„Die Schicksale waren sehr unterschiedlich“
Reisende Zirkusleute in der Zeit des Nationalsozialismus stehen im Zentrum eines interdisziplinären europäischen Forschungsprojektes. Projektleiter Malte Gasche vom Centre for Nordic Studies an der Universität Helsinki beschreibt die Hintergründe und Ziele der Forschung, die mit Veranstaltungen die breite Öffentlichkeit erreichen soll. Der International Tracing Service (ITS) ist Netzwerkpartner der Projektgruppe.
Wie kam es zu der Idee, ein Projekt über Zirkusleute während der NS-Zeit ins Leben zu rufen?
Viele Aspekte zu diesem Thema waren bislang Mauerblümchen in der Forschung. Das habe ich als Finnlands Vertreter bei der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und als Mitglied des Committee on the Roma Genocide gesehen. Es hat lange gedauert, bis man sich auch für andere Opfergruppen interessiert hat. Nehmen wir zum Beispiel das fahrende Volk der Jenischen und ihr Schicksal im Nationalsozialismus. Wir wissen auch deshalb so wenig über reisende Zirkusleute, weil sie keine Lobby haben und weil es keine schriftlichen Überlieferungen gibt. Vieles ist nur mündlich tradiert. Die Lücke ist groß.
Was interessiert Sie besonders?
Im Zirkus kamen viele Menschen zusammen. Es gab Sinti und Roma, jenische und auch jüdische Zirkusunternehmer. Früh hat sich das Nazi-Regime gegen diese Leute gestellt, denn die einen konnten den arischen Nachweis nicht erbringen, die anderen galten als asozial. Manche wurden der Spionage verdächtigt, weil sie über nationale Grenzen gingen. Doch der Zirkus barg auch Möglichkeiten, das zeigen einzelne Biografien: Verfolgte konnten sich verstecken und dadurch überlebten. Die Schicksale waren sehr unterschiedlich.
Sie betonen den europäischen Aspekt bei diesem Projekt. Warum?
Das hat verschiedene Gründe: Die Zirkusleute entsprachen weder dem damaligen, noch dem heutigem Lebensideal in Europa. Noch vor der Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen wurde im April 1940 durch ein Dekret des französischen Innenministeriums die Internierung sämtlicher nomadisierender Gruppen angeordnet. Stereotypen, Ablehnung und Verfolgung zogen und ziehen sich durch viele Länder. Das ist ein gesamteuropäisches Phänomen. Dem steht gegenüber, dass der Zirkus seit Jahrhunderten ein europäischer Ort ist. Zirkusfamilien fühlten sich europäisch, heirateten europäisch. Aber dieses transnationale Leben reisender Zirkusfamilien mitsamt ihren Traditionen und Kunstfertigkeiten geht ihrem Ende entgegen, stirbt aus.
2017 hat das Pilotprojekt gestartet. Bei einem der ersten Termine tritt eine Trapezkünstlerin auf. Es geht also nicht nur um Forschung?
Nein, wir wollen nicht, dass es bei Forschung bleibt. Am 21. Mai, dem Internationalen Museumstag, sind wir bei dem Museumsfest des Museums Europäischer Kulturen in Berlin dabei. Dort wird eine Performance der Projektgruppe „Circus im Nationalsozialismus“ in Zusammenarbeit mit unserem Pilotprojekt „Diverging Fates: Travelling Circus People in Europe under National Socialism“ zu sehen sein. Die Vorstellung wird aus dem Leben der jüdischen Artistin Irene Bento erzählen, die mit Teilen ihrer Familie versteckt im Circus Adolf Althoff den Holocaust überlebte. Live-Musik, Text und Artistik verbinden sich dann zu einer eindrucksvollen Vermittlung von Geschichte. Wir sind davon überzeugt, dass sich z.B. Schulklassen in das Thema viel besser einfühlen können, wenn die Geschichte einzelner verfolgter Artisten in Form von Zirkusvorführungen erzählt und damit nachvollziehbar, wenn nicht gar „erfahrbar“ gemacht wird. Auch wollen wir mit solchen Veranstaltungen einen größeren Kreis von Interessenten ansprechen. Ein erster Schritt hierzu war auch unsere Website, die am 15. April, dem Weltzirkustag, online gegangen ist.
Wer ist an dem Projekt beteiligt und von welchen Institutionen werden Sie gefördert?
Unser internationales Team besteht aus fünf Wissenschaftlern, die alle einen unterschiedlichen Forschungsschwerpunkt haben. Unter uns befindet sich auch eine erfahrene Anthropologin, die schon mit Roma gearbeitet hat und für Recherchen Kontakt zu Zirkusleuten aufnehmen wird. Das zunächst auf zwei Jahre angelegte Projekt wird von IHRA, der Fondation pour le Mémorial de la Shoah, der Finnish Academy und der finnischen Kone Foundation gefördert.
Es gibt eine Zusammenarbeit mit dem ITS, und Sie haben bereits im Archiv recherchiert.
Ja, über IHRA hatte ich die ehemalige Direktorin des ITS kennengelernt, die uns durch Empfehlungsschreiben unterstützt hat. Als wir vor einigen Monaten beim ITS waren und Henning Borggräfe auf das Thema Zwangsarbeiter im Zirkus ansprachen, konnte er uns gute Tipps zur weiteren Recherche geben und wertvolle Kontakte vermitteln. Ab einem bestimmten Zeitpunkt mussten Techniker, aber auch Musiker und Artisten ersetzt werden. Das Propaganda-Ministerium unterstützte Zirkusvorführungen als unpolitische Unterhaltung, bei der Stärke und über die Raubtierdressuren auch Zucht und Ordnung zur Schau gestellt werden konnten. Beim ITS gibt es Anfragen von Menschen aus Polen, Russland und der Ukraine, die ihre Angehörigen suchten, von denen sie als letzten Aufenthaltsort nur wussten, dass sie in Zirkussen gearbeitet hatten. Henning Borggräfe hat uns darauf hingewiesen, dass sich noch niemand mit dem Thema Zwangsarbeit im Zirkus beschäftigt habe. Das ist eine neue, sehr interessante Perspektive. Nächstes Jahr würden wir gerne mit unserer Ausstellung nach Bad Arolsen kommen, denn wir möchten einige Ergebnisse zeigen, und was wir mit dem Material aus dem ITS-Archiv gemacht haben.
Website des Projekts: http://www.divergingfates.eu/
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