Benedek Sátori aus Ungarn war einer von etwa 7.000 Zwangsarbeitern, die 1944/45 im Konzentrationslager Ohrdruf bei Gotha Zwangsarbeit leisten mussten. Sein Schicksal blieb über Jahrzehnte hinweg ungeklärt ‒ bis sein Enkel Péter Füzi einen Suchantrag bei den Arolsen Archives stellte.

An den steilen Kalksteinwänden im thüringischen Jonastal hält Péter Füzi einen Moment inne. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die tiefliegenden Augen von einer Sonnenbrille verdeckt. Es ist der 23. April 2024 und der ungarische Mathematiker im Ruhestand hat eine lange Reise hinter sich – in vielerlei Hinsicht.

Unter einer Kieferngruppe hat er zusammen mit seiner Frau im Jonastal eine lila Wildblume aus ihrem Garten in der Nähe von Budapest gepflanzt. In Gedenken an seinen jüdischen Großvater Benedek Sátori, der wahrscheinlich Anfang 1945 hier, im damaligen Konzentrationslager Ohrdruf bei Gotha, zu Tode gekommen ist. Ganz geklärt werden konnten Sterbeort und -zeit bis heute nicht.

 

Péter Füzi fotografiert die Blume, die er zum Gedenken an seinen Großvater im Jonastal gepflanzt hat. (Foto: Arolsen Archives)

 

 

Verschollen an der Westgrenze Ungarns

Benedek Sátori wird 1897 in Budapest als Sohn einer jüdischen Industriellenfamilie geboren. Er dient im Ersten Weltkrieg, wird verwundet und mit einer Tapferkeitsmedaille entlassen. In den 1920er Jahren heiratet er und arbeitet als Sekretär beim Königlich Ungarischen Automobilclub.

 

Benedek Sátori (links), seine Tochter Adél (Mitte) und Adél mit Peter. (Foto: Familienalbum von Péter Füzi)

 

 

Zeitlebens kümmert er sich um seine Tochter Adél, die er als junger Mann mit dem Dienstmädchen der Familie gezeugt hat. Wegen der judenfeindlichen Gesetze, die ab 1938 in Ungarn erlassen werden, setzt er ihre Adoption als leibliche Tochter aus. Denn Adéls Mutter stammte aus einer christlichen Familie und die Vorsichtsmaßnahme hilft Adél, dem Holocaust zu entgehen. Benedek zahlt ihr jedoch Lebensunterhalt und Ausbildung, damit sie in seiner Nähe in Budapest wohnen kann.

Im November 1944 wird Benedek Sátori zum Arbeitsdienst einberufen und an die Westgrenze Ungarns in die Nähe von Sopron verlegt. In einer Postkarte, abgeschickt aus dem Lager Balf bei Sopron am 7. Dezember 1944, schreibt er:

 

»Unsere Tage vergehen unter ziemlich schwierigen Umständen. An manchen Tagen wünschte ich, ich wäre nicht mehr am Leben.«

Benedek Sátori

 

Ein weißer Fleck in der Familiengeschichte

Die Postkarte blieb das letzte Lebenszeichen von Benedek. Nach ihrer Ausbildung zur Frisörin verbrachte Tochter Adél die Kriegsjahre wegen einer Lungenerkrankung in Krankenhäusern und Sanatorien. Nach dem Krieg war sie sich sicher, dass ihr Vater an der Westgrenze gestorben war. So erzählte sie es ihrem Sohn Péter, als sie dem damals 20-Jährigen die Postkarte seines Opas zeigte. Und in diesem Glauben starb sie 2014 mit 89 Jahren.

Erst im Rentenalter begann Péter, sich intensiver mit seiner Familiengeschichte zu beschäftigen. Er nahm Kontakt mit dem Holocaust Memorial Center in Budapest auf, um seinen Großvater als NS-Opfer an der „Wall of Victims“ würdigen zu lassen. Dort riet man ihm, eine Anfrage bei den Arolsen Archives zu stellen.

