Sollen Millionen Dokumente über die Opfer der NS-Verfolgung frei verfügbar im Internet stehen? Bei den Arolsen Archives wurde das Online-Archiv kontrovers diskutiert, bevor es in die Entwicklung ging. Auf der einen Seite stand das Bedürfnis, das UNESCO-Weltdokumentenerbe möglichst vielen Menschen auf der Welt zugänglich zu machen. Aber werden auf diese Weise nicht Nazi-Dokumente aus ihrem historischen Kontext gerissen? Oder gar Persönlichkeits- und Urheberrechte verletzt? Mit diesen Fragen haben sich die Arolsen Archives kritisch auseinandergesetzt: Die meisten Experten und vor allem die Angehörigen der Opfer finden, dass die Möglichkeiten eines Online-Archivs viel weitreichender sind als die Risiken.

»Unser Archiv ist eine unverzichtbare Wissensquelle für die heutige Gesellschaft. Wir müssen es online verfügbar machen, damit dieses Wissen auch die jüngeren Generationen erreicht. Das Recht der Opfer und ihrer Familien auf Wahrheit und Information hat für uns außerdem höchste Priorität.«

Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives

Die rechtlichen Grundlagen

Die Arolsen Archives unterliegen nicht nationalen Datenschutzrichtlinien, sondern spezifischen internationalen Bestimmungen: Der Internationale Ausschuss (IA) – Regierungsvertreter aus elf Mitgliedstaaten – überwacht die Arbeit der Institution im Sinn der ehemals Verfolgten. Im Artikel 11 des von allen Mitgliedsstaaten ratifizierten internationalen Vertrags ist festgelegt, dass der IA eigenständig die Richtlinien zur Veröffentlichung von persönlichen Daten aus dem Bestand der Arolsen Archives bestimmt. Im Jahr 2017 hat sich der IA für die Online-Stellung mit 25 Jahren Frist entschieden. Das heißt: Alle Dokumente aus dem Archiv  sind zugänglich – außer Anfragen, die jünger als 25 Jahre sind.

„Endlich!“

Was sagen die Angehörigen und andere Interessierte, die jetzt online recherchieren können? Allein in der ersten Woche haben mehr als 100000 Menschen das neue Online-Archiv genutzt. Viele haben uns über Social Media von ihren Erfahrungen berichtet. Die Nutzer sind durchweg begeistert von den neuen Möglichkeiten:

»Ich danke allen für diese wichtigen Informationen. Ich habe etwas mehr darüber erfahren, was meinem Großvater passiert ist. Ich sah seine Unterschrift zum ersten Mal und weiß, dass er sehr schnell weggebracht wurde, weil er so wenige Dinge bei sich hatte. Seid gesegnet für dieses Projekt.«

»Endlich! Wie viele Jahre haben viele von uns, die sich mit NS-Geschichte befassen, darauf gewartet. Danke allen, die es ermöglicht haben!«

»Unglaublich, ich habe Informationen und Namen von der Verwandtschaft meines Vaters gefunden, die ich vorher nicht kannte! Sehr aufregend!«

»Mein Vater hat nie über die Angehörigen gesprochen, die er verloren hat. Daher ist es unheimlich wichtig für uns, auch nur einen Namen auf einer Liste zurückzugewinnen. Diese  Akten geben viel mehr Informationen. Ich bin so dankbar für die Bemühungen, die hinter dem Hochladen dieser Daten stehen.«

»Ich zittere, hier ist ein Verwandter von mir, vielen Dank an das Archiv @itsarolsen und @yadvashem für die harte Arbeit. Ich weine.«

Nachgefragt

Wir haben internationale Holocaust-Forscher, Historiker und Datenschutz-Spezialisten gefragt:
Was halten Sie von einem Online-Archiv über die Opfer der NS-Verfolgung? Welche Chancen und Risiken sehen Sie beim Übergang vom analogen zum digitalen Arbeiten mit Archivmaterialien?

Arye Schreiber, Berater für Datenschutz und Spezialist für die Datenschutz-Grundverordnung der EU

Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit

Die Arolsen Archives leisten einen enormen Beitrag zum Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Das Archiv sollte weit verbreitet und immer zugänglicher und verfügbarer gemacht werden.

Dr. Tobias Herrmann, Bundesarchiv Deutschland

Eine faszinierende Möglichkeit

Die Online-Präsentation von digitalem Archivgut ist eine faszinierende Möglichkeit, zentrale historische Quellen orts- und zeitunabhängig einem potenziell uneingeschränkten Nutzerkreis zugänglich zu machen.

Zvi Bernhardt, Stellvertretender Direktor „Reference and Information Services“ und „Hall of Names“, Yad Vashem World Holocaust Center

Transparenz verbessern

Das neue Online-Archiv, das die Arolsen Archives in Zusammenarbeit mit Yad Vashem veröffentlicht haben, hat zum Ziel, die Transparenz und den Zugang zu Informationen über die Verbrechen und Gräueltaten der NS-Zeit zu verbessern.

Dan Stone, Professor für Neue Geschichte und Direktor des Holocaust Research Centre an der University of London

Risiken und Vorteile

Generell würde ich sagen, dass die Risiken in vielerlei Hinsicht die gleichen sind wie die Vorteile.

Suzanne Brown-Fleming, Leiterin “Visiting Scholar Programs”, United States Holocaust Memorial Museum

Die globale Natur des Holocaust

Die Größe und der Umfang der Sammlung der Arolsen Archives übersteigen jede Vorstellungskraft.

Alfred Weidinger, Direktor des Museums der bildenden Künste Leipzig

„Was einmal passiert ist im Netz, ist passiert“

Alfred Weidinger ist Kunsthistoriker und Direktor des Museums der bildenden Künste in Leipzig, einem der größten Ausstellungshäuser Deutschlands. Als er erfuhr, dass die Arolsen Archives gemeinsam mit der KZ-Gedenkstätte Dachau einen Fotobestand von KZ-Überlebenden für den Kultur-Hackathon „Coding da Vinci“ bereitstellt, meldete er sich über Twitter und kritisierte die Nutzung dieser Daten. Wir sprachen mit Herrn Weidinger über seine Sicht auf die Veröffentlichung von Kulturdaten aus der NS-Zeit.

Die wichtigsten Fragen zum Online-Archiv

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