Aufklären und Informieren in Mittelosteuropa
Unsere Stabsstelle „Outreach Eastern Europe“ bringt die Arolsen Archives und ihre Angebote in die Länder Mittel- und Osteuropas, denn diese Gebiete waren von der NS-Verfolgung besonders betroffen. Hier unterstützen wir die Familien der Opfer bei der Schicksalsklärung. Gemeinsam mit unseren Partnern entwickeln wir vor Ort neue Bildungs- und Informationsangebote.
Wir sind für die Menschen in Ländern wie Polen, Ukraine, Belarus und in der Russischen Föderation aktiv und erreichbar. Das ist wichtig, weil die Nationalsozialisten in diesen Gebieten auf besonders brutale Weise Menschen verfolgt, inhaftiert und in hoher Zahl ermordet haben. Unser Archivmaterial kann helfen, individuelle Schicksale zu erschließen.
Die Arolsen Archives sind offen für Recherche, Lernen und Forschung. Nachfahren von NS-Verfolgten unterstützen wir bei der Klärung von Schicksale. Wir wenden uns aber auch an die allgemeine Öffentlichkeit in Mittel- und Osteuropa. So aktivieren wir beispielsweise im Rahmen der Kampagne #StolenMemory Freiwillige, die vor Ort bei der Suche nach Angehörigen helfen, um Erinnerungsgegenstände zurückzugeben.
Schüler*innen beziehen wir im Rahmen von #StolenMemory in die Rückgabe von Erinnerungsstücken ein. Für Lehrer*innen erarbeiten wir pädagogische Materialien, die für den Einsatz im Unterricht und in der Projektarbeit geeignet sind. Dabei sind wir offen für Kooperationen und legen Wert auf Austausch und gegenseitiges Lernen. Wir suchen außerdem aktiv nach lokalen und regionalen Archiven, um gemeinsam Projekte zur Digitalisierung und Indizierung von Dokumenten zu entwickeln.
Schicksalsklärung: Wichtig für die Nachfahren der Opfer
In Polen und Russland gibt es viele Familien, die noch nicht wissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist. Die Arolsen Archives helfen den Nachfahren von NS-Opfern bei der Klärung dieser Schicksale. Wie im Fall von Julian Banaś, der von den deutschen Besatzern aus Polen zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurde und nie zurückkam. Seine Geschichte lag im Dunkeln, bis seine Enkelin Źaneta Kargól-Ożyńska uns kontaktierte. In ihrer Muttersprache erhielt sie daraufhin zahlreiche Dokumente, die Auskunft über das Schicksal von Julian Banaś geben.
»Wir waren überwältigt davon, wie schnell wir Informationen von den Arolsen Archives bekommen haben und wie viel Mühe sich alle gegeben haben, unsere Fragen zu beantworten.«
Źaneta Kargól-Ożyńska (2.v.r.), Enkelin des polnischen Zwangsarbeiters Julian Banaś
Dank der Dokumente in unserem Archiv und weiterer Recherchen fand Źaneta Kargól-Ożyńska heraus, was ihrem Großvater in Deutschland widerfahren war. Sie erfuhr, dass er von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde und dass eine Gedenkinitiative in Schwerte bereits einen „Stolperstein“ zum Andenken an ihn verlegt hatte. Auf einer Reise nach Deutschland besuchte die Enkelin schließlich mit ihrer Familie das Grab ihres Großvaters und entzündete eine Kerze für ihn.
Familie Dobrowolska: Besitz zurückgegeben
Die Polin Janina Dobrowolska geriet 1944 zusammen mit ihren Töchtern
Halina und Barbara in die Hände der deutschen Besatzer. Sie wurden in
Folge des Warschauer Aufstands so wie die gesamte Zivilbevölkerung systematisch aus der Stadt deportiert. Die Nationalsozialisten verschleppten die drei Frauen in das Konzentrationslager Ravensbrück.
