Anita Pröpper kam 1944 im Rheinland als Tochter einer ukrainischen Zwangsarbeiterin zur Welt. Die Mutter verlor sie wenige Monate nach ihrer Geburt aus den Augen und kehrte nach Kriegsende ohne sie in die Heimat zurück. Anita wuchs in einer deutschen Pflegefamilie auf. Sie versuchte Zeit ihres Lebens vergeblich, ihre Eltern zu finden. Jetzt suchen Anitas Kinder nach der Großmutter Maria aus Luhansk und haben uns um Unterstützung gebeten. Wegen des Krieges sind Recherchen in der Ostukraine derzeit aber sehr komplex. Wer kann uns helfen?

„Mir war bisher nicht bewusst, welches Ausmaß die Zwangsarbeit im Nationalsozialismus hatte und wie viel Leid die Menschen aus Osteuropa hier ertragen mussten“, sagte Michael Pröpper bei seinem Besuch in Bad Arolsen. Er kam im Juni 2022 zu uns, um über das Schicksal seiner Mutter Anita zu recherchieren. Gemeinsam mit seiner Schwester hatte er sich einige Wochen zuvor auf Spurensuche gemacht.

Monika Kränzle (geb. Pröpper). Foto: Privat
Michael Pröpper im Lesesaal der Arolsen Archives. Foto: Arolsen Archives

Familie Pröpper sucht nach Verwandten

Michael Pröpper und seine Schwester Monika Kränzle erinnerten sich beim Angriff Russlands auf die Ukraine daran, dass ihre Verwandten zuletzt in den jetzt umkämpften östlichen Gebieten des Landes lebten: „Wir fragten uns, wie es ihnen geht und ob wir sie erreichen können. So haben wir uns zum ersten Mal intensiv mit der Familiengeschichte unserer Mutter beschäftigt.“

 

Verschleppt aus Mariupol

Die Geschwister suchen vor allem nach den Verwandten ihrer Großmutter Maria Arbuzowa (geb.Petrowa), die 1942 im Alter von 18 Jahren aus der Nähe von Mariupol in der Ukraine nach Deutschland verschleppt wurde. Sie musste in Wuppertal Zwangsarbeit leisten. Dort lernte sie den jungen Zwangsarbeiter Wladimir Kowalew aus Charkiw (Ukraine) kennen. Die beiden durften heiraten und Maria brachte im Sommer 1944 ihre Tochter Viktoria zur Welt – die Mutter von Michael Pröpper und Monika Kränzle.

Auf einen Blick: Maria Stepanowna Arbuzowa (geb. Petrowa)

  • Geboren: 07.05.1924 in der Ukraine oder Russland
  • Ehepartner: Wladimir Kowalew aus Charkiw, Ukraine († 1945 in Polen); Abram Arbuzow, Ukraine
  • Kinder: Viktoria Kowalewa / Orlowa (Anita Pröpper) in Deutschland; Vitaly Abramovich Arbuzow (evtl. wohnhaft in Feodossija, Ukraine)
  • Staatsangehörigkeit: Ukrainisch
  • Letzter  bekannter Wohnort: Tupik Almazny 30, Luhansk (Ukraine)

Suchanfrage bei den Arolsen Archives

Warum Viktoria als „Anita“ in Deutschland aufwuchs und was mit ihren leiblichen Eltern passierte, liest sich in den Akten der Arolsen Archives „wie ein Krimi“, findet ihr Sohn. Denn beide Frauen – Viktoria/Anita und ihre Mutter Maria – versuchten später, sich über den Internationalen Suchdienst (heute Arolsen Archives) zu finden. Anita stellte 1980 eine Anfrage, in der sie erzählte, was sie über ihre Herkunft wusste:

»Gefunden wurde ich im März 1945 in Düsseldorf-Eller in einem Russenlager. Da ich vollkommen unterernährt war, war mein Geburtsdatum schwer zu erkennen. Den Angaben gemäß hatte ich ein Schild mit dem Namen Viktoria Orlowa umhängen.«

Anita Pröpper (Anfrage an die Arolsen Archives, 1980)

 

Aufnahme in deutsche Pflegefamilie

Anita glaubte, dass sie die Tochter einer russischen Zwangsarbeiterin war. Sie hatte die Information, dass ihre Mutter sie in den Kriegswirren aufgrund eines Arbeitseinsatzes auf der anderen Rheinseite und wegen einer gesprengten Brücke nicht mehr erreichen konnte. So wäre sie in eine deutsche Pflegefamilie gekommen, die es schaffte, „mit hingebungsvoller Pflege aus mir einen gesunden Menschen zu machen.“ Die große Düsseldorfer Familie nahm nach dem Krieg einige elternlose Kinder auf und zog sie groß. Von ihnen erhielt Viktoria ihren zusätzlichen Vornamen „Anita“.

Anita Pröpper (Mitte) als Kind mit ihrer Pflegefamilie. Foto: Privat
Anita Pröpper als junge Frau. Foto: Privat

Anita suchte Eltern

Zu ihren Pflegeeltern hatte Anita immer ein gutes Verhältnis. Sie halfen ihr auch, als Erwachsene die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. In ihrer Anfrage an die Arolsen Archives beschrieb Anita aber auch, dass sie schon als Jugendliche immer wieder nach ihren wahren Eltern gesucht hätte.

