Am Vorabend des Internationalen Tags des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, dem 27. Januar, hielt die Berliner Historikerin Alina Bothe beim International Tracing Service (ITS) vor knapp 70 Gästen einen faktenreichen Vortrag über die sogenannten „Polenaktion“ im Oktober 1938. Innerhalb von 48 Stunden wurden bei dieser ersten großen Massendeportation 16.000 bis 17.000 Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit aus dem Deutschen Reich in die polnische Grenzregion verschleppt.

Alina Bothe erläuterte die Ausgangssituation, weshalb zwischen 1880 und 1914 immer mehr osteuropäische Juden aufgrund von Verfolgung ihre Heimatländer verließen und nach Berlin gingen. Anhand von fünf Familien stellte die Wissenschaftlerin zunächst deren Integration, dann ihr weiteres Schicksal dar: Die Eltern führten Geschäfte im Einzelhandel. Ihre Kinder trugen Namen wie Heinz, Max oder Rita und sprachen deutsch. 1938 charakterisierte Alina Bothe als das Jahr, in dem die Diskriminierung durch den NS in Verfolgung umschlug und physische Gewalt gegen Juden zur Norm wurde. Im Kontext dieser aufkommenden Gewaltexzesse steht auch die sogenannte „Polenaktion“. Rita Adler, deren Vater und Bruder zu den Deportierten zählten, sagte später über diese Tage: „Das war der Anfang von allem“.

Aus Berlin ins Niemandsland

In Berlin konzentrierte sich die Deportation zunächst auf männliche Jugendliche und erwachsene Männer. Sie wurden verhaftet, gesammelt, in Zügen zur polnischen Grenze und mit Gewalt über die Grenze ins Niemandsland gezwungen. Die Deportierten mussten dort oftmals tagelang ausharren und wurden anschließend über längere Zeit in improvisierten Flüchtlingslagern untergebracht. Die Nationalsozialisten deportierten in den folgenden Monaten auch die in Berlin gebliebenen Frauen und Kinder. Nur manchen Familien gelang bis zum deutschen Überfall auf Polen die Emigration, viele starben später in den Mordaktionen und Vernichtungslagern des NS. Quellen belegen, dass die NS-Mörder die Abläufe von 1938 genau evaluierten, erläuterte Alina Bothe. Ihre Erfahrungen aus der „Polenaktion“ nutzen sie ab 1941 für die nachfolgenden Massendeportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager.

ITS-Dokumente geben Einblick in Verfolgungswege

Da es bislang wenig systematische Forschung zu den Ereignissen vom 27. bis zum 29. Oktober 1938 gibt, initiierte Prof. Dr. Gertrud Pickhan gemeinsam mit Alina Bothe ein Forschungs- und Ausstellungsprojekt an der Freien Universität Berlin. „Die Dokumente im Archiv des ITS sind wichtige Quellen für die Erarbeitung von Verfolgungsgeschichten“, so Bothe. „Denn die Auswertung von individuellen Schicksalen ermöglicht Rückschlüsse auf den gesamten Verlauf der Deportationen.“ Die Berliner Historikerin sieht deren Wert im Dialog mit Dokumenten aus anderen Archiven, um sowohl die Verfolgung als auch die Lebenswege der Überlebenden zu rekonstruieren. In einem ersten Schritt geht es um die Erforschung der „Polenaktion“ in Berlin, weitere Städte und auch der ländliche Raum sollen folgen. Im Rahmen des Projekts recherchierte Alina Bothe mit den Studierenden der FU Berlin mehrfach beim ITS, weitere Reisen werden folgen. „Ich komme gerne nach Bad Arolsen und nutze die hervorragenden Forschungsbedingungen“, betonte Alina Bothe.

Veranstaltungsreihe geplant

Floriane Hohenberg, Direktorin des ITS, und Henning Borggräfe, kommissarischer Leiter der Abteilung Forschung und Bildung, wiesen im Anschluss an den Vortrag darauf hin, dass dies der Auftakt zu einer Reihe von Veranstaltungen gewesen sei: „Wir möchten weitere Forscherinnen und Forscher, die unser Archiv nutzen, dazu einladen, ihre Projekte und Ergebnisse öffentlich vorzustellen.

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