Dieses Foto (aus Familienbesitz) zeigt von links Halina, Janina und Barbara Dobrowolska wenige Jahre vor ihrer Deportation. Wir konnten im Jahr 2019 die Schmuckstücke und Armbanduhren der drei Frauen an die Tochter von Halina Dobrowolksa zurückgeben – zum Beispiel diese Halskette mit Maria-Anhänger, die Barbara Dobrowolska gehörte:
Halinas Tochter erfuhr durch ihre Anfrage bei den Arolsen Archives auch, dass ihre Tante Barbara kurz vor der Befreiung durch die Alliierten bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war. Nach der Auswertung von Dokumenten zu unbekannten ausländischen Todesfällen und unbekannten Todesfällen aus Konzentrationslagern konnten wir ihr Grab in Celle lokalisieren. Die Akten zeigten zudem, dass Janina Dobrowolska die Lagerhaft überlebte und zeitlebens nach ihrer Tochter Barbara suchte.
Partnerschaften für die Zukunft der Erinnerung
Wir arbeiten in Zentral- und Osteuropa mit wichtigen lokalen Akteuren an einer grenzübergreifenden Erinnerungs- und Bildungsarbeit. Dazu gehören das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau, die Internationale Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim/Auschwitz oder das Museum Stutthof. In Kooperation mit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste realisieren wir seit dem Jahr 2016 ein Freiwilligenprogramm mit dem Schwerpunkt Osteuropa.
Mit unserer umfassenden Dokumentensammlung über das Schicksal NS-Verfolgten aus Mittel- und Osteuropa lassen sich Millionen Verfolgungsgeschichten rekonstruieren. Als zentrale Stelle verknüpfen wir Dokumentenbestände aus mehreren Ländern und helfen lokalen Archiven bei der Digitalisierung und Indizierung. So erhalten wir etwa seit über 20 Jahren wichtige Bestände aus der Ukraine, aus Belarus und der Russischen Föderation in Kopie.
Wir kooperieren mit vielen Institutionen in Zentral- und Osteuropa, um unsere Sammlung zu erweitern. Dazu gehören das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau, das Jüdische Historische Institut in Warschau und die Menschrechtsorganisation Memorial Moskau. Das Institut für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej) in Warschau besitzt als Copyholder unseren kompletten indizierten Bestand an einzigartigen Dokumenten in Kopie.
Möchten Sie gemeinsam mit uns ein Projekt realisieren? Unsere Mitarbeiterin Anna Meier-Osiński ist Outreachmanagerin für die Region Zentral- und Osteuropa und beantwortet gern all Ihre Fragen rund um Kooperationen und Partnerschaften.
Bildungsarbeit vor Ort
Unsere Dokumentensammlung ermöglicht es Schülern, sich mit der Verfolgungsgeschichte in ihrer Region auseinanderzusetzen. Individuelle Schicksale machen das Thema greifbar. Deshalb erarbeiten wir für Lehrer*innen pädagogische Materialien, die für den Unterricht geeignet sind. Diese basieren auf den Quellen aus unserem Archiv und werden gemeinsam mit Akteur*innen vor Ort entwickelt. Dabei stehen der archivpädagogische Ansatz und die Methode des forschenden Lernens im Mittelpunkt. Mit dem Holocaust Center Moscow haben wir bereits ein Pilotprojekt durchgeführt. Die Materialien erscheinen stets auf Englisch und in der Landessprache der Partnereinrichtung, in diesem Fall auf Russisch.
Die Internationale Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim/Auschwitz (IJBS) ist einer unserer wichtigsten Kooperationspartner im Bereich Bildung in Polen. Gemeinsam bieten wir Workshops und Seminare für Multiplikator*innen aus Polen und Deutschland an, um die deutsch-polnische Bildungsarbeit zu fördern.
In Zusammenarbeit mit der IJBS haben wir die Kampagne #StolenMemory zum Bildungsprojekt in Polen gemacht. Jugendliche arbeiten in Seminaren mit den Biografien und Dokumenten der ehemaligen KZ-Häftlinge, deren persönliche Gegenstände die Arolsen Archives aufbewahren. Sie recherchieren Schicksale aus der Region und suchen Spuren, um die Familien der Verfolgten zu finden. Gemeinsam mit der pädagogischen Mitarbeiterin der IJBS, Elżbieta Pasternak, konnten die Schüler*innen Mateusz, Sabina, Maciej, Karolina, Kinga und Zofia im Sommer 2020 den Trauring von Stefan Baster an seine Familie zurückgegeben:
»Die Begegnung mit der Nichte des ehemaligen KZ-Häftlings Stefan
Schüler aus Oświęcim/Auschwitz
Baster war für uns emotional und unvergesslich.«
"Es gibt noch viele offene Fragen"
Die Stabsstelle Outreach Eastern Europe wird von der Kulturhistorikerin Mittel- und Osteuropas Anna Meier-Osiński geleitet. Sie ist Expertin für Erinnerungsarbeit im deutsch-polnischen und osteuropäischen Kontext und hat eine breite Erfahrung in der Arbeit mit Nachfahren von NS-Verfolgten.
