Paul Dostert, Historiker und langjähriger Direktor des Dokumentationszentrums über den Widerstand in Luxemburg (Centre de documentation et de recherche sur la Résistance/CDRR), hat Ende Juli 2016 für zwei Tage den International Tracing Service (ITS) besucht. Seit vergangenem Monat ist Dostert Vorsitzender des Internationalen Ausschusses, der die Richtlinien für die Arbeit des ITS festlegt. Dem Ausschuss gehören elf Mitgliedsstaaten an. Jedes Jahr übernimmt eines der Länder den Vorsitz innerhalb des Gremiums. Jetzt ist Luxemburg an der Reihe. Der ITS sprach mit Dostert über die Pläne des Ausschusses.

Herr Dostert, nur wenige Menschen kennen die Rolle des Internationalen Ausschusses (IA) für den ITS. Wie würden Sie diese beschreiben?

Der Ausschuss ist seit 1955 das Leitungsorgan des ITS. Den Alliierten war nach dem Kriegsende schnell klar geworden, dass sie die Fürsorge für die Überlebenden der NS-Verfolgung und die Millionen Displaced Persons übernehmen müssen. Auch die Suche nach Familienangehörigen erwies sich als eine Notwendigkeit, für die zugleich zahlreiche Dokumente gesammelt und ausgewertet wurden. So entstand das Archiv in Bad Arolsen, das bis heute eine internationale Einrichtung geblieben ist. Sicher ist die Konstellation eines Leitungsgremiums aus elf Mitgliedsstaaten außergewöhnlich, doch wir stellen uns der Verantwortung. Seit der Öffnung des Archivs für die Forschung Ende 2007 ist diese noch gewachsen. Der Ausschuss tagt seitdem zweimal jährlich. Wir pflegen einen guten Austausch und eine produktive Zusammenarbeit mit dem ITS.

Seit der Öffnung des Archivs hat sich viel verändert. Wie beurteilen Sie die Entwicklung?

Der Ausschuss hatte zunächst nur an eine Öffnung des Archivs und die Zugänglichkeit der Dokumente für die Forschung gedacht. Doch daraus ist wesentlich mehr erwachsen. Wir haben gelernt, dass die Erschließung der Archivbestände und die Umstrukturierung von einem Suchdienst zu einem Archiv und Dokumentationszentrum viel Zeit erfordert. Da sind wir alle in der Realität angekommen. Mit der Entscheidung für den Neubau eines Archivgebäudes haben wir deutlich gemacht, dass wir diesen Prozess langfristig mittragen.

Was haben Sie sich für die Zeit des Vorsitzes von Luxemburg vorgenommen?

Wir wollen den ITS bestmöglich unterstützen, indem wir die Zusammenarbeit intensivieren, klare Botschaften vermitteln und konkrete Ziele umsetzen. Im kommenden Jahr trifft sich der IA zum 80. Mal. Aus diesem Anlass werden wir in Luxemburg eine Konferenz abhalten, die sich mit den Potenzialen der Archivbestände für die Forschung aber auch mit Aspekten der Geschichte des ITS befassen wird. Wir möchten noch mehr darauf aufmerksam machen, welcher Schatz an Dokumenten in Bad Arolsen vorhanden ist. Dabei hilft uns die 2013 erfolgte Aufnahme in das UNESCO Weltdokumentenerbe.

Im vergangenen Jahr hat der ITS erstmals Bestände online gestellt. Unterstützen Sie diesen Weg?

Sicher hätten wir diesen Schritt vor einigen Jahren nicht für möglich gehalten, doch er ist richtig. Im Archiv des ITS ist eines der wichtigsten Kapitel der Menschheitsgeschichte dokumentiert. Es ist gleichermaßen bedeutsam für die Forschung und Bildung wie für die eigene Familiengeschichte. Dank des Internets und der Digitalisierung können wir die Menschen heute auf ganz andere Weise erreichen. Durch zusätzliche Online-Ausstellungen werden wir neue Zugänge schaffen. Wir müssen unser Wissen über die Art und die Entstehung der Dokumente noch erheblich vergrößern. Durch eine tiefgehende Erschließung der Bestände soll dies in Zukunft erreicht werden. Das ist auch die Erfahrung der sieben Mitgliedsstaaten des IA, die eine digitale Kopie der Archivbestände des ITS nutzen.

Dies kostet Zeit und das Rad der Weltgeschichte dreht sich weiter. Befürchten Sie nicht, dass das Interesse an der NS-Verfolgung und am Geschehen des Zweiten Weltkrieges nachlassen könnte?

Sicher lässt sich hierzu keine klare Prognose abgeben. Zurzeit weist die Vielzahl der Anfragen darauf hin, dass das Interesse anhaltend stark ist. Und ich bin mir sicher, dass mit Jahrestagen jede Generation wieder neu die Frage stellen wird, was damals geschah im Hinblick auf das politische Geschehen, aber auch die ganz persönliche Geschichte der eigenen Familie. Gerade die Einzelschicksale im Archiv des ITS bieten einen individuellen und wertvollen Zugang zur Geschichte. Denn über die persönliche Betroffenheit erreichen wir die Menschen. Beim ITS stehen die Opfer im Vordergrund. Hier sind die Schicksale aller verfolgten Gruppen und Minderheiten des NS-Regimes dokumentiert.

Der Nationalismus und Gewalt gegen Minderheiten erstarken in Europa. Ist der Transfer der „Lehren aus der Vergangenheit“ auch für die nachfolgenden Generationen möglich?

Ja und nein. Es wird immer wieder Unbelehrbare geben, denen die Vergangenheit egal ist und die auch keinen Bezug zur eigenen Familiengeschichte entwickeln. Aber der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg zeigen uns ganz sicher bis heute die Grenzen auf, die wir als Menschen nicht noch einmal überschreiten sollten. In der globalisierten Welt finden sich nicht alle Menschen zurecht, so mancher fühlt sich ausgeliefert und überfordert. Wir müssen aufpassen, dass diese Verunsicherung nicht missbraucht wird. Die Sehnsucht nach Halt, nach einem Zuhause und einer eigenen Identität ist zutiefst menschlich. Sie darf nicht für die Zwecke eines plumpen Nationalismus eingespannt werden. Ein Archiv wie der ITS kann Versuchen, die eigene Nationalgeschichte neu zu schreiben, deutlich entgegen wirken. Es steht für historische Wahrheiten. Es ist unser Gewissen. Aber es spricht nicht von selbst, sondern muss genutzt werden.

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