Im März 2021 erfährt Fred Seesing, selbst Sohn eines niederländischen Zwangsarbeiters, in einem ARD-Beitrag zum ersten Mal von der Initiative #everynamecounts der Arolsen Archives: Freiwillige erfassen die Daten von NS-Dokumenten digital, um sie so Menschen weltweit online zur Verfügung zu stellen. Seitdem hat der 67-Jährige über 2.700 Dokumente indiziert und das eine oder andere Rätsel um NS-Opfer gelöst.

„Durch das Archiv in Bad Arolsen und #everynamecounts passieren sehr schöne Dinge“, so beginnt Fred Seesing, 67 und geboren in Rotterdam, im Herbst 2021 seine erste Nachricht an die Arolsen Archives. Er erzählt darin die Geschichte des niederländischen Widerstandskämpfers Dirk Kleiman, der am 15. März 1945 in einem Zuchthaus in Sachsen ermordet wurde. Lange war der Ort seines Grabes unbekannt. Doch Fred Seesing beginnt in den Arolsen Archives zu recherchieren und findet Informationen über dessen letzte Ruhestätte, die er auch an die Enkel des Opfers weiterleitet: „76 Jahre nach Dirk Kleimans Beerdigung wissen sie, wo ihr Großvater begraben liegt. Ohne Ihr Online-Archiv wäre dies nicht möglich gewesen.“

Doch das Rätsel um Dirk Kleiman ist nicht das einzige, das Fred Seesing mit seiner Recherche lösen konnte. Jeden Tag beschäftigt sich der Rentner, der seit 1973 in Deutschland lebt, vier bis sechs Stunden lang mit Dokumenten, Namen und Schicksalen – auch aus seiner eigenen Familie. Die Nazis verschleppten seinen Vater Cor Seesing und dessen Brüder Jan und Nol aus den Niederlanden zur Zwangsarbeit nach Brandenburg an der Havel, den jüngsten Bruder Theo nach Wien. In Brandenburg an der Havel mussten Cor, Jan und Nol unter anderem im Werk der Adam Opel AG arbeiten sowie in der Fahrradfabrik Excelsior, wo sie Teile für Maschinengewehre herstellten.

 

„De weg naar huis“ – Der Weg nach Hause

Ende April 1945 beschlossen sie, zu fliehen. Der Plan: die 70 Kilometer zur Elbe marschieren und von dort in einem von den Amerikanern organisierten Transport nach Hause fahren. Über die Flucht, die sich durch Umwege auf über 200 Kilometer erstreckte, hat der älteste Bruder Jan Tagebuch geführt. Der letzte Eintrag stammt vom 10. Mai 1945, kurz nachdem die Geflohenen von der deutschen Kapitulation erfahren haben: „Wir schrien vor Freude. Und wenn wir nicht so müde gewesen wären, wären wir auch gesprungen.“

 

»Wir schrien vor Freude. Und wenn wir nicht so müde gewesen wären, wären wir auch gesprungen.«

Jan Seesing, Eintrag in seinem Tagebuch kurz nach der deutschen Kapitulation

Von links nach rechts: die Brüder Nol, Cor (Fred Seesings Vater) und Jan Seesing vor einer Baracke auf dem Opel-Gelände in Brandenburg an der Havel

 

Zwar wusste Fred Seesing von der Zwangsarbeiter-Vergangenheit seines Vaters, doch: „Ich habe leider zu wenige Fragen gestellt.“ 2009 starb Cor Seesing. Auf der Beerdigung erhielt der Sohn das Tagebuch des Onkels und las es schon auf dem Rückweg nach Deutschland durch: „Ich wusste, dass ich hier etwas ganz Interessantes in der Hand halte.“ Er begann die geschriebenen Seiten zu transkribieren, rekonstruierte Tagestouren und machte sich mit seiner Familie schließlich sogar auf den Weg nach Brandenburg, um die Fluchtroute abzufahren. Das Ergebnis seiner Recherchen hat er als Buch zusammengestellt und binden lassen, als Chronik für alle Familienmitglieder. Einen Teil davon übersetzte er auch ins Deutsche: Das Tagebuch wurde 2021 mit Fred Seesings Anmerkungen vom Heimatverein Burg und Umgebung e.V. als „Der Weg in die Freiheit dreier holländischer Zwangsarbeiterbrüder“ herausgegeben.

2017 starb der letzte der Seesing-Brüder im Alter von 96 Jahren.

 

Fred Seesing mit der von ihm verfassten Familienchronik „Te werk gesteld in Brandenburg an der Havel 1942 – 1945“ („Zwangsarbeit in Brandenburg an der Havel 1942 – 1945“)

 

Spurensuche in der eigenen Familiengeschichte

In den Arolsen Archives finden sich einige Dokumente zur Familie Seesing, unter anderem zu Fred Seesings Großtante Rozette Seesink-Blom, die den Nachnamen „Seesink“ statt „Seesing“ trug, da einem Standesbeamten beim Aufschreiben des Nachnamens ein Fehler unterlaufen war.

