Schicksale
klären
Von Familienangehörigen über Wissenschaftler, Journalisten und Hobbyforscher bis hin zu den Überlebenden selbst: Jedes Jahr wenden sich viele tausend Menschen aus der ganzen Welt an die Arolsen Archives, um mehr über das Schicksal von NS-Verfolgten zu erfahren. Die Such- und Aufklärungsarbeit war von Anfang an unser wichtigster Auftrag und beschäftigt auch heute noch die meisten Mitarbeiter. Gefragt sind dabei Empathie, Geschichts- und Fremdsprachenkenntnisse und ein langer Atem.
Die Anfragenden erhalten von uns Kopien von Dokumenten, die im Archiv aufbewahrt werden. Sie bekommen auch Tipps, an welchen Stellen sich die weitere Suche lohnen könnte. Oft möchten die Angehörigen auch nach Bad Arolsen kommen, um sich die Originaldokumente anzusehen. Unsere Mitarbeiter führen sie dann durch das Schicksal ihres Verwandten, erklären die Dokumente und liefern Kontextinformationen über die Systematik der NS-Verfolgung, Zwangsarbeit oder den Alltag in den Konzentrationslagern. Dieser Service gilt nicht nur für Angehörige: Wir recherchieren auch für Hobbyforscher, Historiker, Journalisten und alle, die sich für die NS-Verfolgung interessieren. Jeder darf auch selbst bei uns vor Ort recherchieren und sich dabei auf eine umfassende Beratung und Betreuung durch unsere Mitarbeiter verlassen.
Verfolgungswege
Viele der Opfer wurden über Jahre verfolgt, mehrmals verhaftet und an verschiedene Orte verschleppt. Manchmal führte der Terror des NS-Regimes diese Menschen durch ganz Europa. Die Täter dokumentierten die Deportationen, Einlieferungen, Krankheits- und Todesfälle in den Konzentrationslagern akribisch. Diese Unterlagen sind zwar nicht aus jedem Lager erhalten. Dennoch haben die Alliierten bei der Befreiung große Mengen von Dokumenten sichergestellt. Später wurde die Sammlung systematisch erweitert, um so viele Informationen wie möglich aus einer Hand geben zu können.
Heute sind die Mitarbeiter*innen der Arolsen Archives in der Lage, in über 50 Prozent der Fälle Auskunft zu geben. Vielfach sind es nur Bruchstücke des Verfolgungswegs, doch manchmal können sogar alle Stationen eines Opfers von der Verhaftung bis zum Tod oder zur Befreiung dokumentiert werden. Anfragen bleiben aber auch oft ergebnislos, weil die Namen der Opfer nicht überliefert sind: In Vernichtungslagern wie Auschwitz oder bei Massenerschießungen in Osteuropa machten sich die Mörder nicht mehr die Arbeit, die Namen der Menschen zu erfassen.
Den Einzelschicksalen auf der Spur
„Das ist keine Arbeit, sondern eine Mission.“
Malgorzata Przybyla arbeitet seit 1992 bei den Arolsen Archives. Sie hat schon hunderte Anfragen beantwortet, vor allem aus Polen. Ihre Aufgaben erfüllt sie mit Herzblut, denn es gibt ständig neue Herausforderungen: Junge Generationen stellen heute ganz andere Fragen über die NS-Verfolgung als ihre Großeltern. Die Digitalisierung hat die Arbeitsweise revolutioniert. Und jede Suche bringt individuelle Schicksale hervor, die zeigen, welche Auswirkungen der Nationalsozialismus auf Menschen in ganz Europa hatte.
Frau Przybyla, wie hat sich Ihre Arbeit in den letzten Jahren verändert?
Wir arbeiten jetzt schneller und direkter. Ich kann heute eine Anfrage von Anfang bis Ende betreuen. Dadurch entsteht ein viel persönlicheres Verhältnis mit dem Menschen, der die Anfrage gestellt hat. Früher waren an einem Vorgang oft vier, fünf Kollegen beteiligt. Die digitale Welt erleichtert unsere Arbeit ungemein, auch die Digitalisierung der anderen Archive. Heute kann ich ganz leicht in Online-Archiven herausfinden, ob jemand schon irgendwo gesucht wird.
Welche Fähigkeiten braucht man für Ihre Aufgabe?
Sprach- und Landeskenntnisse sind extrem wichtig. Ich beschäftige mich fast ausschließlich mit Anfragen aus Polen. Die Menschen dort wissen es sehr zu schätzen, wenn eine „Landsfrau“ in ihrer Sprache mit ihnen kommuniziert und empathisch ist. Dieses Land war in besonderer Weise betroffen durch die Verfolgung der Nazis. In fast jeder Familie gibt es eine Geschichte dazu. Mitgefühl spielt also eine große Rolle – dafür muss man sich Zeit nehmen.
War auch Ihre Familie von der Verfolgung betroffen?
Mein Großvater ist im KZ umgekommen, ich habe ihn also nie kennengelernt. Meine Familie hat viel Wert daraufgelegt, diesen Teil der Geschichte zu würdigen. Und aufzuklären. Fast alle meine Verwandten sind Hobby-Historiker. Viel Wissen über den Zweiten Weltkrieg und ein hohes Interesse für die Geschichte der NS-Verfolgung: Das sind ebenfalls wichtige Grundlagen für meine Arbeit hier.
Haben Sie über die Geschichte noch viel gelernt bei den Arolsen Archives?
