Der Wandel der Gedenkkultur steht im Zentrum eines Gesprächs mit Gerd Kühling, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz in Berlin, und Akim Jah, wissenschaftlicher Mitarbeiter des International Tracing Service (ITS). Die beiden sind Herausgeber des in diesem Jahr erschienenen vierten Bandes der ITS-Fundstücke „Die Deportation der Juden aus Deutschland und ihre verdrängte Geschichte nach 1945“.

Womit genau beschäftigt sich der vierte Band der Fundstücke?

Akim Jah: Wir skizzieren die Geschichte der Deportationen aus Deutschland in die Ghettos und Vernichtungslager, zeigen welche Dokumente es hierzu im Archiv des ITS gibt und gehen schließlich auf den Umgang mit dieser Geschichte nach der Befreiung ein. Der gesellschaftspolitische Umgang mit den Deportationen und dem Massenmord an den Juden war zunächst – um es vorsichtig auszudrücken – von großer Zurückhaltung geprägt. Und zwar sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands. Dies lässt sich insbesondere bei der öffentlichen Thematisierung bzw. Nichtthematisierung der Deportationen und des Massenmords an den deutschen Juden zeigen. Aber auch an der öffentlichen Auseinandersetzung im Stadtraum, also an den historischen Orten der Deportationen. Wurden dort Denkmäler oder zumindest Kennzeichnungen initiiert? Und wenn, wie wurden sie realisiert?

Für heutige Generationen ist eigentlich klar, dass Erinnern unmittelbar mit den konkreten Menschen und der Nennung ihrer Namen und Schicksale zu tun hat. Das war nicht immer so. Wann hat sich das entwickelt?

Gerd Kühling: Man muss ungefähr 25 bis 30 Jahre zurückblicken. Damals begannen einzelne Gedenkstätten intensiv mit Zeitzeugen zu arbeiten und luden diese zum Beispiel zu Veranstaltungen ein. Natürlich gab es auch vorher schon Berichte von Überlebenden, aber erst ab dieser Zeit wollte sich eine breitere Öffentlichkeit mit den Opfern und Überlebenden auseinandersetzen.

In den Fundstücken geht es um die Erinnerungskultur in Ost und West, besonders in der Stadt Berlin. Was macht den Unterschied im Vergleich zu anderen Städten?

Gerd Kühling: Berlin ist die Schnittstelle. Dort lässt sich das direkte Nebeneinander des unterschiedlichen Gedenkens besonders gut zeigen. Und es hat in der Zeit ganz unmittelbare Auswirkungen gehabt. Man konnte buchstäblich sehen, was im anderen Teil der Stadt passierte, denn Berlin hatte ja eine Sonderrolle. Seit 1952 waren die Grenzen zwischen der Bundesrepublik und der DDR geschlossen. Doch in Berlin war der Übergang von Ost nach West bis 1961 weiterhin möglich. Deshalb konnte es dort zu einem Austausch der unterschiedlichen Konzepte der sogenannten Vergangenheitsbewältigung kommen.

Akim Jah: Berlin hat zudem eine „Sonderrolle“ als ehemalige Reichshauptstadt mit der größten jüdischen Gemeinde. Es gibt dort im öffentlichen Raum viel mehr historische Orte der NS-Verbrechen als in anderen Städten. Die meisten Deportationen im sogenannten „Altreich“ gingen von Berlin aus.

Gerd Kühling: Außerdem waren auch Überlebende anderer Opfergruppen in Berlin aktiv, die in den frühen Jahren nach 1945 die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus eingefordert und vorangetrieben haben. Ob man sich auf die „Hauptstadt des Widerstands“ festlegen lassen möchte, sei dahingestellt. Aber Widerstandskämpfer haben sich zum Beispiel sehr für das Erinnern eingesetzt.

Sie weisen in dem Band auf einen Dokumentenbestand hin, der für die Erinnerung an die jüdischen Deportierten besonders wichtig wurde. In einer zeitgenössischen Quelle wurde er kurz nach dem Fund 1946 in einem Zeitungsartikel als „papierener Friedhof“ bezeichnet.

