen Welt aufwachsen. Explorative Lernmodule (Minigames) beschäftigen sich mit NS-Geschichte und behandeln gleichzeitig Fragen zu Ausgrenzung und Teilhabe seit 1945: Wie wirken die Verbrechen der NS-Zeit bis heute nach? Wie wäre mein Leben mit einem anderen Pass? Warum wandern Menschen aus – damals wie heute?

Die Minigames lassen sich individuell oder in Gruppen spielen. Dazu hält die Plattform spezielle Gruppenfunktionen und Dashboards bereit. „und heute?“ bietet einen geschützten, bewertungsfreien Raum, in dem sich Jugendliche mit Avataren bewegen und Punkte sammeln können. Elemente wie Dialogboxen, die anonyme Meinungsumfragen ermöglichen, regen dazu an, das Gelernte zu reflektieren und fördern den Austausch untereinander.

Partizipative Entwicklung der Inhalte

„und heute?“ wird zusammen mit Schülerinnen und Schülern entwickelt und ausgebaut. So stellen wir sicher, dass digitale Bildungsangebote entstehen, die junge Menschen wirklich erreichen und sie zur Beschäftigung mit Geschichte motivieren. 2023 hatten schon einige Schulklassen aus ganz Deutschland die Gelegenheit, die Plattform zu testen und uns ihr Feedback zu geben. 

Mit dem Handy auf den Spuren jüdischen Lebens in Berlin

Das Bildungsangebot „Murmeln der Erinnerung“ ist seit 2023 in der App berlinHistory abrufbar. Fünf multimediale Walking-Touren führen an Orte jüdischen Lebens in Berlin und erzählen die Geschichten von Schüler*innen zur NS-Zeit. Sie richten sich an Jugendliche ab 14 Jahren, Schulgruppen, aber auch Erwachsene oder Familien. Interaktive Funktionen stärken eine selbstbestimmte Auseinandersetzung sowohl mit dem Holocaust als auch mit der Berliner Stadtgeschichte und der Zerstörung des dortigen jüdischen Lebens.

„Kein Thema“: Geschichte auf TikTok

Stimmen gegen rechts

Die Bundesregierung unterstützte „Kein Thema“ 2023 als Teil einer Initiative gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Es gab viel positives Feedback für die Videos. Zahlreiche Nutzer*innen waren überrascht, welche Ansichten aus der NS-Zeit bis heute unseren Alltag prägen. Viele der Inhalte provozierten aber auch schlimme Hasskommentare, die unsere jungen Moderator*innen und Gäst*innen persönlich verletzten. Solche Ereignisse melden wir konsequent. Auch unseren Nutzern geben wir Empfehlungen, wie man mit Hass im Netz umgeht.

Große Reichweite durch Social Media

Sechs Social-Media-Posts pro Tag

Die Arolsen Archives haben ihre Social-Media-Plattformen auch über die Formate von „Kein Thema“ hinaus weiterhin intensiv genutzt, um wichtige Themen zu setzen. Auf Facebook, Twitter, X, Instagram und TikTok posteten wir im Jahr 2023 viele Suchaufrufe, erzählten die Schicksale von Verfolgten, berichteten über Familienzusammenführungen und machten auf aktuelle Formen von Rassismus aufmerksam.

2.300

Posts auf allen Plattformen (Jahr 2023)

11.500

Neue Follower*innen (Jahr 2023)

400.000

Interaktionen mit den Posts (Likes, Kommentare, etc.)

30 Mio.

Impressionen (wie oft eine Person einen Post gesehen hat)

Rekord-Jahr für #StolenMemory

Bei #StolenMemory geht es um den letzten Besitz von Opfern des NS-Regimes. Alles, was KZ-Häftlinge bei sich hatten – Schmuck, Fotos, Alltagsgegenstände – nahm die SS ihnen bei der Verhaftung ab. Unser Archiv bewahrt noch solche persönlichen Gegenstände („Effekten“) von mehr als 2.000 früheren Häftlingen. Wir wollen ihren Familien diese Erinnerungsstücke zurückgeben. Die Kampagne und Ausstellung #StolenMemory ruft weltweit Freiwillige auf, bei der Suche nach den Familien zu helfen.

2023 gelangen unserem Such-Team dank der tatkräftigen Unterstützung von Freiwilligen so viele Rückgaben wie noch in keinem Jahr seit dem Start der Kampagne im Jahr 2016. Besonders aktiv waren die Helfer*innen in Polen, Frankreich und den Niederlanden.

#StolenMemory in Frankreich

Seit Juni 2023 tourt auch ein #StolenMemory-Container mit einer Ausstellung über die Schicksale der Effekten-Eigentümer durch Frankreich. Die Wanderausstellung wird gefördert durch das Französische Außenministerium und die Fondation pour la Mémoire de la Shoah. Sie startete vor dem Panthéon in Paris und lief danach noch neun weitere Städte an. So erhielt #StolenMemory viel Aufmerksamkeit vor Ort – insgesamt 40 Familien fanden Freiwillige in Frankreich im Jahr 2023.