 

Spuren im Archiv ‒ ein neues Kapitel

Dokumente aus den Arolsen Archives legen nah: Benedek Sátori wurde im Dezember 1944 aus dem Lager Balf im besetzten Ungarn in Richtung Thüringen deportiert, vermutlich zunächst ins Konzentrationslager Buchenwald. An Weihnachten befindet sich der jüdische Häftling im Außenlager Ohrdruf. Eine letzte Meldung zu seinem Aufenthalt dort stammt von Mitte Januar 1945. Nach Kriegsende, im Dezember 1945 wird eine Liste der im KZ Buchenwald umgekommenen Ungarn erstellt. Darauf findet sich auch sein Name, obwohl er wahrscheinlich in Ohrdruf starb. Das Außenlager wurde Anfang 1945 von Buchenwald aus verwaltet.

 

Auflistung der Politischen Abteilung im KZ Buchenwald über Neuzugänge vom 12.1.1945 von „SIII“ (Tarnname für das KZ Ohrdruf). Quelle: Arolsen Archives
Auflistung der Politischen Abteilung im KZ Buchenwald über Neuzugänge vom 12.1.1945 von „SIII“ (Tarnname für das KZ Ohrdruf). (Quelle: Arolsen Archives)
Auflistung der Politischen Abteilung im KZ Buchenwald über Neuzugänge vom 12.1.1945 von „SIII“ (Tarnname für das KZ Ohrdruf). Quelle: Arolsen Archives
Großbaustelle Jonastal: Am Fuß des Steilhangs sind sieben der über 25 Stolleneingänge zu sehen. (Foto: unbekannt, aufgenommen von US-Streitkräften)

Das KZ Ohrdruf

Das KZ Ohrdruf wurde als Außenlager von Buchenwald im November 1944 errichtet. Die Häftlinge mussten unter unmenschlichen Bedingungen im nahen Jonastal Zwangsarbeit leisten und mindestens 25 Stollen in den Berg graben. Heute weiß man: etwa 7.000 Häftlinge starben. Der Komplex sollte vermutlich als alternatives „Führerhauptquartier“, als letzte Zuflucht für Hitler und seine Reichsregierung, dienen. Er wurde nie fertiggestellt. Das KZ Ohrdruf war das erste von über 130 Außenlagern Buchenwalds, das die US-Armee 1945 befreite.

 

Jungen Menschen vom Holocaust berichten

Für Péter Füzi ist das Wissen über das Schicksal seines Großvaters von großer Bedeutung. Im April 2024 tritt er die Reise von Budapest nach Ohrdruf an, um das Gelände zu besuchen, auf dem sich das Konzentrationslager befand. Bei seinem Besuch spricht er auch mit Schüler*innen eines Gymnasiums in Ohrdruf. Der Vater von drei Töchtern und zwei Enkelkindern will jungen Menschen von seinem Großvater erzählen. Denn, so sagt er:

 

»Wenn wir uns an ein einzelnes Opfer erinnern, erinnern wir uns an alle, an den gesamten Holocaust.«

Peter Füzi

 

Deshalb sei es wichtig, weiter an die Opfer des Holocaust zu erinnern und das Gedenken so zu gestalten, dass es den Fähigkeiten und der Reife der Zielgruppe entspricht.

 

Gedenkstein auf dem Gelände in Ohrdruf. (Foto: Arolsen Archives)
Péter Füzi läutet die Glocke zum Gedenken an seinen Großvater Benedek Sátori. (Foto: Arolsen Archives)

Früher KZ, heute Truppenübungsplatz

Das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Ohrdruf wird heute als Truppenübungsplatz von der Bundeswehr genutzt. Es ist nach Vereinbarung öffentlich zugänglich. Nur drei kleine Gedenkobjekte ‒ zwei Gedenksteine und eine Glocke ‒ erinnern an das Lager und seine Opfer.

Im Bildungsangebot „Suspekt – Landschaft der Verbrechen“ auf unserer Plattform „und heute?“ lässt sich das Lagergelände virtuell erkunden.

 

Bei seinem Besuch in Ohrdruf gab Péter Füzi der Leiterin Education der Arolsen Archives, Birthe Pater, ein Interview und berichtete ausführlich über seine Familiengeschichte. Das Video ist auf englischer Sprache.

 

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