Akim Jah: Es handelt sich um Deportationslisten, auf denen die Namen der Deportierten von der Gestapo verzeichnet wurden. Oftmals sind sie der einzige dokumentarische Nachweis einer Deportation beziehungsweise eines Transportes. Die Listen aus Berlin wurden nach der Befreiung vom American Jewish Joint Distribution Committee in der Berliner Finanzverwaltung gefunden. Sie waren von der Gestapo an die sogenannte Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidenten zur „Abwicklung“ des Vermögens geschickt worden. Kopien hiervon befinden sich heute im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam. Im Rahmen meiner Dissertation habe ich 2007 erfahren, dass die Originale im Archiv des ITS liegen.

Wie umfangreich ist dieser Bestand?

Akim Jah: In Bezug auf Berlin sind es Listen von fast 200 Transporten, 117 Transporte nach Theresienstadt und fast sechzig in die Ghettos und Vernichtungslager, von einigen wenigen Transporten fehlen Angaben. Der kleinste Transport umfasste 19 Personen, die größten betrafen über tausend Menschen. Der Bestand umfasst aber auch Transportlisten aus anderen Städten. Das füllt viele Aktenordner und Regale. Die Dokumente waren eine wichtige Quelle für Auskünfte an Angehörige, für Gedenkinitiativen und für zahlreiche Forschungsprojekte. Auch wenn aus der Sicht der Forschung heute viele Fragen bereits beantwortet sind, bieten sie Potenzial, um von den Namen auf den Listen ausgehend weiter zu recherchieren. Gerade bei der Rekonstruktion von Biografien ist das Archiv des ITS hilfreich. Dort finden sich in vielen Fällen weitere Dokumente, über die Verfolgungswege und bei den Überlebenden auch über die Jahre nach 1945.

Wurden die Deportationslisten direkt nach dem Fund für Gedenkprojekte genutzt?

Gerd Kühling: Nein. Das Gedenken im öffentlichen Raum war anfangs sehr allgemein gehalten. Es gab keine Hinweise auf Namen oder auf Orte der Verbrechen. Auch wurde nicht gesagt, was mit den Menschen passiert ist, nämlich, dass sie in Vernichtungslagern ermordet wurden. Über die Jahrzehnte wurde das Gedenken dann immer konkreter. Es tauchten im Stadtbild die ersten großen Schilder und Denkmäler auf, die zum Beispiel Orte auflisten. Im Jahr 1995 erreichte diese Konkretion schließlich einen vorläufigen Höhepunkt, als mit dem „Spiegel gegen das Vergessen“ in Berlin-Steglitz ein großes Denkmal mit den Namen der Deportierten aus diesem Stadtteil eingeweiht wurde. Ich finde es sehr beeindruckend, dort zu stehen und die Masse der Namen zu lesen, von Menschen, denen damit auf gewisse Weise eine Identität zurückgegeben wird. Für das namentliche Gedenken sind natürlich auch die Stolpersteine zu nennen, von denen die ersten in Berlin im Jahr 1996 verlegt wurden.

Stolpersteine werden kontrovers diskutiert. Wie ist Ihre Meinung?

Gerd Kühling: Ich stehe dem Projekt sehr positiv gegenüber. Es führt Menschen an das Thema heran, die keine Historiker sind, und regt zu einer Auseinandersetzung mit der Nachbarschaft an. Wer hat früher in diesem Haus gewohnt? Was ist mit den Menschen passiert? Aus dem Projekt hervorgegangen sind Stolperstein-Spaziergänge, bei denen über die Geschichte des Bezirks gesprochen wird und über das Schicksal der Verfolgten. Auch Stolperstein-Putzaktionen, etwa am 9. November, sind eine gute Sache. Stolpersteine bieten die Möglichkeit, dass sich eine geschichtlich interessierte Öffentlichkeit mit dem Thema auseinandersetzen kann. In Berlin sind von den fast 7.000 Stolpersteinen über 90 Prozent jüdischen Verfolgten gewidmet. Zunehmend werden aber auch andere Verfolgtengruppen berücksichtigt.

Akim Jah: Ich halte dabei die Sicht der Angehörigen für wichtig. Von vielen weiß ich, dass es ihnen wichtig ist, einen Stein im Andenken zu verlegen, oder zu wissen, dass es einen Stein für ermordete Verwandte gibt.

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