Vom Durchgangslager Westerbork wurde sie im September 1944 nach Auschwitz deportiert. Westerbork war eines von zwei Sammellagern in den Niederlanden. Mehr als 100.000 Jüdinnen und Juden sowie Sinti*zze und Rom*nja wurden von hier in Konzentrations- und Vernichtungslager in den Osten verschleppt. Vermutlich starb Rozette Seesink-Blom im Januar 1945 bei einem Todesmarsch. Aus einer Namenliste über jüdische Opfer des NS-Regimes in Holland von 1941 bis 1945 gehen folgende Informationen über sie hervor: „Plaats en Datum van Overlijden: Midden Europa, 21.01.1945.“ (Ort und Datum des Todes: Mitteleuropa, 21.01.1945)

Im Zusammenhang mit seinen Recherchen zu „Tante Roos“ musste Fred Seesing auch die „schwarze Seite“ der Familiengeschichte entdecken. Denn eigentlich war es nicht üblich, dass sie als jüdische Frau in einer sogenannten „Mischehe“ deportiert wurde. Doch Fred Seesing fand im Nationaal Archief Den Haag heraus, dass Rozette Seesink-Blom von ihrem Ehemann verraten wurde, nachdem sie mit den beiden Kindern samt Möbel das Zuhause verlassen hatte. Ihr Mann drohte ihr, entweder sie gebe den Hausrat zurück oder er zeige sie als jüdische Person an. Nach der Anzeige wurde Roos nach Westerbork deportiert. „Wenn du so etwas liest, dann läuft es dir kalt den Rücken runter“, erklärt Fred Seesing.

 

Rozette Seesink-Bloms Karteikarte aus der Kartothek des Judenrats in Amsterdam

 

Dokumente wie die Karteikarte zu Rozette zu sehen, berührt ihn aus verschiedenen Gründen: „In dem Moment, in dem ich eine Liste in der Hand halte oder eine Karte, vielleicht sogar mit einer Unterschrift: Das macht auf jeden Fall etwas mit mir. Wie muss das wohl für meine Großtante in Westerbork gewesen sein, zu wissen: Jeden Dienstag geht ein Zug nach Auschwitz?“

In Westerbork war Rozette Seesink-Blom in der Baracke 67 untergebracht, einer Strafbaracke. Hier wurde sie eingesperrt, weil sie im Februar 1941 der „Meldepflicht von Personen ganz oder teilweise jüdischen Blutes“ nicht nachgekommen war. Fred Seesing hat das Lager bereits besucht: „Ich stand vor dieser Baracke, in der sie ihre letzten Tage verbracht hat, bevor sie in einen Zug nach Auschwitz verfrachtet wurde. Es war für mich, als ginge ich über die Fußspuren meiner Großtante.“

 

Im Einsatz für die Erinnerung

Fred Seesings Recherchefähigkeiten haben sich mittlerweile herumgesprochen: „Irgendwann hat es angefangen, dass Menschen zu mir gekommen sind und meinten: Hör mal, Fred, kannst du mal kucken…“ Für solche Aufträge reiste er kürzlich auch nach Bad Arolsen. Drei Tage recherchiert er in verschiedenen Datenbanken, stieß dabei auf neue Namen und Details. Und trotz der Routine, mit der er sich mittlerweile zwischen den verschiedenen Dokumenten bewegt, die Schicksale gehen nicht spurlos an ihm vorbei: „Meine Frau hat schon zu mir gesagt: Lass das nicht zu sehr an dich ran. Ich bin schon ein Mensch, der in eine Geschichte richtig eintaucht, in sehe das alles vor meinen Augen passieren.“

 

»Wenn ich den Fernseher einschalte, sehe ich, dass Antisemitismus wiederkommt. Wie ist das möglich? Lernen wir nicht aus der Vergangenheit?«

Fred Seesing

 

Sogar seine Tochter konnte er zwischendurch begeistern, bei #everynamecounts mitzumachen und Dokumente zu indizieren. Und Fred Seesing möchte am liebsten auch an Schulen gehen, um dort darüber zu sprechen, wie Dokumente helfen können, die Schicksale von Verfolgten zu erzählen – vor allem dann, wenn kaum noch Zeitzeug*innen mehr leben. „Ich halte das für sehr wichtig. Wenn ich den Fernseher einschalte, sehe ich, dass Antisemitismus wiederkommt. Wie ist das möglich? Lernen wir nicht aus der Vergangenheit? Indem man die Daten aus den Arolsen Archives online zur Verfügung stellt, setzt man eine kleine Erinnerung an die Opfer.“

 

Fred Seesing bei der Durchsicht von Unterlagen im Archivgebäude der Arolsen Archives

 

Ihn treibt auch der Kontakt zu Angehörigen an, denen er mit seiner Recherche helfen kann. Von den Angehörigen des Widerstandskämpfers Dirk Kleiman zum Beispiel, dessen Grabstätte in Waldheim (Sachsen) Fred Seesing herausfinden konnte, bekam er folgende Nachricht: „Nochmals vielen Dank, vor allem für die Fotos aus Waldheim. Wo unsere Vorstellungskraft zu kurz kommt zu den dunkelsten Tag im Leben von Dirk Kleiman, geben diese einen Eindruck von seiner letzten Ruhestätte.“

„Und dafür tu ich das dann“, merkt Fred Seesing zufrieden an.

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