Impfkritik und Impfskeptiker*innen sind kein neues Phänomen. Während der Corona-Pandemie hat sich jedoch ein Teil der deutschen Gesellschaft radikalisiert und greift dabei auf altbekannte Verschwörungstheorien zurück. Prof. Dr. Malte Thießen, Medizinhistoriker am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, erklärt im Interview, welche Parallelen es zwischen den Impfgegner*innen früher und heute gibt.

Was denken Sie, wenn Sie die aktuellen Ereignisse sehen, wie die Demonstrationen der sogenannten Impfgegner*innen oder die Mordpläne gegen den sächsischen Ministerpräsidenten?

Es ist erschreckend, welche Radikalisierung wir momentan erleben und besonders erschreckend ist es, weil ich einige Dejà-vus habe. Wenn man ins 19. oder 20. Jahrhundert zurückblickt, kann man ganz ähnliche Beobachtungen machen zur Radikalisierung von Impfgegner*innen und auch zu einer rechten Instrumentalisierung der Impfkritik. Und das ist insofern erschreckend, weil ich denke, dass wir im 21. Jahrhundert doch eigentlich weiter sein müssten.

 

Warum lehnen rund 14 Prozent der Bevölkerung eine Impfung gegen Covid-19 ab?

Es gibt ganz unterschiedliche Gründe. Die Impfung ist relativ neu. Das ist ein ganz banaler Grund, aber der wiegt – glaube ich – nach wie vor schwer. Wir haben in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren massive Impfprogramme für ganz viele verschiedene Infektionskrankheiten, die alle freiwillig sind, und wir haben trotzdem Quoten von über 90 Prozent. Die Corona-Impfung ist neu und obwohl die Studien ganz hervorragende Ergebnisse gebracht haben, ist trotzdem erst einmal eine Urangst da und deshalb ist die Zurückhaltung größer als bei bekannten Impfungen.

 

Beim Thema Impfen ist die Stimmung besonders aufgeladen

Beim Impfen geht es aber nie nur um den Piks, sondern das Impfen ist immer eine soziale und eine politische Frage. Und da knallt es dann ganz schnell. Das Impfen ist eine Projektionsfläche für ganz andere Themen, mit denen man dann auch Stimmung machen kann. Das merken wir in rechten und rechtspopulistischen Kreisen. Es geht aber auch um ganz berechtigte Fragen, also zum Beispiel, wem der Körper gehört. Darf der Staat über den Körper bestimmen oder der Einzelne? Das sind ganz grundsätzliche Fragen dazu, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und deshalb ist beim Thema Impfen die Stimmung immer besonders aufgeladen.

 

»Beim Impfen geht es aber nie nur um den Piks, sondern das Impfen ist immer eine soziale und eine politische Frage.«

Prof. Dr. Malte Thießen, Medizinhistoriker

 

Welche Verschwörungstheorien zum Thema Impfen wurden während der NS-Zeit verbreitet und leben heute wieder auf?

Dass wir heute wieder mit antisemitischen Verschwörungstheorien zu tun haben, ist eine ganz besonders erschreckende Beobachtung. Das spielte schon zu Beginn der Corona-Pandemie, als es noch nicht ums Impfen ging, eine Rolle – da kamen dann Verschwörungstheorien auf, dass Corona über das Grundwasser in Berlin verbreitet wird, in Bezug auf das alte Stereotyp des jüdischen Brunnenvergifters. Jetzt beim Impfen ist es ganz ähnlich, auch da spielen alte antisemitische Stereotype wieder eine Rolle. Die Vorstellung zum Beispiel, dass das Impfen eine jüdische Vergiftung des Volkskörpers oder Rassenschande sei, kam bereits in Zusammenhang der Pockenimpfung in den 1870er Jahren auf. Dieses Motiv kann man also bis in die NS-Zeit und sogar bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen.

 

Welchen Status hatten Impfungen während des Nationalsozialismus?

Einerseits war die NSDAP ein Hort von Impfgegnern, wie Rudolf Heß, Julius Streicher und Heinrich Himmler. In der Lebensreformbewegung des 19. Jahrhunderts und in der Naturheilkunde und Homöopathie wurde das das Impfen als „Teufelszeug“ gesehen, das sozusagen als moderne Maßnahme die natürliche Lebensweise des Menschen verhindert. Diese Idee entsteht im 19. Jahrhundert und lebt dann in den 1920er Jahren durch die NSDAP wieder auf. Andererseits wurde das Impfen im Dritten Reich extrem gefördert als Schutz für die Volksgesundheit. Insbesondere die Reichswehr setzte sich gegen jegliche Lockerungen der Impfpflicht ein, um zukünftig weiterhin schlagkräftig zu sein. Weltherrschaft schien dann doch etwas wichtiger als der gesunde Volkskörper.

