Töchter von KZ-Überlebendem finden sich über Arolsen Archives

Seit mehr als fünf Jahren ist die US-Amerikanerin Sula Miller, Tochter des KZ-Überlebenden Mendel Müller, auf der Suche nach den Spuren ihrer Familie im Europa der Kriegs- und Nachkriegsjahre. Dokumente aus dem Archiv in Arolsen geben ihr entscheidende Hinweise: Sie erfährt, dass sie eine in Frankfurt lebende Halbschwester hat – und reist nach Deutschland.

Vater überlebte Auschwitz und Buchenwald

Im Juli 2019 wendet sich Sula Miller erstmals an die Arolsen Archives, um Informationen über ihren 1906 im ehemaligen Österreich-Ungarn geborenen jüdischen Vater Mendel Müller zu erhalten. Er war Ende der 1940er Jahre in die USA ausgewandert und hatte dort Sulas Mutter geheiratet. Sie stammte aus Österreich und war auch in den Jahren nach dem Krieg emigriert.

 

Sulas Eltern in den USA

Sulas Eltern in den USA, wo sie zeitweise ein Hotel betrieben (Foto: Privatbesitz Sula Miller)

 

Aus den Dokumenten erfährt Sula, dass der Vater vor dem Krieg bereits verheiratet gewesen war und einen 1932 in Teplice geborenen Sohn hatte. Ihr Halbbruder Max kam mit ca. 10 Jahren in ein Berliner Waisenhaus und wurde kurze Zeit später nach Auschwitz deportiert.

 

Max Müllers Berliner Schülerkarte

Max Müllers Berliner Schülerkarte

 

Transportliste des „30. Osttransports“, mit dem Max im Februar 1943 nach Auschwitz deportiert wurde.

Transportliste des „30. Osttransports“, mit dem Max im Februar 1943 nach Auschwitz deportiert wurde.

 

1940 war im damaligen Ungarn noch eine Tochter geboren worden, die zusammen mit ihrer Mutter Rosa wahrscheinlich direkt nach der Ankunft in Auschwitz von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Den Namen dieser Halbschwester kennt Sula bis heute nicht. Sula sagt, es sei ihr größter Wunsch, dass dieses Kind, das in so jungen Jahren von den Nazis ermordet wurde, nicht namenlos bleibt. Die Arolsen Archives unterstützen sie auch bei dieser komplizierten Recherche, die uns in gegenwärtiges ukrainisches Kriegsgebiet führt.

Auch über den Verfolgungs- und späteren Lebensweg ihres Vaters erhält sie Informationen: Aus den Dokumenten der Arolsen Archives geht hervor, dass Mendel – der sich in den USA nach seinem ermordeten Sohn Max Miller nannte und in den Dokumenten auch als Mano Müller auftaucht – die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald überlebt hat.

 

Häftlingspersonalkarte aus dem KZ Buchenwald von Mendel/Mano Müller

Häftlingspersonalkarte aus dem KZ Buchenwald von Mendel/Mano Müller

 

Sogenannte „Effektenkarte“ aus dem KZ Buchenwald mit Mendel/Mano Müllers Unterschrift.

Sogenannte „Effektenkarte“ aus dem KZ Buchenwald mit Mendel/Mano Müllers Unterschrift.

 

Er hatte Zwangsarbeit in der SS-Baubrigade III in Westdeutschland geleistet und wäre dabei beinahe ums Leben gekommen. Nach seiner Befreiung durch die Alliierten in Buchenwald war er nach Hessen gekommen und hatte 1947 in Bad Orb wieder geheiratet. Kurze Zeit später registrierte er sich in einem DP-Camp in Butzbach, um in die USA auswandern zu können.

 

Visafoto von Mendel Müller 1947 (Foto: Privatbesitz Sula Miller)

Visafoto von Mendel Müller 1947 (Foto: Privatbesitz Sula Miller)

 

Die Arolsen Archives verwahren zudem einen Suchauftrag seiner Ehefrau Agnes aus dem Jahre 1951. Mendel hatte Agnes und die 1947 geborene gemeinsame Tochter Helen bei seiner Auswanderung nach Amerika zurückgelassen. Sula möchte ihre Halbschwester kennenlernen. Im Frühsommer 2023 ergänzt sie ihre Anfrage und bittet die Arolsen Archives, ihr bei der Suche nach ihrer Halbschwester Helen behilflich zu sein.