Welche Bedeutung haben die Arolsen Archives für Angehörige in Polen, Russland, der Ukraine und Belarus?
Anfragen von NS-Überlebenden nach Dokumenten über ihre Verfolgung erhalten wir nur noch sehr selten. Das liegt daran, dass sie mittlerweile ein sehr hohes Alter erreicht haben. Die meisten Anfragen kommen heute von Nachkommen von Verfolgten, also ihren Kindern, Enkeln und oft sogar Urenkeln. Gerade in Osteuropa und Russland gibt es noch Millionen Familien, die nicht wissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist. Kinder und Enkelkinder sind jetzt auf der Suche nach Antworten auf Fragen, die sie ihren Eltern oder Großeltern nie stellen konnten. Wir erhalten jährlich über 15.000 Anfragen von nachfolgenden Generationen.
Wie umfangreich sind die denn Dokumentenbestände für Osteuropa und Russland?
Wir haben Informationen über 17,5 Millionen Menschen. Dem stehen Anfragen zu rund drei Millionen Betroffenen gegenüber. Es gibt also noch viele offene Fragen. Das gilt selbst dann, wenn man bedenkt, dass häufig ganze Familien ermordet wurden und deshalb auch keine Angehörigen mehr nach ihnen suchen können.
Wie reagieren die Anfragesteller auf die Dokumente aus den Arolsen Archives?
Sie sind häufig sehr erstaunt über die Fülle an Informationen, die wir zur Verfügung stellen können. Manchmal lassen sich lückenlos ganze Verfolgungswege rekonstruieren. Oft sind es auch nur einzelne Stationen. Aber auch das sind wichtige Informationen, wenn man nur wenig weiß. Die Nachkommen sehen ihre Verwandten dann oft mit ganz anderen Augen. Manchmal finden Familien durch unsere Dokumente die Gewissheit, nach der sie über Jahrzehnte gesucht haben.
Die aktuelle Kampagne #StolenMemory thematisiert die von den Nationalsozialisten beschlagnahmten „Effekten“, also persönliche Gegenstände von Inhaftierten. Welche Bedeutung hat die Kampagne für Mittel- und Osteuropa?
In den Arolsen Archives werden bis heute noch persönliche Gegenstände von rund 900 polnischen Verfolgten sowie über 350 Verfolgten aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion wie Russland, der Ukraine und Belarus verwahrt. Mit #StolenMemory möchte wir auf diesen besonderen Bestand aufmerksam machen und Angehörige in Polen, Russland, der Ukraine und Belarus finden. Wir wenden uns aber auch die interessierte Öffentlichkeit und möchten zum Mitmachen anregen. Jeder kann im Rahmen der Kampagne Spuren der Verfolgten suchen und persönliche Gegenstände an die Familien zurückgeben.
Wie kann man sich eine solche Rückgabe vorstellen?
Wir arbeiten beispielsweise mit der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Oświęcim zusammen. In den Projekten recherchieren polnische Jugendliche Schicksale aus der Region. Bei der Rückgabe von persönlichen Gegenständen an Familien hat das Gespräch mit den Angehörigen eine zentrale Rolle. Denn erst die Erkenntnisse daraus ergeben zusammen mit den Informationen und Erinnerungsstücken aus unserem Archiv sowie den Recherchen der Jugendlichen ein Gesamtbild.
Was bewirken die Rückgaben bei den Familien?
Bei Rückgaben stellen wir fast immer fest, dass die Angehörigen häufig praktisch nichts über die Schicksale wissen. Oft können wir ihnen dann wichtige Informationen, zum Beispiel den Begräbnisort, nennen. Es geht also immer noch um Schicksalsklärung, selbst nach so langer Zeit. Die Kontaktaufnahme mit Familien und die Dokumentation der Erinnerungen leistet aber auch einen wichtigen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis.