Anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar hatte der International Tracing Service (ITS) den Opernsänger, Filmemacher und Bestseller-Autor Selcuk Cara zu Gast. Er erzählt in seinem Kurzfilm „Mein letztes Konzert“ die Geschichte einer jüdischen Pianistin, die auf ihre Kindheit während des Holocaust zurückblickt. Im Interview spricht Selcuk Cara über seinen Film und das Erinnern.

Herr Cara, in Deutschland werden Sie immer wieder gefragt, wieso Sie als türkischstämmiger Deutscher einen Film über den Holocaust machen. Mögen Sie uns verraten, wie Sie auf dieses Thema gekommen sind?

Ich finde es zunächst interessant, dass sich im Ausland niemand über einen türkischstämmigen Filmemacher wundert, der das Thema Holocaust aufgreift. Aber der Auslöser, mich damit zu beschäftigen, hat in der Tat weniger mit meiner Identität zu tun. Es war eher ein Zufall. Ich habe als Neunjähriger einen Fernsehbeitrag mit Bildern von abgemagerten Häftlingen in gestreifter Kleidung und Bergen von Leichen, Kleidungsstücken und Brillen gesehen. Diese Bilder aus einem NS-Vernichtungslager haben mich tief beeindruckt und verstört. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen und habe danach die Welt nicht mehr verstanden. Bis dahin hatte ich Schwarz-Weiß-Filme nur im Zusammenhang mit Charlie Chaplin gekannt. Seitdem hat mich das Thema nie wieder losgelassen.

Sie erzählen in Ihrem Kurzfilm eine fiktive Geschichte, die mit wenigen Worten auskommt, aber von großer Intensität ist. Worum ging es Ihnen?

Es stört mich, wenn Täter ungeschoren davon kommen und andere ohnmächtig zuschauen müssen. Mit dieser Ungerechtigkeit kann ich nur schwer leben. Ich habe bewusst auf ausführliche Erklärungen und jede Gewaltdarstellung in dem Film verzichtet. Ich denke, dass wir so die Ohnmacht der Opfer, das Unwohlsein viel stärker spüren. Im Grunde wird der Film dadurch wesentlich brutaler. Er beantwortet auf eine sehr eindringliche Weise die Frage, warum der Holocaust nicht in Vergessenheit geraten darf.

Der Film thematisiert vor allem die Frage der Schuld…

Ich habe ein kleines Kind in den Mittelpunkt meines Films gerückt. Es ist der Inbegriff der Unschuld. In dem Moment, da es sich zum Versteck der jüdischen Familie umdreht, macht es den Mann von der Gestapo darauf aufmerksam. Das Kind, das jetzt eine alte Frau ist, fühlt sich schuldlos schuldig, weil es durch eine Geste das Versteck verraten hat. Andere Menschen, insbesondere die Täter, konnten jedoch mit dieser Schuld sehr gut leben. Das wollte ich mit dem Film zum Ausdruck bringen. Kein Film über die Schuldigen, sondern über die Unschuldigen, die quasi das "Vakuum der Schuld" der eigentlichen Täter auf sich genommen und ausgefüllt haben. Damit treffe ich die Schuldigen, die als ehrenhafte Politiker und Familienoberhäupter weitergelebt haben härter, als mit einem Film, der diese direkt benennt und vorführt.

Die alte Dame in Ihrem Film sagt, dass die Zeit keine Wunden heile. Gibt es aus Ihrer Sicht so etwas wie eine Versöhnung?

Der Film schließt mit einer Geste der Versöhnung. Eines der getöteten Opfer von damals tröstet die alte Dame, die sagt: „Ich habe das nicht gewollt“. Mir war diese Szene wichtig, auch um das Thema der Schuldfrage abzuschließen. Mir persönlich fällt es allerdings schwer, an eine Versöhnung zu glauben.

Immer wieder wird die Bedeutung des Erinnerns betont, insbesondere am Holocaust-Gedenktag. Warum bleibt es in Ihren Augen wichtig?

Der Antisemitismus und Vorurteile ziehen sich durch die gesamte Gesellschaft. Diese Einstellungen haben nichts mit der Herkunft oder dem Bildungsgrad zu tun. Ich denke viel darüber nach, wie wir als Menschen sind, wie wir funktionieren, was uns antreibt. Ich möchte die Geschehnisse, die mir tagtäglich begegnen, in einen Kontext stellen, einen Sinn aus den Dingen herauslesen. Ich bin in einer Hochburg der Neonazis aufgewachsen und habe bislang in jeder Etappe meines Lebens die nächste Stufe faschistoiden Denkens erlebt. Das ist mein Thema. Deshalb habe ich diesen Film gemacht, und darin sehe ich auch die Bedeutung des Erinnerns.

Und welchen Beitrag können aus Ihrer Sicht Institutionen wie der ITS leisten?

Im Archiv des ITS sind die Schicksale der Opfer dokumentiert. Gäbe es diese Dokumente nicht, hätten viele der Namen aufgehört zu existieren, sie hätten womöglich keine Spuren hinterlassen. Dann hätten die Täter gesiegt und es bliebe einzig und allein die Ohnmacht der Opfer stehen. Doch dank der Dokumente und Zeugnisse wissen wir, was passiert ist. Wir können die Täter benennen, die Schuld erklären und zumindest einen Teil der Ohnmacht wandeln.

Wir erleben gerade ein Erstarken der so genannten Neuen Rechten und einen Rückzug der Demokratien weltweit. Wie nehmen Sie die Entwicklung wahr?

Ich kann keine Prognose abgeben, wie sich Europa und andere Teile der Welt politisch entwickeln werden. Aber ich spüre in meiner Umgebung, wie sich Stimmungen und der Umgang miteinander verändern. Mir macht Mut, dass sich unter den Demokraten jetzt eine Gegenbewegung formiert. Wir brauchen jetzt aufrechte Menschen.

Was sind Ihre nächsten Pläne?

Zunächst steht im März 2017 das Brecht-Festival in Augsburg an. Und ich arbeite bereits an meinem nächsten Film. Es wird um die letzten Jahre von Marlene Dietrich gehen, die sich der NS-Propaganda verweigert hatte. Der Film betrachtet sie aus der Perspektive von Fans, die aus ganz unterschiedlichen Ländern kommen und sich an ihrem letzten Wohnort Paris dann über den Weg laufen.

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