 

Kinderakte bei den Arolsen Archives

In unserem Archiv befindet sich auch eine Kindersuchakte über Viktoria Orlowa, die 1946/1947 angelegt wurde, weil das Kind nach dem Krieg ohne Eltern aufgefunden worden war. Diese Suche blieb aber ohne Ergebnis, weil es zu wenige Anhaltspunkte gab. Deshalb konnten die Arolsen Archives auch Anitas Anfrage von 1980 nicht beantworten. Leider verstarb sie nur drei Jahre später, ohne ihre Eltern zu wiederzufinden.

 

Unsere Tracing-Mitarbeiterin Monika Leithäuser (rechts) zeigt Michael Pröpper die historischen Dokumente aus der Kinderakte seiner Mutter, die direkt nach dem Krieg angelegt wurde.

 

Familienschicksal geklärt

Erst im Jahr 1996 konnte unsere Tracing-Abteilung das Familienschicksal klären, weil Anitas leibliche Mutter Maria sich auf der Suche nach ihrer Tochter an die Arolsen Archives wandte. Sie erklärte auch, warum Viktoria den Nachnamen „Orlowa“ trug und nicht „Kowalew“ hieß wie ihre Eltern: Maria und Wladimir hatten versucht, aus Wuppertal zu flüchten, als Maria mit Viktoria schwanger war. Sie kamen nicht weit und wurden „in einer kleinen Stadt“ verhaftet, an deren Namen sich Maria nicht erinnern konnte. Um ihre Spuren nach Wuppertal zu verwischen, gaben sie sich den Nachnamen „Orlowa“.

 

Maria und Wladimir: Diese Kopie eines alten Fotos schickte Maria an die Arolsen Archives.

 

Rückkehr in die Ukraine ohne Tochter

Maria musste in einer nahen Textilfabrik arbeiten, wo  Viktoria zur Welt kam. Monate später brachte Wladimir beide ins Krankenhaus, denn Maria konnte das Baby aufgrund einer Erkrankung nicht mehr stillen. Maria wurde bald entlassen und musste wieder arbeiten. Viktoria blieb im Krankenhaus, wo Wladimir sie regelmäßig besuchte – bis das Krankenhaus wegen einer Bombardierung evakuiert wurde. Maria und Wladimir fanden Viktoria nie wieder, denn sie hatten für die Suche nur noch wenig Zeit: Wie die meisten der sowjetischen Zwangsarbeiter*innen wurden sie am Ende des Krieges über Polen zurück nach Russland transportiert. Wladimir kam auf dem Weg ums Leben, Maria kehrte in ihre ukrainische Heimat zurück. 

 

Maria musste Viktoria vergessen

Dass Maria ihre Anfrage erst so spät stellte – im Alter von 72 Jahren – irritierte ihren Enkel Michael Pröpper zunächst, als er ihre Briefe in der Akte las. Monika Leithäuser, Tracing-Mitarbeiterin bei den Arolsen Archives, erklärt den Hintergrund: „Die Zwangsarbeiter*innen wurden nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion von den dortigen Behörden als Verräter*innen beobachtet und verfolgt. Wenn sie im Westen Kinder bekommen und zurückgelassen hatten, mussten sie die verschweigen und vergessen. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war eine Suche wieder möglich.“ So beschrieb es Maria auch in einem ihrer Briefe:

»Jetzt, 50 Jahre später, kann ich meine Suche von Neuem beginnen. Nun erst kann ich über meine Tochter öffentlich sprechen und schreiben.«

Maria Arbuzowa (Anfrage an die Arolsen Archives, 1996)

 

Suche in der Ukraine: Wer kennt die Arbuzows?

Aufgrund der Informationen in Marias Anfrage konnten die Arolsen Archives 1998 Anitas Familie ausfindig machen. Anitas Ehemann schickte den Arolsen Archives im Jahr 2000 noch Fotos seiner Frau als Kind, nahm aber keinen direkten Kontakt zu Maria auf. Das wollen sein Sohn und seine Tochter nun nachholen – auch wenn sie wahrscheinlich nur die Nachkommen ihrer Großmutter ausfindig machen können, denn Maria selbst wäre heute 98 Jahre alt. Sie hatte in der Ukraine noch einmal geheiratet, den Namen „Arbuzowa“ angenommen und einen Sohn (evtl. auch weitere Kinder) bekommen. Mit ihm, Vitaly Abramovich Arbuzow, wollte sie eigentlich nach Deutschland reisen, um ihre verlorene Tochter und ihre Familie zu finden.

Gefunden!

Engagierte Helfer aus unserer Social-Media-Community haben die Familie Pröpper dabei unterstützt, ihre ukrainischen Verwandten im September 2022 ausfindig zu machen. Maria selbst ist bereits verstorben, aber ihre vier Enkelkinder, die in Deutschland, der Ukraine, Spanien und der Türkei leben, stehen jetzt in Kontakt. Sie haben Fotos ausgetauscht und schon viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Marias Sohn Vitaly lebt auch noch in der Ukraine und ist überglücklich, dass die Kinder seiner verlorenen Halbschwester sich gemeldet haben. Er hatte mit seiner Mutter jahrelang nach Viktoria (Anita Pröpper) gesucht und sogar seine Tochter nach ihr benannt.

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