 

Brief Agnes Müller
Brief Agnes Müller

Brief von Agnes Müller an den ITS, Februar 1951

Im Februar 1951 erkundigte sich Agnes Müller beim ITS in Bad Arolsen nach dem Verbleib ihres Mannes in den USA. Sie wollte sich scheiden lassen. Ohne diesen Brief und andere Dokumente, die die Arolsen Archives verwahren, hätten die Halbschwestern Sula und Helen wohl nie voneinander erfahren.

 

Das Tracing-Team der Arolsen Archives findet Helen Schaller im Spätsommer 2023 in Frankfurt am Main. Sie ist einverstanden, dass die Arolsen Archives den Kontakt zu ihrer US-Amerikanischen Halbschwester herstellen. Auch Helen Schaller und ihre beiden Kinder Christa und Thomas erhalten Kopien der Dokumente über die NS-Verfolgungsgeschichte ihres Vaters und Großvaters, die die Arolsen Archives verwahren.

 

In der Nachkriegszeit geborene Halbschwestern lernen sich kennen

Helen Schaller und Sula Miller im Jüdischen Museum Frankfurt, Foto: Arolsen Archives

 

Die beiden Halbschwestern beginnen – zunächst über Zoom – sich kennenzulernen. Im Juni 2024 haben sie sich nun zum ersten Mal persönlich in Frankfurt getroffen.

 

Sula und Helen erzählen im Jüdischen Museum

Die Direktorinnen des Jüdischen Museums Mirjam Wenzel und der Arolsen Archives Floriane Azoulay sind beeindruckt von der Geschichte der Halbschwestern und davon, wie tief die NS-Verfolgung das Leben der Nachkriegsgeneration bis heute prägt.

Das Jüdische Museum Frankfurt gibt den beiden am 12. Juni 2024 den Raum, ausführlich ihre Geschichte(n) zu erzählen. Sula berichtet von ihrem Vater, der psychisch krank und schwer traumatisiert war – ständig auf der Flucht und unfähig, Beziehungen aufrecht zu halten. Manchmal wurde er gewalttätig und schrie dabei „Hitler“ und „Eichmann“. Sula glaubt, dass sie eine von vielen ist, die unter einem transgenerationalen Trauma leiden. Der Begriff bezeichnet die unbewusste Weitergabe traumatischer Erfahrungen von Eltern, die gewaltsame Ereignisse wie Krieg oder den Holocaust erlebt haben, an die nächste Generation. Als Sula von ihrer Halbschwester Helen erfährt, ist sie besorgt, dass diese auch solche emotionalen Narben haben könnte. Sula will ihr die Wahrheit über das Leben des Vaters erzählen und sie wissen lassen, dass sie nicht das einzige zurückgelassene Kind ist.

 

Helen Schaller als junge Frau (Foto: Privatbesitz Familie Schaller)

Helen Schaller als junge Frau (Foto: Privatbesitz Familie Schaller)

 

Helen Schaller aber hatte eine glückliche Kindheit. Sie erzählt, dass sie ihren leiblichen Vater kaum gekannt habe. Als sie zwanzig Jahre alt und frisch verheiratet war, tauchte Mendel plötzlich bei ihr auf. Es gab Streit und er verschwand wieder. In ihrer Kindheit hatte sich ihr Stiefvater liebevoll um sie gekümmert. Was die beiden Frauen jedoch verbindet, ist ihre jüdisch-katholische Abstammung. Beide Mütter waren katholisch und beide Töchter erlebten als Kinder, wie ihre jüdische Herkunft in Deutschland und Österreich auf Ablehnung stieß. Sula hatte außerdem Konflikte mit der jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft, der Mendel in den USA angehörte und die sie als Tochter einer nichtjüdischen Mutter ausschloss.

Die Halbschwestern Sula Miller und Helen Schaller sind froh, sich endlich gefunden zu haben und über ihre Geschichte(n) sprechen zu können. Was bleibt, so Sula, sind vererbte Traumata und die Erkenntnis darüber, welchen Schaden Krieg und Gewalterfahrung Menschenleben zufügen: „Mit Hilfe der Archive, insbesondere der Arolsen Archives, bin ich endlich in der Lage, das Trauma zu verstehen, das meine Eltern durchgemacht haben und die Auswirkungen zu erkennen, die es auf mich hatte. Ich habe durch all das Frieden und Vergebung gefunden“. Vor allem aber betont Sula, wie tröstlich es sei, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft trotzdem zueinander finden und eine Familie sein können.

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