Ja, gerade am Anfang. Ich bin im Alter von 27 Jahren als Ehefrau eines Spätaussiedlers von Polen nach Deutschland ausgewandert. So viel in meiner Familie auch erzählt und diskutiert wurde: Meine Schulbildung beruhte auf einer Sichtweise, nach der alle Deutschen Täter waren. Und zwar nur die Deutschen. Dass Polen zwei Wochen nach dem Überfall der Nazis nochmal von Russland überfallen wurde, kam in unserem Geschichtsunterricht nicht vor. Hier in Deutschland, und gerade bei den Arolsen Archives, habe ich viele deutsche Gegner und auch Opfer der Nazis kennengelernt. Deshalb kann ich heute die Geschichte meines Landes aus zwei Perspektiven betrachten. Das versuche ich auch immer, den Menschen in Polen zu vermitteln.
Geschichtsvermittlung ist also auch ein Teil Ihrer Arbeit?
Immer mehr. In den 90er Jahren, also zu Beginn meiner Aufgabe hier, hat das noch keine große Rolle gespielt. Da haben viele Überlebende angefragt, die zum Beispiel Bescheinigungen über ihre Inhaftierung oder Deportation brauchten. Denen musste ich natürlich nicht erklären, was ein Konzentrationslager ist, wie dort die Abläufe waren und was die Häftlingskategorie „Berufsverbrecher“ auf einem Dokument bedeutet. Im schlimmsten Fall hatten sie das ja selbst hautnah erlebt. Heute kommen die Anfragen meist von den Kindern, Enkelkindern, manchmal auch schon von Urenkeln.
Wie sieht eine typische Anfrage aus diesen Generationen aus?
Es geht um Schicksalsklärung, um die Erforschung der eigenen Familiengeschichte: „In meiner Familie wurde erzählt, dass es einen Onkel gab, der verschleppt wurde und nie zurückkam. Ich möchte jetzt wissen, was mit ihm geschah.“ Die Ahnenforschung steht gerade hoch im Kurs in den polnischen Familien. Manchmal dreht sich die Recherche auch um verstorbene Opas und Omas, die man vielleicht noch kennengelernt hat, die aber nie über ihr Schicksal gesprochen haben. Diese Enkel brauchen dann viele Zusatzinformationen über die Systematik der NS-Verfolgung. Sie möchten die Dokumente und die Informationen dazu genau erklärt bekommen – am liebsten auf Polnisch.
Wie gehen Sie bei der Suche vor?
Für mich führt der erste Weg zu unserer Zentralen Namenkartei, um zu erfahren, ob wir über die Person Informationen haben. Darüber finde ich dann eventuell weitere Dokumente. Sehr oft verbergen sich darin Informationen wie der letzte Wohnort oder die Namen von Eltern, Geschwistern. Dann kann ich zum Beispiel mithilfe des Roten Kreuzes nach Angehörigen suchen. Meine Hauptaufgabe ist heute die Suche nach Verwandten ehemaliger KZ-Häftlinge, von denen wir noch persönliche Sachen wie Uhren oder Schmuck in unserem Archiv haben. Da gibt es Hunderte aus Polen, die wir noch ausfindig machen müssen, um die Sachen zurückzugeben.
Gibt es Fälle, die Sie besonders beeindruckt haben, an die Sie sich immer erinnern werden?
Viele. Zum Beispiel die traurige, aber auch schöne Geschichte über einen kleinen Jungen. Er wurde 1945 in Österreich geboren. Die Nazis haben ihn zusammen mit Hunderten Kindern auf einen Transport nach Polen geschickt. Eine polnische Familie hat ihn unterwegs gerettet. Bei ihnen wuchs er auf, aber erst als die Eltern starben, erzählte ihm seine älteste Schwester diese Geschichte. Dann hat er bei uns angefragt. Parallel hatten wir eine Anfrage von einem Paar aus Weißrussland, das nach dem Krieg nach Australien ausgewandert war. Sie waren Zwangsarbeiter in Österreich und bekamen dort ein Kind. Die Nazis nahmen ihnen den Jungen weg und sagten ihnen nach zwei Wochen, dass er gestorben sei. Das waren seine Eltern, wir konnten das alles mit unseren Dokumenten nachvollziehen! Der Sohn hat dann im Alter von 60 Jahren noch seine Mutter und seine Geschwister in Australien kennengelernt. Sein Vater war leider schon gestorben.
Ist das nicht auch eine ziemlich belastende Arbeit?
Ich sage immer: Das ist keine Arbeit, sondern eine Mission. Wir beschäftigen uns mit einem der dunkelsten Kapitel der menschlichen Geschichte. Das ist oft hässlich, da geht es um viele schreckliche und traurige Schicksale. Aber bei uns fragen ja Menschen an, die das alles unbedingt wissen wollen. Sie wollen aufklären und brauchen dabei Unterstützung. Die persönliche Beziehung, die dabei oft entsteht, das Vertrauen der Menschen und ihre Dankbarkeit machen mir die Arbeit leicht. Manche Geschichten lassen mich nicht los – dann recherchiere ich sogar in meiner Freizeit weiter!
Drei Frauen, drei Generationen
Mirjams Großvater Abraham wanderte nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Dachau ohne seine Frau und Tochter nach Israel aus. Mirjam wollte mehr über ihn erfahren und bat die Arolsen Archives um Hilfe. Die Recherchen ergaben, dass Abrahams jahrelanger Leidensweg durch verschiedene KZs in unserem Archiv gut dokumentiert sind. Eine israelische Hilfsorganisation unterstützte uns bei der Suche nach weiteren Angehörigen und fand schnell heraus, dass Abraham in Israel einen Sohn und eine weitere Tochter hatte. Bei einem Familientreffen in Israel erzählen Mirjam, ihre Tochter und Mirjams Halbschwester Yaffa, wie es sich anfühlt, plötzlich eine „neue“ Familie zu bekommen: