Lilia Iwanowa aus der Ukraine fand mit dem ITS ihre Familie in Frankreich

Als Lilia Iwanowa längst nicht mehr damit rechnete, erfuhr sie, wer ihr Vater war. Und nur kurze Zeit später lernte sie ihre Verwandtschaft in Frankreich kennen. Geschichten wie diese zeigen, wie weit NS-Verbrechen in das heutige Leben reichen und wie der International Tracing Service (ITS) nachfolgenden Generationen dabei helfen kann, Antworten auf offene Fragen zur eigenen Identität zu finden.

Als am 25. September 1945 ihr Baby zur Welt kam, glaubten die Ukrainerin Alexandra Istomina und der Franzose Leon Bardoux an ein Happy End nach Zwangsarbeit, Krieg und Not. Sie gaben ihrer Tochter den Namen Lilia – nach der Stadt Lille, in der sie nun lebten und ihre gemeinsame Zukunft sahen. 1942 waren die damals 19-Jährige und ihr drei Jahre jüngerer Bruder Alexei von den Nationalsozialisten aus Stalino im heutigen Donetzk zur Zwangsarbeit ins „Deutsche Reich“ verschleppt worden. Ihre Mutter kam freiwillig mit, um die Jugendlichen nicht alleine zu lassen. 1944 lernte Alexandra in Duisburg Leon Bardoux kennen, der ebenfalls Zwangsarbeit leisten musste. Die beiden verliebten sich. Nach der Befreiung durch die Alliierten gab es nur eine kurze Zeit der Hoffnung: Schon im Winter 1945 wurden Alexandra mit der neugeborenen Lilia und ihrer Mutter von dem sowjetischen Geheimdienst NKWD verhaftet und dann aus einem Filtrationslager im Güterzug Richtung Ukraine zwangsrepatriiert. Lilia verlor damit beide Eltern: Ihre Mutter starb 1947 an den Folgen einer Lungenentzündung, die sie sich auf dem Transport zugezogen hatte. Wer ihr Vater war, erfuhr sie nicht.

Erst mit 65 Jahren öffnete sich ein Vorhang zu ihrer eigenen Geschichte. Lilia war nach dem Tod ihrer Mutter von den Großeltern aufgezogen worden. Sie hatten nie über die Ereignisse in Deutschland und Frankreich gesprochen, obwohl die Großmutter dabei gewesen war. 2010 – kurz vor seinem Tod – brach Alexei, der jüngere Bruder der Mutter, das Schweigen. Lilia hörte zum ersten Mal den Namen ihres Vaters und begann direkt damit, unterstützt von ihrer Tochter Svetlana, die in Norditalien lebt, nach Spuren von Leon Bardoux zu suchen. Beim Standesamt in Lille ließ sich jedoch keine Geburtsurkunde Lilias finden. So fehlten Hinweise auf den Geburtsort und einen möglichen späteren Wohnsitz des Vaters. Der Kontakt zu einem russischen TV-Suchmagazin brachte schließlich zwar keinen direkten Erfolg, doch den Tipp, sich mit dem ITS in Verbindung zu setzen.

In Bad Arolsen begann die Suche nach Hinweisen: nicht nur zu Vater und Mutter, sondern auch zu den damals deportierten Familienmitgliedern. Im Archiv des ITS fanden sich Dokumente, die zeigen, dass Alexei und seine Mutter im gleichen Duisburger Werk Zwangsarbeit leisten mussten wie Leon Bardoux. Im nächsten Schritt brachte eine in zahlreichen französischen Ämtern und Archiven breit angelegte Suche nach vielen Monaten endlich den maßgeblichen Hinweis: Leon Bardoux war 1989 in Amiens gestorben. Der verantwortlichen ITS-Mitarbeiterin gelang es danach, sein Grab ausfindig zu machen und – über die Frage nach den Verantwortlichen für die Grabpflege – den ersten Hinweis auf die Verwandten von Lilia zu bekommen. Den so gefundenen Töchtern einer Schwester von Leon Bardoux war die Liebesgeschichte des Onkels bekannt. Auch wussten sie von der in der Ukraine verschollenen Cousine. Es stellte sich heraus, dass Lilia aus der späteren Ehe von Leon Bardoux sogar eine Halbschwester in Frankreich hat. Zunächst lernten sie sich per Telefon, Skype und E-Mail kennen. Im August 2015 machte sich Lilia Iwanowa dann begleitet von ihrer Tochter und deren Familie auf den Weg nach Frankreich. Die Enkelin beschreibt den Moment des ersten Treffens mit Lilias Halbschwester Dominique so: „Sie lief auf uns zu, und wir sahen Freudentränen in ihren Augen. Sie umarmte meine Großmutter, ihre Schwester väterlicherseits. Dieser Anblick war unbeschreiblich.“ Wichtige Ereignisse folgten: Lilia hörte viel über ihren Vater und konnte sein Grab besuchen. Sie erfuhr, wie ihre Mutter vergeblich für das Zusammenbleiben der jungen Familie in Frankreich gekämpft hatte. Außerdem erhielt Lilia in Lille ihre Geburtsurkunde, die – anders als zunächst gedacht – doch im dortigen Standesamt lag. Ein Schreibfehler bei der Digitalisierung hatte dafür gesorgt, dass die damalige Anfrage ohne Erfolg geblieben war.

Die Geschichte ihrer Herkunft ist für Lilia geklärt, Leerstellen konnten geschlossen werden – die Familie möchte nun die Chance ergreifen und quer durch Europa zusammenwachsen.

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