Auf Tour durch Europa

Unsere vier #StolenMemory-Ausstellungscontainer tourten 2023 durch Deutschland, Polen, Belgien und Frankreich. Sie liefen insgesamt 53 Ausstellungsorte an und zeigen die Effekten ehemaliger Häftlinge aus dem jeweiligen Land, deren Verwandte wir noch suchen. Auch die Geschichten von erfolgreichen Rückgaben an Familien stellen wir vor. Durch Kooperationen mit örtlichen Institutionen, wie Schulen und Vereinen, können die Menschen vor Ort mit Biografien und Dokumenten arbeiten und sich selbst auf Spurensuche begeben.

Jugendliche ermöglichten Rückgabe in Polen

Im Rahmen einer Kooperation mit dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk helfen regelmäßig auch Schülergruppen aus Polen und Deutschland gemeinsam bei #StolenMemory. Im Mai 2023 trafen Schüler*innen in Warschau zusammen, um Tadeusz Stramko die Kette seiner Mutter Marianna Miedzinska zu übergeben. Die Jugendlichen hatten ihn über eine Facebook-Suche gefunden.

Neuer Animationsfilm

Die #StolenMemory-Website stellt Bildungsmaterialien zum Download bereit und bietet interessante Einblicke: Kurze, animierte Filme mit ergänzenden Webstories und Videos mit Angehörigen erzählen von individuellen Schicksalen. 2023 haben wir den fünften Animationsfilm mit begleitender Webstory veröffentlicht. Er zeigt die Geschichte des Ukrainers Sacharij Kistetschok, der nach Bayern zur Zwangsarbeit verschleppt wurde und dort unter ungeklärten Umständen starb.

#LastSeen geht online

Bilder der NS-Deportationen

Zwischen 1938 und 1945 deportierten die Nationalsozialisten hunderttausende Menschen aus dem Deutschen Reich. Trotz der massenhaften Deportationen sind überraschend wenige Fotos überliefert. Im Rahmen der Partner-Initiative #LastSeen. Bilder der NS-Deportationen haben wir gemeinsam mit vier weiteren Institutionen bekannte und vergessene Bilder zusammengetragen und bis ins Detail hinein erschlossen. Die Ergebnisse der Forschung wurden in eine digitale Plattform eingespeist.

Im März 2023 ging #LastSeen mit einem digitalen Bildatlas und einem Entdeckungsspiel online. Im Rahmen des Projekts haben die Partner zudem Workshops für Jugendliche angeboten und eine digitale Vortragsreihe zum Thema „Aktuelle Forschungen zu Deportations- und Fotogeschichte“ aufgesetzt. Der Bildatlas wird kontinuierlich weiterentwickelt.

Die Partner der Initiative

#LastSeen betreiben die Arolsen Archives gemeinsam mit:
Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz
Institut für Stadtgeschichte und Erinnerungskultur
USC Dornsife Center for Advanced Genocide Research
Zentrum für Antisemitismusforschung

In der ersten Projektphase 2021-2023 förderte die Bildungsagenda NS-Unrecht der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft das Projekt. In der zweiten Förderphase 2023-2025 wird #LastSeen von der Alfred Landecker Foundation gefördert.

Ausstellung im historischen LKW

Auch eine #LastSeen-Wanderausstellung tourte ab 2022 durch verschiedene deutsche Städte, um auf die Initiative aufmerksam zu machen. Auf der Ladefläche eines historischen LKWs zeigte die Ausstellung Bilder und Orte der Deportationen und rief zum Mitmachen auf. 2023 lief der LKW seine letzten drei Stationen in Petershagen, Porta Westfalica und Saarbrücken an.

Hilfe für Archive und NS-Überlebende in der Ukraine

Hilfsnetzwerk NS-Überlebende

Seit Beginn des Angriffskriegs sind die Arolsen Archives Mitglied im Hilfsnetzwerk für Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine. Gemeinsam rufen wir zu Spenden auf, um den Überlebenden und ihren Angehörigen zu helfen. 2023 war das Netzwerk besonders erfolgreich und erreichte in fast 4.000 Fällen bedürftige Menschen mit finanziellen Soforthilfen und dringend benötigten Hilfsgütern – zum Beispiel Tamara S. (geb. 1933) aus Mykolajiw. Als Kind durchlief sie mehrere Konzentrationslager und musste anschließend Zwangsarbeit leisten.

Unterstützung für ukrainische Archive

Die russischen Angriffe treffen auch viele Archive in der Ukraine. Dabei werden teils bedeutende Sammlungen zur NS-Zeit und zu Verfolgungen im Stalin-Regime zerstört. Deshalb helfen die Arolsen Archives ihren ukrainischen Partnern bereits seit 2022 bei der Digitalisierung ihrer Bestände. 2023 haben wir mit Archiv-Vertreter*innen in der Ukraine systematische Interviews durchgeführt. Der abschließende Bericht dokumentierte den Grad der Zerstörung, ermittelte den Bedarf und rief zur gezielten Hilfe für die bedrohten Archive und Sammlungen auf.

Vielen Dank für Ihr Interesse an unserem Jahresbericht!