Jean-Marie Vinclair wusste nichts über seinen Großonkel Raymond Vinclair, den die Nationalsozialisten im Juli 1944 ermordet hatten. Die Familie hatte all die Jahrzehnte geschwiegen. Erst ein Anruf des Historikers Volker Issmer aus Osnabrück brachte die Geschichte ins Rollen. Jetzt dreht Jean-Marie Vinclair einen Film über das Schicksal seines Großonkels und recherchierte dafür auch im Archiv des International Tracing Service (ITS) in Bad Arolsen.

„Ich hatte Angst, mich dem Schweigen meiner Familie zu stellen. Aber diese Geschichte fand mich, ohne dass ich danach gefragt hätte. Ich muss sie einfach erzählen“, berichtet der Filmemacher. Sein Großonkel Raymond Vinclair war während des Zweiten Weltkrieges Zwangsarbeiter bei der Reichsbahn in Osnabrück gewesen. Der Franzose hatte Kriegsgefangenen bei der Flucht geholfen, wurde entdeckt und verhaftet. Er kam zunächst in Gefängnis Berlin-Plötzensee und wurde dann im Zuchthaus Brandenburg-Görden mit dem Fallbeil hingerichtet. „Acht Sekunden“ dauerte sein Tod laut Vollstreckungsbericht und dies wird auch der Titel des Dokumentarfilms sein.

In mühevoller Kleinarbeit hat Jean-Marie Vinclair versucht, das Leben seines Großonkels zu rekonstruieren. Die Recherchen führten den Filmemacher nach Caen, Osnabrück, Bad Arolsen, Berlin und Brandenburg-Görden. Hier gibt es in dem damaligen Gefängnis noch immer die Guillotine, mit der der Großonkel einst enthauptet wurde. Im Archiv des ITS liegen eine ganze Reihe an Dokumenten vor, die die Inhaftierung und Ermordung von Raymond Vinclair belegen. Neben den Fakten ist es ebenso die Motivation, die in dem Dokumentarfilm eine Rolle spielen soll. „Ich vermute, dass Raymond aus Idealismus handelte“, meint Jean-Marie Vinclair. „Er glaubte an seine politischen Ideen und war engagiert in der Linken. Vielleicht war er aber auch nur ein Humanist, der für seine Vision des Lebens das eigene gab.“

Bevor die Nationalsozialisten den französischen Widerstandskämpfer ermordeten, schrieb dieser einen Abschiedsbrief an seine Eltern. „Der Film wird eine Art poetische Antwort auf seine Zeilen sein, stellvertretend für die vielen Opfer“, so der Filmemacher. „Ich frage mich oft, was hättest du in der damaligen Situation getan. Das ist schwer zu sagen. Die Wirklichkeit ist wesentlich komplexer als Gut und Böse.“ Der Film sei daher auch eine Form der Anerkennung und Würdigung des Widerstandes. „Dafür brauchte es Mut und Selbstvertrauen.“

Nach seiner Hinrichtung wurde Raymond Vinclair zunächst in Berlin beerdigt. 1948 erfolgte jedoch die Exhumierung der sterblichen Überreste. Im französischen Rennes erhielt der Widerstandskämpfer seine letzte Ruhestätte, ohne dass die Familie davon erfuhr. Einer seiner Brüder hatte sich nach dem Ende des Krieges beim ITS gemeldet und Auskunft erhalten. Er schwieg gegenüber den anderen Familienmitgliedern, denen die linke politische Einstellung des Ermordeten nicht geheuer war. „Die Recherchen haben mich verändert“, räumt Jean-Marie Vinclair ein. „Es ist wichtig für mich, die Basis meiner Familiengeschichte neu zu legen. Jede Familie hat Fragen an die Geschichte. Das ist das Universelle an dem Film.“

Vor dem Hintergrund des Anwachsens von Nationalismus und Extremismus in Europa hofft der Filmemacher auf ein breites Publikum. „Wir sind eine Generation, die mit der deutsch-französischen Freundschaft groß geworden ist“, sagt Jean-Marie Vinclair. „Ich bin mit einer Deutschen verheiratet und ihre Familie wohnt nur 80 Kilometer entfernt von dem Ort, an dem mein Großonkel damals verhaftet wurde. Ich muss oft daran denken. Der Film wird uns helfen, das Geschehen zu verstehen und das Verständnis der Vergangenheit kann uns voranbringen.“

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