 

 

In Ihrem Buch schreiben Sie über die „Quellen der Querdenker“ – woraus speist diese Gruppe ihre Standpunkte?

Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass man bei Impfkritiker*innen ganz unterschiedliche Motive im Blick behält und auch da ist die Geschichte hilfreich: Da sind viele rechte Schwurbler*innen, Aluhüte und auch Antisemit*innen dabei, aber es gibt eben auch andere. Beispielsweise erst einmal die relativ weit verbreitete Sorge vor Nebenwirkungen, aber zum Beispiel auch Kritik an Pharmaunternehmen. Also entweder, dass Pharmaunternehmen ganz bewusst die Pandemie schüren, um Kasse zu machen oder dass sie mit Impfungen vergiften oder uns sogar alle chippen wollen. Das sind Vorstellungen, die sich in vielen Fällen aus einer eher linken, kapitalismuskritischen Strömung heraus speisen.

 

In einem Interview sagen Sie: „Die NSDAP verstand sich als Anwalt der Impfgegner […] ganz ähnlich wie heute die AfD“ – wie erklären Sie diese Strategie und warum funktioniert das heute noch?

Schon in den 1920er Jahren machte die NSDAP sich zum Vorkämpfer der Impfkritik, weil sie das Mobilisierungspotenzial erkannte und ausschöpfen wollte. Dabei spielten antisemitische Stereotype eine zentrale Rolle. Die AfD nutzt das Thema Impfen ganz bewusst, auch gerade in Teilen Ostdeutschlands, um zu mobilisieren. Das hängt damit zusammen, dass das Impfen ein Symbol für ganz andere Dinge ist: Es geht um eine sehr viel tiefer sitzende Unzufriedenheit, die schon länger gärt und die jetzt im Impfen ein Ventil findet. Das Impfen steht dann für „die da oben“, die an der Lebenswirklichkeit vorbeiregieren. Die AfD erkannte während der Pandemie sehr schnell das Potenzial, dass man mit Impfungen und mit der Kritik gegen eine Impfpflicht Stimmung machen kann.

 

»Ein besonders großes Problem ist, dass sehr bewusst mit dem Opferstatus und der Gleichsetzung Holocaust und Impfen gespielt wird.«

 

Wir beobachten bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen eine Vermischung verschiedener historischer Bezugspunkte, wie die Orientierung an rechtem Gedankengut aber auch die Gleichsetzung mit Verfolgten und Holocaust-Opfern. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Dass zum Beispiel der Judenstern auf Demonstrationen auftaucht, ist ein extrem heikles Thema. Man könnte ganz zynisch sagen, dass diese Popularisierung der Geschichtspolitik ein Erfolg unserer Erinnerungskultur ist. Die 80er und 90er Jahre brachten durch viele Initiativen das Dritte Reich sehr viel stärker ins Bewusstsein als zuvor und mittlerweile ist das Dritte Reich in unserer politischen Kultur ein fester Fixpunkt. 2020 ging das schon los, dass sich Menschen durch die Corona-Maßnahmen gegängelt fühlten und sich als Sophie Scholl oder Anne Frank stilisierten. Natürlich ist das widerlich, aber es ist auch eine Folge der Erinnerungskultur.

Ein besonders großes Problem ist, dass sehr bewusst mit dem Opferstatus und der Gleichsetzung Holocaust und Impfen gespielt wird. Das ist der Versuch einer Relativierung und ich bin mir sehr sicher, dass das sehr bewusst inszeniert wird.

 

Verschwörungstheorien und Antisemitismus bleiben

Was müsste Ihrer Meinung nach gegen die Verbreitung von Verschwörungstheorien in Verbindung mit der Pandemie getan werden?

Ich glaube, bei einem Teil der Impfkritiker*innen können wir nicht viel machen, weil es nicht nur ums Impfen, sondern um tiefer sitzende Vorbehalte und Probleme geht. Das heißt aber auch, dass wir nicht denken dürfen, wenn Corona eingedämmt ist, dass diese Probleme dann vorbei sind. Verschwörungstheorien und Antisemitismus werden uns länger begleiten. Es ist wichtig, Initiativen vor Ort zu stärken, die in politische Bildung investieren. Wir müssen versuchen, im Gespräch zu bleiben und die, die noch nicht abgedriftet sind, für das Impfen zu gewinnen. Wir müssen sie auch dafür gewinnen, in einem rationalen Diskurs zu bleiben, um den Zuspruch zum radikalen Kern nicht noch zu erhöhen.

 

Vielen Dank, Herr Thießen für das Interview.

 

Das „Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie“ ist im September 2021 im Campus Verlag erschienen.

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